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Seinlassen

Der Katholik und Philosoph Robert Spaemann war sich sicher: Nur wenn Umwelt zur Schöpfung wird, lässt sich ein rein funktionalistisches Naturverständnis überschreiten.
Katholik und Philosoph Robert Spaemann
Foto: Marijan Murat (dpa)

Mitleid war die letzte Regung Nietzsches vor seinem geistigen Zusammenbruch im Januar 1889. Von Davide Fino, seinem Vermieter, besitzen wir die einzige Version darüber, was sich an jenem Morgen zutrug: Nietzsche warf sich einem Droschkenpferd, das von seinem Kutscher erbarmungslos geschlagen wurde, voll Mitleid an den Hals, um es zu schützen, und brach zusammen.

Dabei war Nietzsche ein Verächter des Mitleids. Dieser spontane Schutzreflex hatte in seiner Philosophie keinen Platz. Man kann diese Philosophie als einen gewaltsamen Versuch Nietzsches betrachten, sich selbst zu einem anderen Menschen zu machen: Nicht mehr jener sensible Mensch, der für Mitleid empfänglich ist, wollte er sein, sondern der Übermensch, dessen Lebenssinn allein in Macht und Machtgefühl besteht. Alles, was diesem Lebenssinn im Wege steht, Mitleid, Moral, das Gute überhaupt, wollte er als Trug entlarven und hinwegphilosophieren. Zeitlebens hat Nietzsche gegen sich und die Wirklichkeit angeschrieben. Diesen Kampf hat er verloren.

„Die Anerkennung dieses Selbstseins [aller
Wirklichkeit] verbietet es, die Natur als
bloßes Ausbeutungsobjekt zu betrachten“

Die Philosophie  Robert Spaemanns  ist das exakte Gegenteil davon. Spaemann lebte in Freundschaft mit sich selbst und mit der Wirklichkeit, und diese freundschaftliche Übereinstimmung spiegelt sich in seiner Philosophie. Es ist eine Philosophie, die den Phänomenen in ihrer Vielgestaltigkeit gerecht wird. Sie will sie nicht nach eigenen Interessen zurechtbiegen, sondern sie so lassen, wie sie sind. Dieses Seinlassen wird getragen von einer Grundhaltung der Ehrfurcht gegenüber dem Selbstsein aller Wirklichkeit.

Die Anerkennung dieses Selbstseins verbietet es, die Natur als bloßes Ausbeutungsobjekt zu betrachten. Sowieso ist der Mensch nicht bloß das Gegenüber der Natur, sondern selber ein Teil von ihr. Deshalb wird ihre Zerstörung zu einem Bumerang, der sich gegen den Menschen selber wendet. Aber das ist nicht der tiefste Grund für einen schonenden Umgang mit ihr. Der liegt vielmehr in ihr selbst, so dass der Mensch ihr nur gerecht wird, wenn er lernt, „den Reichtum des Lebendigen als einen Wert an sich zu respektieren“ (Spaemann, „Nach uns die Kernschmelze“).

Dieser Respekt widerspricht der neuzeitlichen Naturauffassung. Spaemann zitiert oft das Wort von Thomas Hobbes, eine Sache kennen heiße „to know what we can do with it, when we have it“. Hier wird die erkannte Wirklichkeit auf ihre Nutzenfunktion für den Menschen reduziert. Daraus ergibt sich jene Rücksichtslosigkeit im Umgang mit der Natur, wie wir sie etwa aus der Massentierhaltung kennen. Ein solch rein funktionalistisches Naturverständnis kann der Mensch nur überschreiten „in einem wie immer begründeten religiösen Verhältnis“.

Die Natur als Schöpfung begreifen

Ein solches Verhältnis ist möglich, wenn Natur als Schöpfung begriffen wird. Als solche ist sie dem Menschen anvertraut – natürlich zu dessen Nutzen, aber doch so, dass er sie zugleich auch „uneigennützig“ hütet. Im biblischen Bericht, in dem der Mensch den Tieren ihren Namen gibt, sieht Spaemann beide Aspekte ausgedrückt: das Benannte wird für den Menschen verfügbar, gleichzeitig ist die Namensgebung ein Bezeichnen und Bestätigen des Benannten in seinem Selbstsein. Dieses Selbstsein manifestiert sich bei einem Lebewesen darin, dass es ihm um etwas geht. Wenn ein Bedürftiger auf die Frage, warum ich ihm etwas zu essen geben soll, auf seinen Hunger hinweist, dann ist diese Antwort ausreichend. Der Hunger ist ein hinreichender Grund für den Handlungsimperativ. Und das gilt auch für den Hunger meines Haustiers. Diese teleologische Verfasstheit haben Mensch und Natur gemeinsam.

Wie von selbst ergibt sich daraus ein normativer Naturbegriff, der ein Naturrecht ermöglicht, das die fruchtlose Dialektik überwindet, an der sich die Philosophie seit über 250 Jahren abarbeitet, die Dialektik zwischen Sein und Sollen, zwischen Natur und Vernunft. Spaemann ist davon überzeugt, dass es weder notwendig ist, die Natur zu spiritualisieren, noch den Menschen zu naturalisieren. Vielmehr ist der Mensch als Lebewesen Teil der Natur, aber so, dass er gleichzeitig für sie Verantwortung trägt. Diese Verantwortung kann er nur wahrnehmen kraft der Tatsache, dass er mehr ist als Natur, nämlich Person. Die Verantwortung beginnt mit dem Seinlassen. Dieses ist ein „Akt der Transzendenz, der das eigentliche Signum der Personalität ist“. Mit Transzendieren meint Spaemann hier ein Überschreiten des animalischen Standpunkts eines Lebewesens, für das Welt bloße Umwelt ist, hin zur Fähigkeit, ein Selbstsein in seiner Bedeutung an sich anzuerkennen, jenseits aller Bedeutung für mich - also genau das, was Nietzsche als Verrat am Leben ansah.

Ganz nebenbei, gewissermaßen als Kollateralnutzen, sorgt der Mensch durch seine Sorge um die Natur auch am besten für sich selbst, während umgekehrt die Reduktion der Natur auf ihren Nutzwert selbstzerstörerisch wirkt. Es ist dies ein Sonderfall des allgemeinen Gesetzes, dass zwar das Gute immer nützlich ist, aber das Nützliche nicht immer gut. Mit anderen Worten: Der Mensch wahrt sein Eigeninteresse am besten dadurch, dass er mit der Schöpfung nicht nur unter dem Aspekt seines Eigeninteresses umgeht.

Wir haben „nicht das Recht, unsere
augenblicklichen Wertschätzungen (...) zum Maßstab
dafür zu machen, was wir künftigen Generationen
als natürliches Erbe hinterlassen“
Robert Spaemann

Für Spaemann war diese Wahrheit ein sicherer Kompass in vielen Umwelt- und Naturschutzdebatten. Er geißelte den Raubbau an der Natur. Er verurteilte die Massentierhaltung. Der Artenschutz war ihm so wichtig, dass er ein amerikanisches Gerichtsurteil verteidigte, das die Inbetriebnahme eines Staudamms untersagte, weil dadurch eine kleine Fischart vernichtet worden wäre. Wir haben, so meint er, „nicht das Recht, unsere augenblicklichen Wertschätzungen, also das, was uns wichtig erscheint, zum Maßstab dafür zu machen, was wir künftigen Generationen als natürliches Erbe hinterlassen“. Das war auch sein Argument gegen die Nutzung der Kernenergie. Die Folgen einer atomaren Verseuchung im Katastrophenfall sind so groß, dass diese Nutzung nur durch sicheren Ausschluss des Risikos, nicht aber durch bloße Minimierung gerechtfertigt werden kann. Die Vorteile stehen dazu in keinem Verhältnis. Hinzu kommt das Problem der Endlagerung des radioaktiven Atommülls. Sie bedeutet eine Jahrtausende lange Hypothek für die nachfolgenden Generationen ohne die Garantie, dass ihnen auch das technische Wissen über den Umgang mit ihm so lange erhalten bleibt. Spaemann bringt das Problem auf den Punkt, wenn er sagt, dass wir die Zukunft unserer Nachfahren nicht verwetten dürfen. Auch bei guten Gewinnchancen ist eine solche Wette unmoralisch.

Das Seinlassen gilt auch natürlichen Zusammenhängen, in die unsere fundamentalen Lebensvollzüge eingebettet sind. Spaemann bringt das Beispiel der Vomitorien, der Brechräume, wo die alten Römer ihr Essen erbrachen, um bei festlichen Gastmählern, die ja ein soziales Ereignis sind, weiteressen und damit den sozialen Vorgang fortsetzen zu können. Aber diese „Abkoppelung der kulturellen von der natürlichen Funktion“ hebt „das Essen nicht auf eine höhere, humanere Ebene, sondern lässt es auf eine niedrigere sinken“. Exakt um den analogen Sachverhalt handelt es sich bei der künstlichen Empfängnisverhütung.

Man kann sich nicht straflos von der Natur emanzipieren

Der Gedanke, einen Menschen durch künstliche Befruchtung ins Leben hineinzuzwingen, war Spaemann ebenso zuwider wie derjenige, ihn bei Bedarf durch aktive Sterbehilfe wieder hinauszuzwingen. Der Mensch kann sich nicht straflos von der Natur emanzipieren. Einen neuen Höhepunkt des Wahns der Machbarkeit erkannte Spaemann in der fortschreitenden Realisierung der Schreckensvisionen von Designerbabies, Chimären, Menschenklonen, Cyborgs und transhumanistischen Phantasien. Nietzsches Übermensch lässt grüßen. Kein Philosoph hat so laut und konsequent vor der Vergewaltigung der menschlichen und nichtmenschlichen Natur gewarnt wie Spaemann. Als Papst Benedikt vor dem deutschen Bundestag von der Würde der Erde sprach, von der Notwendigkeit, „auf die Sprache der Natur“ zu hören, und dann mahnte, auch die „Ökologie des Menschen“ in das Anliegen der ökologischen Bewegung zu integrieren, war er vermutlich von Spaemann inspiriert. Beide kannten und schätzten einander.

Christen haben sich in den letzten Jahrzehnten das ökologische Anliegen schon viel zu sehr von einer politischen Richtung entwenden lassen, die Natur und Mensch allzu oft gegeneinander ausspielt. Spaemann kann uns helfen, es wieder zurückzuerobern. Für ihn bildeten Natur- und Lebensschutz eine Einheit, weil der Mensch ohne die Natur nicht leben kann. Sie ist ihm das vom Schöpfer geschenkte und überantwortete Zuhause, mit dem er auf Gedeih und Verderb verwoben ist.

Kurz gefasst
Die Neuzeit hat die Natur auf ihre Nutzenfunktion für den Menschen reduziert. Nur wenn der Mensch anerkennt, dass Natur von sich aus etwas will, das es zu respektieren gilt, kann er ihre und seine Zerstörung verhindern. Er muss zudem erkennen, dass er der Natur nicht einfach gegenübersteht, sondern selbst Teil von ihr ist. Als Person aber trägt er Verantwortung für sich und die Natur

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