Feuilleton

Adams und Evas Erben

Wie man es auch zu drehen und zu wenden versucht, jeder Mensch steht unter dem Gesetz der Sünde. Dies zu verdrängen, löst nur neue Katastrophen aus. Von Sebastian Moll
Darstellung zu : "Adams und Evas Erben"

„Schluss mit Sünde!“ lautet der Titel eines Buches, das vergangenes Jahr pünktlich zum Reformationsjubiläum erschien und im Untertitel dann auch gleich eine neue Reformation forderte. Allerdings wünscht sich Theologieprofessor Klaas Huizing nicht etwa eine Welt ohne Sünde – wer wollte das nicht? –, sondern ein Christentum ohne den Begriff der Sünde. Wie würde ein solches Christentum wohl aussehen?

Es gibt nur wenige theologische Begriffe, die mit derartigem Erfolg in die Umgangssprache eingegangen sind wie der Begriff „Sünde“. Sogar im Marketingbereich hat sie längst Einzug gehalten. Der eine oder andere wird sich noch erinnern, dass Langnese vor einigen Jahren seine Magnum-Sorten nach den sieben Todsünden benannte. Von Kirchenvertretern hagelte es seinerzeit Proteste. Ein Langnese-Sprecher betonte unterdessen, die Aktion solle nur die Idee der Verführung in lockerer Form kommunizieren und mit der Idee der täglichen kleinen Sünde spielen. Zum Vergleich: Den Begriff „Transsubstantiation“ sucht man in den Etagen führender PR-Agenturen vergeblich. Bevor man sich also unter Christen ernsthaft über die Sünde und ihre Wirkung unterhalten möchte, gilt es, sich von der Banalisierung des Begriffes freizumachen. Denn auch ohne diese popkulturelle Beimischung ist der Begriff diffizil genug, bezeichnet er doch zugleich einen Zustand und eine Handlung. Nähern wir uns dem Problem also etymologisch.

Der griechische Begriff harmatia findet sich, neben seiner prominenten Verwendung in den Briefen des Apostels Paulus, auch in der Poetik des Aristoteles. Dort beschreibt der große Gelehrte, wie ein Held beziehungsweise eine Handlung beschaffen sein muss, um beim Zuschauer die gewünschten Gefühle von Jammer und Schauder hervorzurufen, was dann die Reinigung (katharsis) von diesen Leidenschaften bewirken soll: „Dies ist bei jemandem der Fall, der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers (harmatia).“ Tja, wenn das keine passende Beschreibung der Geschichte vom Sündenfall ist, dann weiß ich auch nicht. So, wie der berühmte Ödipus einen tragischen Fehler begeht, indem er den Spruch des Orakels falsch deutet, so ist auch Adam in die Irre gegangen beziehungsweise geführt worden, als er meinte, Gott habe nicht wirklich verboten, von den Früchten des Baums der Erkenntnis zu essen.

Soviel also zur Beschreibung der Sünde als Handlung, im Sinne eines tragischen Irrtums, des Verfehlens des eigentlichen Ziels. Wie kommen wir von hier aber nun zur Sünde als Bestimmung eines Zustandes? Hier hilft uns unsere eigene Sprache weiter. Der deutsche Begriff Sünde ist (vermutlich) dem Wort Sund entlehnt, mit dem eine Landtrennung oder ein Bruchspalt bezeichnet wird und das wir bis heute in Städtenamen wie etwa Stralsund vorfinden. Die Sünde ist somit das, was uns von Gott trennt, absondert. Den passenden Begriff, der diese beiden Bedeutungen von Sünde miteinander verbindet, hat uns der große Augustinus geschenkt: die Erbsünde. Der Fehltritt Adams führt zum Zustand der Trennung von Gott für die gesamte Menschheit.

Tun sich gewisse Theologieprofessoren heutzutage schon mit dem Begriff „Sünde“ schwer, so ruft die Vorstellung einer „Erbsünde“ bereits seit einigen Jahrhunderten Kopfschütteln hervor. Die Kritik an diesem Konzept beruht im Wesentlichen auf drei Einwänden. Zum einen widerspricht es unserem Gerechtigkeitsempfinden, dass wir alle für den vor langer Zeit begangenen Fehler eines einzelnen Menschen zur Rechenschaft gezogen werden sollen. Zum anderen erscheint die Vorstellung einer historischen Person namens Adam angesichts moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse zunehmend schwierig. Ironischerweise lösen sich beide Einwände gerade dadurch in Luft auf, dass man sie miteinander kombiniert. Das hebräische Wort adam bedeutet einfach nur Mensch, erst in der griechischen Septuaginta wird der Name Adam als Eigenname verwendet. Es ist also hier nicht einfach nur von dem ersten Menschen die Rede, sondern vom Menschen überhaupt. Und somit ist es auch kein Problem, sich mit ihm auch heute noch zu identifizieren. Wie wir einen Menschen im Alter von 60 Jahren als denselben Menschen bezeichnen, der er als Kind war, obwohl er sich in der Zwischenzeit vielfältig verändert hat, so betrachtet Gott die Entwicklung des Menschengeschlechts als die langsame Entwicklung ein und desselben Menschen. Für ihn sind wir alle Adam.

Wer also behauptet, der Gebrauch des Begriffs „Sünde“ sei diskriminierend, hat nichts, aber auch gar nichts verstanden. Sünde ist der am wenigsten diskriminierende Begriff der Welt, weil er alle Menschen ausnahmslos einschließt. Deswegen unterteilt das Christentum die Menschen auch nicht in Kategorien wie „rein“ oder „unrein“ ein. Sowohl im Judentum als auch im Islam gibt es bestimmte Regeln, an die man sich halten muss, um auf der richtigen Seite zu sein. Zugegeben, die Einhaltung der Speisevorschriften, des Sabbats, des Ramadans et cetera ist herausfordernd, aber sie ist kein Ding der Unmöglichkeit. Für uns Christen hingegen gibt es keine Regeln und Gesetze, die wir realistischerweise einhalten können, um Gott zu gefallen. Für uns ist und bleibt wahr, was der Apostel Paulus in seinem Brief an die Römer hervorhebt: „Denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“ Paulus verwendet zwar den Begriff „Erbsünde“ nicht, meint aber genau das: Sünde gehört zum Menschsein dazu, sie ist angeboren und gehört somit gleichsam zum Erbgut des Menschen.

Der dritte Einwand gegen die Lehre der Erbsünde ist hingegen um einiges schwerwiegender. Sie widerspricht dem positiven Menschenbild der Aufklärung, demzufolge der Mensch und mit ihm die menschliche Gesellschaft stetig verbessert werden können. Eben dies ist auch die Ansicht von Professor Huizing. Die Bibel ist für ihn im Wesentlichen eine Anleitung zur Selbstbeherrschung. Menschen machen zwar Fehler, doch sind die Ursachen hierfür therapierbar, man müsse nur wollen. Unter den Denkern der Aufklärung war es Jean-Jacques Rousseau, der diesen Gedanken erstmals auf die Spitze trieb, und somit, wie Victor Hugo es später formulierte,„an allem schuld ist“. Rousseau schreibt über den Menschen: „Die Menschen sind böse; eine traurige und fortdauernde Erfahrung erübrigt den Beweis; jedoch, der Mensch ist von Natur aus gut, ich glaube, es nachgewiesen zu haben.“ Rousseau glaubt an das Idealbild des „edlen Wilden“, des von der Zivilisation unverdorbenen Naturmenschen, der in völligem Einklang mit seiner Umwelt lebt. Aus dieser Überzeugung heraus entwickelt Rousseau die – allerdings nie wörtlich von ihm niedergeschriebene – Losung „Zurück zur Natur!“

Doch ausgerechnet er, der davon überzeugt ist, dass alles Übel zwischen den Menschen allein aus ihrem gesellschaftlichen Zusammenleben entsteht, entwickelt ein eigenes Gesellschaftssystem, um diese Übel zu bekämpfen. Da muss man auch erst mal drauf kommen!

Wie sieht dieses System nun konkret aus? Damit der Mensch seine schlechten Eigenschaften ablegen kann, muss er aufhören, sich als Individuum zu begreifen und sich vollständig in das gesellschaftliche Kollektiv einfügen, der persönlichen Wille muss im allgemeinen Willen (volonté générale) aufgehen. Hierdurch entsteht die absolute und unfehlbare Volkssouveränität. Rousseau erläutert: „Da nun der Souverän nur aus den Einzelnen besteht, aus denen er sich zusammensetzt, hat er kein und kann auch kein dem ihren widersprechendes Interesse haben; folglich braucht sich die souveräne Macht gegenüber den Untertanen nicht zu verbürgen, weil es unmöglich ist, dass die Körperschaft allen ihren Gliedern schaden will.“

Alle totalitären Regime gehen letztlich auf diese Vorstellung zurück. Sie wollen einen neuen, einen besseren Menschen, ja eine bessere Menschheit erschaffen, sei es durch Abschaffung der Klassen, durch Züchtung der Rasse oder was auch immer. Sie vergessen dabei aber einen ganz entscheidenden Umstand. Jede menschliche Gesellschaft besteht am Ende immer noch aus Menschen. Und derselbe Denker, der das Ideal einer kollektivistischen Gesellschaftsform hochhält, kann in einem geistigen Salto zu der These übergehen, dass diese kollektivistische Einheit der Herrschaft eines einzelnen Meisterverstandes unterworfen werden muss – vorzugsweise seinem eigenen. Der Versuchung, den eigenen Willen mit dem allgemeinen Volkswillen zu identifizieren, ist bisher noch jeder große Lenker erlegen. Letzten Endes bleibt nur die bittere Ironie: Die schlimmsten Sünden der Menschheit wurden begangen, weil man die angeborene Sünde des Menschen ignoriert hat.

Die Lehre von der Erbsünde ist „die einzige empirisch verifizierbare Lehre des christlichen Glaubens“ (Reinhold Niebuhr). Wer sie oder gar das Konzept von Sünde allgemein abschaffen will, erhält dadurch keine neue Reformation und erst recht keine bessere Welt. Etwas zu verschweigen, lässt es noch lange nicht verschwinden. Das gilt übrigens auch jenseits der Theologie.

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