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Gibt es eine Protestantisierung der Kirche in Deutschland?

Mit dem Neuprotestantismus wurde der Glaube an ein Christentum ohne allgemeingültigen Wahrheitsanspruch populär.
Martin Luther verdammt die Kantsche Vernunft als Hure
Foto: imago stock&people | Luther verdammt die Kantsche Vernunft als Hure und fordert nackten Gehorsam.

Thomas Sternberg, der ehemalige Vorsitzende des ZdK, hat die Frage, ob der „Synodale Weg“ so etwas wie eine Protestantisierung der Katholischen Kirche in Deutschland betreibe, mit der Bemerkung beantwortet, das sei doch nichts Abträgliches. Inzwischen hat sich nicht nur unter Protestanten, sondern auch unter vielen Katholiken die Überzeugung durchgesetzt, der Protestantismus sei die moderne Variante des Christentums. Offensichtlich ist: Der in Deutschland seit Jahrzehnten fortschreitenden „Protestantisierung“ des Katholizismus entspricht keine „Katholisierung“ des Protestantismus.

Den immer pluraler gewordenen Protestantismus eint die Maxime, man dürfe auf keinen Fall katholischer werden. Denn: Wer schon modern ist, gewinnt die Zukunft nicht durch Rückschritt. Allerdings: So selbstverständlich, wie die meisten Zeitgenossen meinen, ist die Gleichsetzung der Attribute ,protestantisch‘ und ,modern‘ nicht. Denn sie erfolgt erst Jahrhunderte nach der Reformation. Deshalb hat Ernst Troeltsch (1865-1923) den Protestantismus von der Reformation bis zur Aufklärung „Altprotestantismus“ und die von Lessing und Kant bestimmte Umgestaltung „Neuprotestantismus“ genannt.

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Altprotestantischer Wahrheitsanspruch

Die „Altprotestanten“ haben ebenso dezidiert wie die Katholiken an der Notwendigkeit festgehalten, im Bekenntnis zu Christus geeint zu sein. Ihnen ging es um das wahre Christusbekenntnis. Die unfehlbare Wahrheit der Heiligen Schrift – so erklärt Martin Luther – legt sich in ihren Lesern und Hörern selbst aus; sie bedarf dazu nicht der Bischöfe und des Papstes. Jeder Gläubige, der sich für das Wirken des Heiligen Geistes bereitet, öffnet sich dem einzig zuverlässigen Interpreten der Wahrheit. Luther hasste die Begriffshuberei der Scholastiker, die Gottes Wort (die Schrift) ihren Begriffen unterwerfen.

Er wollte die bösen Geister ,Aristoteles‘ und ,Thomas‘ dem Christentum ebenso austreiben wie die Unterwerfung der Schrift unter ein kirchliches Lehramt. Aber was die Notwendigkeit einer sichtbar verfassten Bekenntniseinheit betrifft, war er mindestens so unerbittlich wie das römische Lehramt. Luthers Denken war nur vordergründig betrachtet das Ergebnis seiner Paulusexegese. Viel entscheidender war der Nominalismus seiner Lehrer. Die geistesgeschichtliche Wende, zu deren Vollstreckern er gehört, setzt Anfang des 14. Jahrhunderts ein.

Alles Geschaffene gilt als zufällig

Sie beginnt mit der Frage, ob der Schöpfer nicht auch eine ganz andere als die vorhandene Welt hätte erschaffen können. Und wenn ja, ob man dann noch behaupten könne, dass alle Geschöpfe Ansprache des Schöpfers an den Menschen seien. Wenn Gott völlig frei gegenüber seiner Schöpfung gedacht wird, dann könnte – so folgern die Nominalisten – jedes Geschöpf auch ganz anders sein als es faktisch ist; dann ist nicht nur der Schöpfungsakt, sondern auch alles Geschaffene radikal kontingent.

Und dann sind die Begriffe, mit denen der Mensch das Chaos der sinnlich wahrgenommenen Fakten bewältigt, nicht die Gedanken und Ordnungsprinzipien des Schöpfers, sondern zeitbedingte Konventionen und Konstruktionen einer Kultur- oder Sprachgemeinschaft.
Nicht erst Martin Luther (1483-1546), sondern schon Wilhelm von Ockham (1285-1347) hat jede „natürliche Theologie“ für unmöglich erklärt. Das heißt: Nicht die Schöpfung redet von Gott, sondern, wenn überhaupt, dann nur sein an den Menschen gerichtetes Wort.

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Luther war Nominalist

Luthers berühmte „sola“-Formeln sind ein Spiegel nominalistischer Theologie. Nicht das, was dem Menschen vernünftig erscheint, ist wahr, sondern das, was Gott durch die Heilige Schrift mitgeteilt hat (sola scriptura). Nicht weil der Mensch die Gnade Gottes annimmt, ist er „gerechtfertigt“, sondern weil Gottes Gnade ihn gerecht spricht (sola gratia). Nicht durch seinen Verdienst, sondern allein durch den ihm geschenkten Glauben (sola fide) erlangt der Sünder das Heil.
Wo Kant den Primat der Vernunft beschwört, denunziert Luther die Vernunft als „Hure“. Wo Kant von autonomer Selbstbestimmung spricht, verklärt Luther den nackten Gehorsam. Lessing und Kant betonen, dass Dinge und Fakten oder Worte nur Katalysatoren dessen sein können, was die Vernunft implizit immer schon weiß. Dieser Rationalismus ist das exakte Gegenteil von Luthers Theozentrismus.

Die eigentliche Wahrheit, so lehrt der Reformator, wird dem Menschen durch Christus und die Schrift gegeben; und deren Maß ist nicht das Verstehen der Vernunft, sondern der Gehorsam des Glaubens.

Vernunft entscheidet, was etwas ist

Angesichts dieser Bilanz erscheint der Protestantismus nicht gerade als Wegbereiter der Aufklärung. Aber der Schein trügt. Denn mit der Aufklärung verabschiedet sich der Protestantismus von Luthers Schrift- und Offenbarungsverständnis und von dem Festhalten an kirchlicher Bekenntniseinheit. Für die sich „Neologen“ nennenden „Neuprotestanten“ ist nicht mehr wichtig, was die Schrift sagt, sondern dass sie ein neues Bewusstsein vermittelt.
Der Neuprotestantismus will den Altprotestantismus nicht ersetzen. Er will ihn von den Relikten des „alten Kirchenglaubens“ reinigen. Luthers Denken soll nicht verabschiedet, sondern zu sich selbst befreit werden. Denn – so argumentieren die „Neologen“ – der Reformator ist angetreten, um das Christentum von allem Äußeren (Lehramt, Dogma, Ritus und Gesetz) zu befreien.

Seine Aussagen über das wahre Bekenntnis seien deshalb nicht auf Bekenntnisformeln zu beziehen, sondern auf die innere Überzeugung des je Einzelnen. Es ist dieser Primat des ,Innen‘ vor dem ,Außen‘, der die Brücke des Protestantismus zur Aufklärung schlägt. Wie für Kant die Wahrheit keine Eigenschaft des Seins, sondern des Bewusstseins ist, so suchen die Neuprotestanten das wahre Christentum nicht außen, sondern innen: im Bewusstsein des je einzelnen Gläubigen. Kant erklärt, dass die Vernunft allein darüber befindet, was die Daten der sinnlich wahrgenommenen Dinge und Fakten sind oder bedeuten. Das gilt aus seiner Sicht für alles „von außen“ Kommende; auch für das, was Luther „Offenbarung“ beziehungsweise „Heilige Schrift“ nennt. Was etwas ist oder bedeutet, entscheidet ausschließlich die Vernunft. Mit der Rezeption dieser Maxime ist der Altprotestantismus „neuprotestantisch“ beziehungsweise „modern“ geworden.

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Nur die innere Einstellung des Einzelnen sei maßgeblich

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) wurde zum Vordenker des „liberal“ genannten Protestantismus. Christentum, so erklärt er den von der Aufklärung bestimmten Verächtern des Christentums, entscheidet sich nicht an Äußerem (Kirchenbesuch, Sakramentenempfang, Bekenntnis, moralische Norm), sondern an der inneren Einstellung, am Bewusstsein, an der Intention des je Einzelnen.

Nur eine Minderheit – die „Bekennende Kirche“ Karl Barths (1886-1968) und Dietrich Bonhoeffers (1906-1945) - hat dem „Liberalen Protestantismus“ widersprochen. Doch durchsetzen konnte sich dieser Widerstand nicht. Im Gegenteil: Fünf Jahre nach Barths Tod haben Lutheraner und Reformierte in der „Leuenberger Konkordie“ (1973) ihre Abendmahlsgemeinschaft erklärt – nicht weil die Bekenntnisunterschiede beseitigt werden konnten, sondern durch Relativierung von Bekenntnisformeln überhaupt.

Nach allen Seiten offen

Was zuvor Grund für wechselseitige Exkommunikationen war, mutiert zur Gabe wechselseitiger Bereicherung. „Versöhnte Verschiedenheit“ heißt das Zauberwort, mit dem die EKD in einer offiziellen Verlautbarung ihr „modernes“ Einheitsmodell gegen das von Katholizismus und Orthodoxie gestellt hat. Der bekannte Matthäus-Kommentator Ulrich Luz steht für einen Protestantismus, der sich nicht nur „modern“, sondern auch „postmodern“ nennt. In seiner viel diskutierten Abhandlung mit dem Titel „Was heißt ,sola scriptura‘ heute?“ schreibt er: „Das protestantische Schriftprinzip trug mit seiner Loslösung der Schrift von der heteronomen Autorität des kirchlichen Lehramtes den Keim seiner Auflösung bereits in sich. […]  Ich denke demgemäß auch, dass die Zeit, in der man versuchen konnte, auf der Grundlage der Schrift eine Kirche zu bauen, für immer vorbei ist.“

Was bleibt, ist ein Bekenntnis zu radikaler Bekenntnispluralität. Luz wörtlich: „Die nachreformatorische Exegese, die mit dem Auftrag ausgezogen ist, das Fundament, auf dem die Kirche gebaut ist, zu klären, ist zur Wegbereiterin des Pluralismus geworden, jenes Pluralismus, der […] die Kirchen im herkömmlichen Sinn weitgehend auflöst und ihrer Identifizierungskraft beraubt.“  Und dies nicht zum Nachteil des Christentums. Denn – so bekennt Luz: „Kirche ist […] nicht eine Anstalt, die aus Rechtgläubigen besteht, die bestimmte ,common beliefs‘ teilen, sondern eine Gemeinschaft von mündigen Lesern und Leserinnen, die sich von den biblischen Texten beschenken und bereichern lassen und miteinander über ihre Wahrheiten in offenem Gespräch sind.“

Modernismus, der sich von Relativismus nicht unterscheidet

Bekenntniseinheit ist so gesehen weder möglich, noch erwünscht.  Den Anspruch auf Bekenntniseinheit kann, so erklärt eine wachsende Zahl protestantischer Theologen, nur eine Kirche erheben, die sich wie die Katholische als Subjekt der neutestamentlichen Schriften versteht und diese durch Apostelnachfolger verbindlich interpretiert.

Dem antimodernen Katholizismus stellt die Avantgarde des Neuprotestantismus ein Christentum entgegen, das mit Kant und Wittgenstein den Nominalismus zu Ende denkt. Es gibt – so erklären Luz und seine Gefolgsleute – keine Wahrheit an sich, sondern nur die Wahrheit des je Einzelnen. Die vielen Einzelnen können ihre Wahrheiten miteinander vergleichen. Aber verbindlich ist das Ergebnis solcher Verständigung nicht. Im Gegenteil: Mit Berufung auf Wittgenstein beschwören die postmodern gewordenen Neuprotestanten die unendliche Pluralität der vielen Bilder und Sprachspiele.

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Der eigene Horizont bestimmt den Glauben

Die Delegierten des „Synodalen Weges“, die im Januar 2021 ihre Erwartungen und Reformvorschläge in einem Sammelband vereint haben, befürworten mit großer Mehrheit eine „neuprotestantisch“ verstandene „Modernisierung“ der katholischen Kirche in Deutschland. Nicht anders die Verfasser des Arbeitspapiers „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche“ (Forum I). Sie sprechen seitenlang über den Glaubenssinn aller Gläubigen, nicht aber über die Bindung des Glaubenssinns an die Bekenntniseinheit der Kirche. Sie sprechen über die vielen Orte des Verstehens, nicht aber über die Entscheidungskompetenz der durch ihre Weihe bevollmächtigten Apostelnachfolger. Was Kant die kritische Vernunft nennt, ist für die Wortführer des „Synodalen Weges“ der Glaubenssinn des Gottesvolkes.

Die vom apostolischen Lehramt als unfehlbar deklarierten Dogmen sollen nur solange als wahr gelten, wie sie dem Glaubenssinn als plausibel erscheinen. Bekenntniseinheit gilt als Instrument der Macht; Differenz als Ausweis des Respekts vor der Andersheit des Anderen. Man setzt auf die Eigendynamik dialogischer und synodaler Prozesse, auf die Implantierung demokratischer Spielregeln und auf die Relativierung alles Dogmatischen und Institutionellen zugunsten der inneren Überzeugung des je Einzelnen.

Beliebig unverbindliche postmoderne Pluralität

Nicht weniger „neuprotestantisch“ präsentiert sich das Arbeitspapier des Forums IV „zur Weiterentwicklung katholischer Sexuallehre“. Der sexuelle Akt – ob homosexueller oder heterosexueller Paare, ob autoerotisch, ob innerhalb oder außerhalb der Ehe – erscheint in dem Papier wie „Rohmaterial“, das erst durch die Handelnden sittlich qualifiziert wird. Gut nominalistisch: Die Natur gibt keinen Sinn vor. Es ist die Intention des einzelnen Menschen, die darüber entscheidet, ob ein sexueller Akt erlaubt ist oder nicht. Und wo der je Einzelne darüber befindet, was etwas ist oder bedeutet, entsteht postmoderne Pluralität. Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung bis hin zur Definition des eigenen Geschlechtes. Vielfalt soll wie von den Neuprotestanten, so in Zukunft auch von den Katholiken gutgeheißen werden. In diesem Sinne symptomatisch war der am neunten September 2019 veröffentlichte Brief der neun Generalvikare, die eine Kirche fordern, „in der Pluralität und Diversität gewünscht und erlaubt sind“.

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