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Juan Fernando Sellés: Wie man Gottes Wirken in der Seele entdecken kann

Der spanische Philosoph Juan Fernando Sellés zeigt, wie wir das Gute erkennen und danach handeln können.
Juan Fernando Sellés,  Philosoph
Foto: Privat | Der Philosoph Juan Fernando Sellés pflegt einen unkonventionellen impulsiven Vortragstil, bei dem er zuweilen Pralinen in Vorlesungen verteilt zur besseren Konzentration der Studenten.

Manchen Philosophen wird erst posthum ein Denkmal gesetzt, wie die „Tagespost“ dies kürzlich mit dem Spanier Leonardo Polo getan hat, und bei anderen endet die Bekanntheit dort, wo die Sprachgrenze ihrer Muttersprache verläuft, in der sie publiziert haben. Damit ein weiterer noch lebender realistischer Philosoph mit christlichem Hintergrund aus Spanien im Land der Dichter und Denker Beachtung findet, muss erst einmal ein Übersetzer gefunden werden.

Die Philosophie lebt mehr als jedes andere universitäre Fach von der Geschichte des Denkens. Mit einer „Geschichte der ...“ wird in vielen anderen Fachgebieten so etwas wie die Aufarbeitung der Vergangenheit oder die Ehrung der großen Kapazitäten auf dem jeweiligen Gebiet geleistet. Ein Vortrag zur Geschichte des Fachs ist manchmal auch schmückendes Beiwerk einer akademischen Veranstaltung oder die übergreifende Klammer dicker Lehrbücher. Ein wenig anders verhält es sich mit der Philosophiegeschichte. Sie ist gewissermaßen das Einmaleins des Denkens und von daher gehört sie zum Standard einer philosophischen Hochschulbildung. Warum ist das so? Nicht unbedingt das Philologische, sondern die Inhalte des Denkens stehen in der Philosophie im Vordergrund. Und: Die großen Denker haben sich im Wesentlichen mit den gleichen Fragen und Prinzipien befasst, in denen Welt, Mensch und Gott stets vorkommen. Ein Hochschullehrer für Philosophie wird sich mit dem Denken seiner Vorgänger auskennen müssen, um zu wissen, wie denke ich denn eigentlich und auch was.

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Gott liegt das Innere seines Geschöpfs völlig offen

Den Sonderfall eines Philosophen, der sich nicht nur durch viele Publikationen den Altvorderen verbunden fühlt, sondern der auch seinem verstorbenen Vorgänger auf dem Lehrstuhl mit seinem wissenschaftlichen Werk huldigt, ist der 1961 gebürtige Juan Fernando Sellés, Professor für Philosophie an der Universität von Navarra in Pamplona. Sellés war kürzlich auf einer Deutschlandreise, bei der Gelegenheit bestand, ihn als Interpreten von Leonardo Polo, seinem christlichen Denker-Vorbild, und auch ihn selbst als Referent und Autor kennenzulernen.

Das Interesse an Sellés scheint groß zu sein, Vorlesungen von ihm auf Youtube haben mehr als 25 000 Klicks und befinden sich somit fast schon in der Gewinnzone, die mit Bandenwerbung bestückt werden kann. Außerdem sind in seinen 27 publizierten Büchern die Basics der Philosophie in einer gewissen Systematik zu finden, die sich in so spannenden Buchtiteln wie „Transzendentale Anthropologie“ oder „Anthropologie der Intimität“ wiederfinden. Letzteres ist weniger eine Aufklärungsbroschüre, sondern es geht um die Frage, dass es Intimität eigentlich nur zwischen Gott und seinem Geschöpf geben kann, da ihm das Innere des Geschöpfes offenliegt – ganz anders als die Erkenntnis des Inneren eines Menschen durch einen anderen Menschen, die nur über Worte, Handlungen und stets als Momentaufnahme geschieht.

„Philosophieren reiche gelegentlich an die christliche Meditation heran.
Sie sei auch eine Erfahrung vieler seiner Studierenden,
sofern er davon überhaupt Kenntnis besitze“

Das Wirken Gottes in einer Seele – als philosophisches Thema verstanden – manifestiere sich beim Empfangenden als Vorsatz, Eingebung oder Regung, so Sellés. Und diese könne Gott zu jeder Tages- und Nachtzeit schicken, ohne dass dies an bestimmte Zeiten oder Übungen gebunden sei. Manches komme auch im Traum wie bei Josef, erklärte Sellés auf Nachfrage. Geistliche Seelenführer wie der heilige Josefmaria Escrivá, der die Universität von Navarra, an der er lehrt, begründet hat, raten dazu, bei solchen Gedanken einen Zettel zur Hand zu nehmen, den Gedanken zu notieren und dann gründlich im Gebet aufzuarbeiten. Diese spannenden Erlebnisse aus dem Bereich der Frömmigkeit gebe es auch in der Philosophie, erläuterte Sellés. Philosophieren reiche gelegentlich an die christliche Meditation heran. Sie sei auch eine Erfahrung vieler seiner Studierenden, sofern er davon überhaupt Kenntnis besitze.

So erklärt Sellés in einer seiner Vorlesungen, die in einem Youtube-Video festgehalten ist, um welche Prinzipien es eigentlich bei der Sünde geht. Natürlich räumt er ein, dass es sich beim Wesen der Sünde um ein Thema der Moraltheologie handelt, aber er liefert selten gehörte philosophische Hintergründe. Ausgangspunkt seiner Ausführung ist die Geschichte mit der Schlange aus der Genesis. Die Schlange sei schlau gewesen, ist dort zu lesen. Schläue wiederum sei eine Korruptionsform der Klugheit. Die Schlange habe Einzelwahrheiten „totalitarisiert“ und damit die ganze Wahrheit ausgeblendet, wie die Sophisten das in der Philosophiegeschichte getan haben.

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Großer Respekt vor Johannes Duns Scotus

Die Schlange habe die von Gott gewollte Eigenschaft der immanenten Wahrheitssuche beim Menschen zwar adressiert. Dann aber falsch generalisiert. Hat Gott wirklich gesagt, dass ihr von keinem Baum essen dürft? Nein, auf keinen Fall! Nur der Baum der Erkenntnis, dessen Früchte so lieblich erschienen, lockten mit einer Erkenntnisfähigkeit, die es möglich macht, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Sellés dazu: „Der Mensch ist für diese Art von Erkenntnis nicht geschaffen. Nach seinem Lehrmeister Leonardo Polo ist der Mensch dazu geschaffen, das Gute zu erkennen, hier, jetzt und heute, es zu tun und immer noch mehr Gutes zu tun, ohne letztlich die Möglichkeit zu besitzen, Schlechtes zu etwas Gutem zu machen.“

Hohen Respekt erweist Sellés einem Nonkonformisten unter den Philosophen. Die Rede ist von Johannes Duns Scotus, genannt Doktor subtilis, ein Franziskaner. Er wurde in Roxburg (Schottland) geboren, studierte in Cambridge, Oxford und Paris und war Lehrer an diesen Universitäten. Sellés wollte dessen Grab in der Kölner Minoritenkirche aufsuchen, wobei nicht überliefert ist, ob ihm dies auf dem Weg zum Flughafen noch gelang. Ein Besucher in der Kölner Minoritenkirche findet heutzutage eine Steintafel am Grab vor, dass nicht nur an dessen Seligsprechung, sondern auch an einen anderen zeitgenössischen Philosophen erinnert, der schließlich auf dem Papstthron einen christlichen Humanismus dozierte, an Karol Wojtyla.

Versuche, die großen Denker schlüssig zu vereinen

Nach Sellés war Duns Scotus ein kritischer Denker. Er wollte den Einfluss der Philosophie des Heiligen Augustinus und ihre Gegensätze zu der des Aristoteles in seinen Schriften aufleuchten lassen. Duns Scotus studierte die Philosophie von Porphyrius, Boethius, Avicenna, Averroes, Maimonides, dem heiligen Anselm, dem heiligen Albert dem Großen, Robert von Grosseteste und insbesondere die von Thomas von Aquin. Der Schlüssel zu seinem Denken sei der Versuch, den Aristotelismus so umzuwandeln, dass er das augustinische Denken unterstützte. Philosophie und Theologie verwies er auf eigene Wege. Was Scotus nicht mehr erlebte: Die Anfänge der modernen Philosophie.

Diese sieht Sellés bereits bei einem Zeitgenossen und ebenfalls Franziskaner, bei William von Ockham grundgelegt, „der die Scholastik in die Krise stürzte“. Zwar knüpfte der 22-Jahre jüngere Ockham bei Scotus an. Er bahnte aber Wege für den modernen Rationalismus, den Voluntarismus und die linguistische Philosophie, zum Teil auch vertreten im Postmodernismus oder Dekonstruktivismus, die die Transzendenz ausblendeten. Als Think Tank für Martin Luther und die Reformation könne Ockham kaum überschätzt werden. Was an Luther philosophisch originell wirke, komme im Wesentlichen von Ockham, erläuterte Sellés. Ockham habe als Nominalist ähnlich wie die moderne Philosophie Ansätze dafür geliefert, die Frage nach der Wahrheit auszublenden.

Eine epochale Leistung der modernen Philosophie

Die Vorlesungen zur Philosophiegeschichte von Sellés enden mit großen zeitgenössischen realistischen Philosophen. Diese haben schon die epochale Leistung vollzogen, die moderne Philosophie in Form eines Personalismus und christlichen Humanismus überwunden zu haben, wie dies bei Karol Wojtyla der Fall ist. Genannt wird auch die Verteidigung einer Ethik des Menschen bei Robert Spaemann oder die Logotherapie als Philosophie vom Menschen bei Victor Frankl. Erwähnte Theologen in seiner Philosophiegeschichte, die einen philosophischen Personbegriff zugrunde legen, der auf der Wahrheit gründet, sind für ihn bei Romano Guardini, Jean Mouroux und Josef Ratzinger vorzufinden.

Wer spätestens hier Lust auf eines der äußerst systematischen Lehrbücher von Sellés und seine Interpretation von Leonardo Polo bekommen hat, dem sei jedoch nun ein Dämpfer versetzt. Die genannten Bücher sind bislang alle nur auf Spanisch erschienen und auch die Youtube-Videos sind in spanischer Sprache. Fast allen Büchern ist ein Verlag in Deutschland und ein kompetenter philosophischer Lektor zu wünschen. Den naheliegenden Vergleich mit christlichen Philosophen wie Josef Pieper oder Wolfgang Kluxen kann man im Hinblick auf die Ausrichtung einer realistischen Philosophie mit christlichem Hintergrund zulassen.

Segensreiche Systematik und impulsiver Vortrag

Beide hatten verschiedene Ausrichtungen, Pieper war vor allem ein Meister der (deutschen) Sprache. Der Spanier Leonardo Polo war als kongenialer Vorläufer von Sellés ein juristischer Denker, dessen Neigung zur Systematik allen Philosophiestudenten ein Segen sein wird. Sellés hat dies perfektioniert. Vielleicht erklärt dies den zum Ausgleich unkonventionellen impulsiven Vortragsstil von Professor Sellés mit spontanen Einfällen, englischen Brocken („See you!“) und dem Verteilen von Pralinen während der Vorlesung. Am Ende soll damit womöglich nur das Abschweifen der Gedanken beim Zuhörer verhindert und dem Verflüchtigen der Begriffe beim Nachdenken entgegengewirkt werden.


Juan Fernando Sellés: La filosofia en su historia. editorial Sindéresis, 745 Seiten, Pamplona 2020, EUR 37,45

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