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„18. Marsch für das Leben“ in Berlin: „Flächendeckende Hilfe statt Abtreibungen“

Beim „18. Marsch für das Leben“ ist Vieles anders als sonst – Selbst die Gegendemonstrationen fallen beinah aus.
„18. Marsch für das Leben“ in Berlin
Foto: Eduard Pröls

Berlin, Samstag, 17. September 2022, 12.30 Uhr. Über die Ebertstraße, vorbei am „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, von den Berlinern kurz „Holocaust-Mahnmal“ genannt, strömen die Menschen auf den Platz des 18. März vor dem Brandenburger Tor. Um 13 Uhr soll hier die Kundgebung zum „Marsch für das Leben“ beginnen, der heuer bereits zum 18. Mal vom Bundesverband Lebensrecht (BVL) ausgerichtet wird. Viele haben einen weiten Weg auf sich genommen, um dabei sein zu können. Mit 70 Personen seien sie aus Rosenheim gekommen, erzählt Sepp Moosreiner. Um drei Uhr in der Früh sei der Bus gestartet. Mehr als 650 Kilometer hat die Gruppe, die in einer Berliner Jugendherberge Quartier bezogen hat, zurückgelegt. Aus Stuttgart ist ein Bus mit 35 Personen angereist. Für sie galt es, rund 630 Kilometer zu bewältigen. Prominentester Teilnehmer: der Weihbischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Thomas Maria Renz.

Große Bandbreite an Teilnehmern

Kaum weniger, nämlich rund 620 Kilometer, brachte eine 20 Teilnehmer zählende Gruppe aus Bonn-Bad Godesberg hinter sich, berichtet Initiator Rüdiger von Stengel. Aus dem 570 Kilometer entfernten Wiesbaden ist eine Gruppe von ebenfalls 20 jungen orthodoxen Christen angereist. Ihr Motiv: In der Bundeshauptstadt Zeugnis für die „Heiligkeit des Lebens“ zu geben. Nicht ganz so viel, nämlich „nur“ rund 490 Kilometer, musste die Reisegruppe um Regensburgs Bischof Rudolf Voderholzer zurücklegen, der jedes Jahr zum „Marsch für das Leben“ kommt.

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Dennoch machen die meist privat organisierten Reisegruppen nur einen Teil der Teilnehmer aus. Das Gros der Lebensrechtler – der Veranstalter wird später von knapp 4.000, die Polizei von 3.500 sprechen – reist individuell, mit der Bahn oder dem Auto, an. Dabei reicht die Bandbreite der Teilnehmer in diesem Jahr von einem emeritierten Professor aus Osnabrück und einem Kinder- und Jugendpsychiater aus Bielefeld über einen Landwirt aus Rheinland-Pfalz, der mit Sohn und Schwiegertochter nach Berlin gekommen ist, oder einer vierköpfigen Familie aus Köln bis zu drei befreundeten Jura-Studenten aus München. Auch viele Berliner sind dabei. Unter ihnen auch so prominente und vielbeschäftigte wie Berlins Erzbischof Heiner Koch und Weihbischof Matthias Heinrich, die diesmal als einfache Teilnehmer hier sind, bar jeder sonstigen Funktion.

Der Renner: die neue Fahne der Lebensrechtsbewegung

Am Ende des halbkreisrunden Areals, links und rechts der „Straße des 17. Juni“, die an den Volksaufstand in der DDR im Jahr 1953 erinnert, haben einige der 16. Mitgliedsorganisationen des BVL ihre Stände aufgebaut. Sie verteilen Infomaterial und Werbebroschüren. Dabei reichte die Palette der Anbieter von der „Stiftung Ja zum Leben“, „Kaleb“ und „Rahel“ über „sundaysforlife“, die „Jugend für das Leben“ (JfdL) und „vitaL“ bis hin zur „Aktion Lebensrecht für Alle“ (ALfA), den „Christdemokraten für das Leben“ (CDL) und den „Ärzte für das Leben“ (ÄfdL). Doch der eigentliche Renner in diesem Jahr: Fahnen der neuen, internationalen Lebensrechtsflagge. Für Musik sorgt die Berliner Band „Gnadensohn“.

Kurz nach 13 Uhr begrüßt die BVL-Vorsitzende Alexandra Linder die Teilnehmer und geht mit der Ampelkoalition, die Ende Juni das Werbeverbot für Abtreibungen (§ 219a) aus dem Strafgesetzbuch strich, gleich hart ins Gericht. Die Regierung wolle, dass Abtreibung „als normal“ betrachtet werde. Das sei das „eigentliche Ziel“, das hinter der Abschaffung des Werbeverbots stehe. Früh hatten Lebensrechtler davor gewarnt, dass die Debatte um den § 219a StGB ein „Ablenkungsmanöver“ sei und es der Abtreibungslobby in Wahrheit um die §§ 218ff gehe. Ihre Begründung: Etwas für das öffentlich geworben werden dürfe, könne unmöglich dauerhaft als Straftat betrachtet werden. Inzwischen fordert selbst die Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, flächendeckende Abtreibungsmöglichkeiten in Deutschland.

Welche Folgen es habe, wenn statt Beratung und Hilfe, Abtreibung flächendeckend angeboten werden, sehe man in Berlin, sagt Linder, ohne die ZdK-Präsidentin zu erwähnen: „Berlin ist die Abtreibungshochburg Deutschlands. Hier gibt es flächendeckend Abtreibungsmöglichkeiten und die Zahlen sind entsprechend hoch.“ Der BVL fordere daher: „Flächendeckende Hilfe, Beratung und Unterstützung für Frauen in Schwangerschaftskonflikten, statt flächendeckende Abtreibungen.“

"Recht auf Leben" ist "wichtigstes Grundrecht"

Nach Linder spricht der mit viel Applaus bedachte CDU-Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe. In seiner Rede erinnert Hüppe daran, dass „das Recht auf Leben“ das „wichtigste Grundrecht“ sei. „Wenn man das nicht hat, ist man nicht mehr.“ Den in den Medien nicht selten als „selbsternannte Lebensschützer“ Gescholtenen spricht der frühere Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen Mut zu. „Für mich ist Lebensschützer kein Schimpfwort, sondern ich bin stolz darauf, Lebensschützer zu sein. Weil das ist das Gute und nicht das Schlechte.“ Wer für das Recht auf Leben eintrete, trete für die Schwächsten ein. „Für die Ungeborenen, für die alten, schwachen Menschen und für Menschen mit Behinderungen.“

Mit Blick auf die bevorstehende gesetzliche Neuregelung des assistierten Suizids durch den Bundestag sagt Hüppe: „Wenn wir ein Gesetz haben, dass dies auch Ärzte erlaubt, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn dies demnächst dann auch als therapeutisches Angebot aufkommt und Menschen unter Druck geraten, Gesellschaft und ihre Verwandten“ zu entlasten. Der CDU-Abgeordnete kritisiert auch die vorgeburtliche Selektion von Menschen mit Behinderungen und die von der Ampelkoalition erwogenen Legalisierung der Leihmutterschaft. „Wir sind solidarisch mit den Menschen mit Behinderungen und wir schützen sie und wir wollen keinen Staat, der viel Geld dafür ausgibt, herauszufinden, welche Menschen behindert sind, um sie dann zu töten.“ Leihmutterschaft bedeute, dass man „Frauen zu Gebärmaschinen machen will“. Es gebe keine schlimmere Ausbeutung als die von Frauen, die für Geld die Kinder anderer austragen sollen.

Dann präsentiert der BVL auf der Leinwand neben der Bühne ein von der ALfA-Bundesvorsitzenden Cornelia Kaminski erstelltes vierminütiges Video, das Auszüge aus Reden von Politikern der Jungsozialisten und der Ampelkoalition zu verschiedenen Lebensrechtsthemen zeigt. Der Zusammenschnitt schlägt ein wie eine Bombe: „Voll krass“, „das gibt es doch gar nicht“, „Hammer“, so und ähnlich kommentieren einige der Umstehende Aussagen von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) oder Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen), die diese im Deutschen Bundestag zu Gehör gaben. Andere schütteln nur den Kopf, wieder andere schauen betroffen zu Boden.

Das steht Deutschland gut zu Gesicht

Nun ist die frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Sylvia Pantel an der Reihe. Zielstrebig packt die Geschäftsführerin der „Stiftung Familienwerte“ das heiße Eisen „Selbstbestimmung der Frau“ an. „Ja, die Frau hat ein Recht auf ihren Körper und Selbstbestimmung“. Aber dieses gelte nicht mehr absolut, „wenn ein anderes Leben in ihr wächst“. Aufgabe des Staates sei es, diesen Frauen zu helfen und sich zu fragen: „Kriegen sie die Kinder groß? Was können wir tun, damit Kinder kein Armutsrisiko sind?“ Gegen Ende ihres Statements bedankt sich Pantel bei dem Marschteilnehmern dafür, dass „Sie für etwas einstehen, was wichtig ist und das einem Land wie Deutschland auch gut zu Gesichte steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar und das Leben des Menschen beginnt im Bauch einer Mutter, egal was die anderen sagen“.

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Als Nächste spricht die Hebamme Sarah Göbel. Sie betreut Frauen nicht nur bei Geburten, sondern in der direkten Nachsorge, manchmal auch nach Abtreibung. Durch ihre Arbeit erhalten sie nicht nur tiefe Einblicke in die Sorgen und Nöte von Familien. Aus ihrer beruflichen Praxis wisse sie auch: Erhielten Frauen die „Zuneigung und liebevolle Unterstützung, die sie brauchen, entscheiden sie sich in 99 Prozent der Fälle für ihr Kind“. Eine Schwangerschaft, ob gewollt oder ungewollt, sei immer „ein Umbruch, physiologisch und emotional“. Würden Frauen dabei „feinfühlig und achtsam“ begleitet, könnten sie daraus gestärkt hervorgehen. Göbel erzählt von einer Frau, die sie bei der Geburt ihres zweiten Kindes begleitet hat. Bei ihrer ersten Schwangerschaft sei die Frau 15 Jahre alt gewesen. Sie habe das Kind bekommen wollen, doch die Mutter habe sie „genötigt, abzutreiben“. Sie habe ihr gesagt, sie könne das nicht, sie schaffe das nicht, sie sei zu jung. In der zweiten Schwangerschaft habe die Frau dann „diese Wunde in sich getragen“ und immer wieder gesagt: „Ich schaffe das nicht“. Mit viel Ermutigung habe sie es „am Ende super gemacht“. Göbel: „Diese Frau war nach der Geburt so transformiert, die hat etwas ausgestrahlt, das sie vorher überhaupt nicht hatte. Vorher war sie einfach unten. Und danach war sie wirklich wie eine Königin“.

Auch die säkulare Presse zeigt vermehrt Präsenz

Als Göbel endet, wischt sich eine Polizistin, die neben dem Pressezelt Position bezogen hat, die Tränen aus dem Gesicht. Die Presse ist auch vertreten. Neben der mit EWTN, K-TV, Idea, KNA und anderen gut vertretenen konfessionellen Presse, zeigt auch die säkulare vermehrt Präsenz. Ein Fernsehteam des ARD-Senders rbb interessiert sich vor allem für Beatrix von Storch. Und die für es. Spät gekommen, früh gegangen hält sich die AfD-Politikerin, gut abgeschirmt, in dem von Marschteilnehmern wenig frequentierten Areal neben der Bühne auf. Als das rbb-Team eine Tanzeinlage der „Jugend für das Leben“ filmt, drängt von Storch nach vorn und stellt sich demonstrativ in die erste Reihe. Erfolg für beide Seiten: In dem keine 30 Sekunden langen Tagesschau-Beitrag am Abend ist die AfD-Politikerin zu sehen.

Die eigentliche Attraktion des Tages steht politisch ganz woanders: Terrisa Bukovinac. Die aus den USA angereiste Lebensrechts-Aktivistin beschreibt sich selbst als linke Atheistin. Das hindert sie nicht, der „Tagespost“ ein ausführliches Interview zu geben. Als die Kundgebung vorbei ist, führt sie gemeinsam mit der „Jugend für das Leben“ den Zug der Marschteilnehmer durch die Straßen Berlins an.

Über die Dorotheenstraße, zwischen Bundestag und Jakob-Kaiser-Haus, biegt der Marsch rechts in Wilhelmstraße ein. Über die Prachtallee Unter den Linden zieht er weiter, vorbei an der Botschaft der Russischen Föderation. Die Teilnehmer tragen Schilder mit Forderungen wie „Kein Tod auf Rezept“, „Beistand statt Beihilfe“ und „Leben begleiten, nicht beenden“ sowie Parolen, wie „Jeder Mensch ist gleich wertvoll“, „Selbstbestimmung ist nie grenzenlos“, „Abtreibung ist Unrecht“ oder auch „Töten ist keine ärztliche Kunst“. Dann biegt der Marsch auf die Friedrichstraße ein. Über die Leipziger Straße und den Potsdammer Platz gelangen die Marschteilnehmer wieder auf die Ebertstraße, die sie am Holocaust-Denkmal vorbei wieder auf den Platz des 18. März vor dem Brandenburger Tor führt. Mit dem sich anschließenden Ökumenischen Gottesdienst beschließen sie den diesjährigen Marsch.

Die im Vorfeld groß angekündigten Gegendemonstrationen fallen praktisch nicht ins Gewicht. Hier und da versammeln sich kleine Gruppen, kaum irgendwo mehr als zwanzig, am Wegesrand und skandieren längst bekannte Parolen. Auch die Polizei zeigt sich tiefenentspannt. Keiner der Beamten trägt den Helm auf dem Kopf, sondern bloß am Koppel. Wo früher ganze Seitenstraßen mit Absperrgittern abgeriegelt wurden, stehen diesmal nirgendwo mehr als eine Handvoll Polizisten. Als auf der Leipziger Straße, zwischen Bundesrat und Leipziger Platz dann tatsächlich einmal einige Gegendemonstranten eine Sitzblockade versuchen, räumt die Polizei die Straße geradezu im Vorbeigang. Es ist, als hätten die Gegendemonstranten längst mehrheitlich verstanden: Als Feindbild taugen Lebensrechtler eher schlecht.

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