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Wie wird man ein böser Mensch?

Tagtäglich muss man sich neu entscheiden, ob man sich in der Bedrängnis dem Schlechten ergibt. Die Beobachtung Alexander Solschenizyns und ein Rat des Papstes: Keinen Dialog mit der Versuchung führen.
Alexander Solschenizyn, mehrmalige Gulag-Häftling
Foto: A2800 epa ESTAFIEV (dpa) | Die Grenze zwischen Gut und Böse sah Solschenizyn durch jedes einzelne Menschenherz verlaufen.

Neulich habe ich verschlafen und Viktor Frankl war schuld daran. Frankl ist ein hochangesehener Neurologe und Psychiater und gilt als Begründer der Logotherapie. Wegen seiner jüdischen Wurzeln wurde er von den Nazis „inhaftiert“, überlebte und veröffentlichte seine Erfahrungen im Jahr 1946 unter dem Titel: „…trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“.

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Es hängt jedem Einzelnen 

Mich hat dieses Buch sehr bewegt, ich habe fast die ganze Nacht darin gelesen und dann verschlafen. Es ist faszinierend, wie Frankl das Böse beschreibt. Ich musste an ein anderes Buch denken, das ich letztes Jahr verschlungen habe. Der Historiker Sönke Neitzel hat mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer in seinem Werk „Soldaten“ die abgehörten Gespräche von kriegsgefangenen deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs protokolliert. In diesen Protokollen wurde deutlich, dass Menschen nicht von Grund auf zu fanatischen Nazis, grausamen Kriegsverbrechern und Menschenfressern werden, sondern Vieles von den Umständen und der familiären, kulturellen und religiösen Prägung abhängt. Aber auch von der Charakterfestigkeit des Einzelnen, der sich tagtäglich neu entscheiden muss, ob er sich der Grausamkeit des Umfelds ergibt und sich ihr letztlich selbst hingibt.

Viktor Frankl hat diese Erkenntnis in seinen Büchern ebenfalls bestätigt. Egal, ob man nun Gefangener oder Aufseher ist: Es liegt in der Entscheidung des Einzelnen, ob er wirklich „böse“ wird. Papst Franziskus hat dies neulich in seiner Ansprache beim sonntäglichen Angelusgebet auf dem Petersplatz bestätigt und gewarnt: „Bitte: Keine Kompromisse mit dem Bösen! Wir dürfen keinen Dialog mit der Versuchung führen, wir dürfen nicht in jenen Schlaf des Gewissens fallen, der uns sagen lässt: ,Das ist doch nicht schlimm, das macht doch jeder‘!“

Nicht immer eine Versuchung

Natürlich, das ist leicht gesagt. Nicht jede Prüfung ist immer eine Versuchung. Allerdings ist jede Versuchung immer eine Prüfung. Manchmal ist es der Teufel, der uns in Bedrängnis bringen will, doch allzu oft sind es wir selbst, die wir uns durch Trägheit, Naivität, ungesunde Neugier oder Triebhaftigkeit ins solche Situationen bringen.

Zurzeit lese ich den Band „Der Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn. In diesem umfangreichen Werk erzählt der mehrmalige Gulag-Häftling von der Unmenschlichkeit des Sowjet-Regimes, das durch ein über das ganze Land gespannte Netz von Arbeitslagern („Gulags“) Menschen psychisch und physisch zerstörte. Seite um Seite schildert Solschenizyn die verschiedenen Methoden der Vernichtung und beschreibt, wie viele unschuldig Eingesperrte mit der Zeit selbst ihre Menschlichkeit ablegten und „vertierten“, wie er es ausdrückte. „Der Archipel Gulag“ ist ein Werk, das nicht zur Gute-Nacht-Lektüre taugt. Und doch stieß ich vor wenigen Tagen auf einen Abschnitt, der mich seitdem sehr beschäftigt. Solschenizyn schreibt:


„Allmählich wurde mir offenbar, dass die Linie, die Gut und Böse trennt, nicht zwischen Staaten, nicht zwischen Klassen und nicht zwischen Parteien verläuft, sondern quer durch jedes Menschenherz. Diese Linie ist beweglich, sie schwankt im Laufe der Jahre. Selbst in einem vom Bösen besetzten Herzen hält sich ein Brückenkopf des Guten. Selbst im gütigsten Herzen – ein uneinnehmbarer Schlupfwinkel des Bösen.“

Ich glaube, dass in diesen Worten eine tiefe Weisheit steckt. Kein Mensch – und ist er noch so böse – muss endgültig verloren gehen. Gerade jetzt, in diesen bösen Zeiten kann das ein Appell an uns sein: Lasst uns nicht aufgeben – weder die Hoffnung, noch den Menschen!

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