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Józef Tischner sah das Böse

Der polnische Philosoph und Priester Józef Tischner sah das Böse und sorgte sich um den Menschen.
Jozef Tischner, Philosoph und Priester
Foto: Krzysztof Gieraltowski/www.tischner.org.pl | Jozef Tischner setzte sich mit der deutschen und französischen Philosophie auseinander und dachte sie weiter.

Nicht nur die Kirche in Deutschland ist in einer Krise, auch in der Kirche des östlichen Nachbarlandes Polen, die in konservativen Kreisen immer noch gern als Vorzeige-Modell für erfolgreichen Katholizismus aufgefasst wird, ist einiges ins Rutschen geraten. Äußerlich durch den Missbrauchsskandal und einen unabhängigen Enthüllungsjournalismus, doch auch innerlich – von der geistigen Substanz her. Zu steril, zu Macht-orientiert und autoritär bevormundend wirkt die Kirche auf viele moderne Polen, die sich von der Institution mehr erwarten als die argumentationsfreie Einforderung von Gehorsam und Traditionsbewusstsein.

Einer, der diesen Imageverfall früh voraussah und sich philosophisch und theologisch hellsichtig gegen kirchliche Fehlverkrustungen positionierte, war der im südpolnischen Stary Sacz geborene Józef Tischner (1931-2000). Er wuchs nicht nur im Tatravorland auf, er blieb auch sein Leben lang geprägt von der Folklore und Kultur der Berge. Tischner widmete der Bergregion sogar ein eigenes Buch: „Geschichte der Philosophie im Goralen-Dialekt“ (1997). Ein Werk, das in Polen längst Kult-Status genießt. Die antiken Philosophen Griechenlands tauchen darin in Form fiktiver polnischer Widergänger auf.

„Je größer die Gewalt des Bösen, um so größer ist der Bedarf an Gnade.
Die Meinungen zum Wesen der Gnade bilden, wie man sich denken kann,
die Kehrseite der Ansichten zum Wesen des Bösen.“

Tischner, der nach seiner Priesterweihe bei dem Phänomenologen und Edith Stein-Freund Roman Ingarden in Krakau über Edmund Husserl promovierte, sich aber auch intensiv mit Hegel, Kant und Emmanuel Levinas auseinandersetzte, erkannte als Reaktion auf die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts und im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils, dass die Würde des Menschen in der Kirche eine größere Rolle spielen müsse und mit ihr der zwischenmenschliche Dialog. „In seinem Aufsatz ,Der Untergang des thomistischen Christentums‘ (1970) hinterfragte er die philosophische Vorrangstellung des Thomismus, dem er vorwarf, den Glauben zu ideologisieren und den Blick auf die Offenbarung zu verstellen. Von diesem Zeitpunkt gab es in der Katholischen Kirche Polens keine wesentliche Debatte mehr, an der Tischner nicht teilgenommen hätte“, wie es in der biographischen Einleitung der Schriftensammlung „Wertedenken/Totalitäre Herausforderung“ des von Zbigniew Stawrowski geleiteten Józef Tischner-Instituts heißt. Tatsächlich meldete sich Tischner bereits in den Anfangsjahren der Freien Gewerkschaft „Solidarnosc“ laut- und gedankenstark zu Wort, indem er beispielsweise den Begriff der Solidarität ethisch zu deuten versuchte.

Sehr klar zog Tischner dabei eine Grenzlinie zwischen Marxismus und Christentum – anhand des Begriffs der Hoffnung. Während die einen auf das Diesseits setzten, das Kollektiv und die Produktivkräfte, fokussierten sich andere ebenso einseitig auf das Jenseits, den Himmel, das ewige Leben. Tischner aber stellt fest: „Der Wert des Menschen reicht tiefer als der Wert seiner aktuellen oder auch potenziellen Arbeit, und er stützt sich auch nicht auf die Einbindung des Individuums ins Kollektiv. Der Wert ist die individuelle Existenz der Person selbst. Für diese individuelle Existenz nämlich und zu ihrem Heil hat der Sohn Gottes den Kreuzestod erlitten. Der Index für die Würde des Menschen ist nicht die Arbeit, sondern die Heiligkeit. Die Arbeit ist es nur insoweit, als sie Bestandteil der Heiligkeit ist.“ („Der unmögliche Dialog. Christentum und Marxismus in Polen“)

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Ein freundschaftliches Verhältnis mit Johannes Paul II.

Als der Krakauer Kardinal Karol Wojtyla, mit dem Tischner ein freundschaftliches Verhältnis verband, im Jahr 1978 Papst wurde, beobachtete Tischner mit der ihm eigenen, phänomenologisch geschulten Beobachtungsgabe, dass viele polnische Katholiken fortan eine Art von Papst-Idolatrie betrieben; dies lehnte Tischner entschieden ab. Wie sehr ihn Johannes Paul II. respektierte, erkennt man daran, dass er Tischner die philosophischen Tagungen in Castel Gandolfo organisieren ließ, bei denen der Philosophie-Papst in Kontakt mit der weiteren wissenschaftlichen Entwicklung seiner wissenschaftlichen Königsdisziplin bleiben konnte.

Nach der Wende 1989, die den Polen die Freiheit schenkte, widmete sich Tischner der „Philosophie des Dramas“ (1990). In ihr geht Tischner von der „Voraussetzung aus, dass das Böse als Erscheinung betrachtet wird, die sich allerdings von anderen gegenständlichen Erscheinungen dadurch unterscheidet, dass sie ausschließlich zwischen Personen – Handlungsträgern eines Dramas – möglich ist. Das Böse tritt uns als eine Spukerscheinung entgegen, die erschreckt oder verführt, grundsätzlich aber nur durch die Anwesenheit Anderer neben mir heraufbeschworen wird. Der Spuk ist ,der Dritte‘ unter uns, der aber zu uns sprechen kann.“ („Das menschliche Drama“)

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Die Angst vor dem Tod begründet Knechtschaft

Interessant ist, wie Tischner das Hegelsche Drama vom Herrn und Knecht interpretiert und weiterdenkt, indem er die menschliche Knechtung als relativ auffasst bezüglich der Todeswahrnehmung. „Bei genauerem Hinsehen erweist sich unweigerlich, dass der Knecht nur mittelbar vom Herrn geknechtet worden ist, im Grunde genommen ist er es durch seinen ,Realismus‘, durch die im Glauben an die Realität der Dinge gründende Angst vor dem Tod. Es gibt einen absoluten und einen relativen Herrn. Der absolute ist der Tod, jeder andere ist ein relativer Herr.“ Auch in Tischners Buch „Der Streit um die Existenz des Menschen“ (1998) spielt das Drama des Bösen eine Rolle.

Mit enormem Tiefgang analysiert Tischner das Dämonische als Teil des menschlichen Dramas: „Das Phänomen des Dämonischen bringt in unsere Vorstellungen vom Bösen etwas Besonderes ein. Es zeichnet uns das Bild eines intelligenten Bösen. Das dämonische Böse handelt; doch es handelt nicht blind wie eine Lawine, ein herunterfallender Dachziegel oder eine bösartige Krankheit. Das Dämonische weiß, wen, wo und wann es anzugreifen hat. Geht es zum Angriff über, so trifft es Menschen und Orte, die es zuvor auserwählt hat. Vor allem greift es dort an, wo es wachsendes Gutes wittert. Die Handlungsmaxime des Dämonischen lautet: Rache am Guten dafür, dass es wagt, Gutes zu sein.“

Das Interesse an Tischners Gedanken scheint zuzunehmen

Dabei vergisst Tischner aber auch nicht die Rolle der Gnade – in Angrenzung zum Bösen und zum Fatum. „Je größer die Gewalt des Bösen, um so größer ist der Bedarf an Gnade. Die Meinungen zum Wesen der Gnade bilden, wie man sich denken kann, die Kehrseite der Ansichten zum Wesen des Bösen.“

Für die polnische Gesellschaft hat Józef Tischner bis zu seinem zu frühen Tod im Jahr 2000 in vieler Hinsicht gnadenreich gewirkt. Er war über das wissenschaftliche Arbeiten hinaus in Fernsehsendungen und Zeitschriften ein geschätzter Experte und Kommentator. Heute werden noch immer viele seiner Artikel, Aufsätze und Interviews in Anthologien veröffentlicht. Das Interesse an Tischners Denken ist groß. Immer mehr Geistliche sehen in dem Philosophen, Priester und „Mann der Kirche“ (Johannes Paul II.) einen Propheten, welcher den Katholiken im säkularen Zeitalter einen Weg weisen kann. Jenseits der zerstrittenen ideologische Lager.

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