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Norbert Röttgen: "Wir haben Glück, dass Joe Biden Präsident ist"

Der CDU-Außenpolitiker beklagt Deutschlands Hilflosigkeit. Im "Tagespost"-Interview erläutert er, warum Deutschland sich von seinen Abhängigkeiten von Russland, China und den USA lösen muss.
Norbert Röttgen,  CDU-Außenpolitiker
Foto: via www.imago-images.de (www.imago-images.de)

Herr Röttgen, Sie analysieren in Ihrem neuen Buch die außenpolitische Lage Deutschlands und fordern ein neues strategisches Denken ein. Als wichtigen Faktor machen Sie dabei die sogenannte „Resilienz“ aus, also die Widerstandsfähigkeit der Deutschen. Wie ist es aus Ihrer Sicht fünf Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges um diese bestellt?

Ich bin von unserer Gesellschaft und ihrer Reaktion auf den russischen Angriffskrieg beeindruckt. Die Menschen in Deutschland zeigen sich sehr vernünftig, sehr verantwortungsvoll und sehr solidarisch. Trotz der hohen Sprit- und Energiepreise und der dadurch verursachten Inflation gibt es bei uns überhaupt keine Stimmung im Sinne von „Was geht uns der Krieg in der Ukraine an“.

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Gilt das auch für die Politik?

Nicht uneingeschränkt. Die letzten Regierungen haben nicht zur Widerstandsfähigkeit des Landes gegenüber Russland beigetragen und die jetzige Regierung führt diesen Fehler leider fort. Unsere Energieabhängigkeit von Russland ist selbstverschuldet. Die Industrie wollte billige Energie und die Politik hat es sich sehr bequem gemacht. Symptomatisch für diese Bequemlichkeit und ein diplomatischer Tiefpunkt, das muss ich leider so sagen, ist die Forderung, die Frau Baerbock nun an die kanadische Regierung gestellt hat: Sie hat Kanada angebettelt, die für den Betrieb von Nord Stream 1 notwendige Gasturbine unter Umgehung der Sanktionen an Russland zu liefern. Denn wenn Kanada das nicht täte und Russland das Gas komplett abdrehe, würden in Deutschland „Volksaufstände“ drohen. Das ist ein Zeichen der Angst und ein fatales Signal gegenüber der eigenen Bevölkerung und unseren Verbündeten, aber natürlich auch gegenüber Russland.

Das heißt: Die Politiker sind ängstlicher als die Bevölkerung?

Die Politik hat Angst davor, dass die Bevölkerung nicht mehr die Notwendigkeit sehen könnte, die Sanktionen gegen Russland beizubehalten. Das ist mangelnder Mut, in einer Situation in der wir Courage von der Regierung brauchen. Es geht schließlich wirklich um etwas – um Frieden und Freiheit in Europa. Das Problem liegt vor allem im politischen Ansatz, den die Regierung verfolgt: Sie überlässt Putin das Handeln und reagiert bloß. Wenn es dann Probleme gibt, wie beispielsweise bei der Energieversorgung, kann man sagen, Wladimir Putin sei verantwortlich.

CDU und CSU stellen die größte Oppositionspartei. Müssen Sie mehr politische Führung einfordern?

Ja, als Opposition müssen wir von der Bundesregierung mehr Mut verlangen. Wenn sie die nötige Courage aufbringt, dann hat sie aber auch unsere Unterstützung verdient. Denn die Lage ist so ernst, dass es jetzt nicht um Parteipolitik gehen kann. Es geht um Europa.

In Ihrem Buch schildern Sie, dass Deutschland sich in einer Situation der Hilflosigkeit befindet. Trotzdem sind Sie aber nicht pessimistisch …

Es ist ein Buch, das in der Analyse auf Realismus und in der Konsequenz daraus auf Zuversicht setzt. Wir müssen jetzt in der Politik und in der Gesellschaft unsere Mentalität der neuen Lage anpassen. Es geht um die Zukunft Europas und dabei kommt es auf Deutschland besonders an. Wir dürfen nicht mehr nur bloß reagieren, sondern müssen beginnen, vorausschauend zu denken: Welche Krise kommt als nächstes und wie müssen wir uns darauf vorbereiten?

Auf welchen Feldern muss strategisch umgedacht werden?

Das betrifft erstens die Zukunft der Ukraine: Am wichtigsten ist in der aktuellen Lage, dass wir endlich und schnell die schweren Waffen liefern, die Bundeswehr und Industrie bereitstellen können. Und dann geht es darum, dass wir uns auf Tag 1 nach dem Ende des Krieges vorbereiten. Wir brauchen eine Sicherheitsordnung für ganz Europa, in die nicht nur die Ukraine, sondern auch Moldau und Georgien eingeschlossen sind. Es wird dann vermutlich für eine lange Zeit erstmal nicht mehr darum gehen, eine Sicherheitsordnung mit Russland aufzubauen. Es wird vielmehr eine Sicherheitsordnung gegen Russland sein. Zweitens, müssen wir unsere Arbeitsteilung mit den USA neu organisieren. Man muss es so sagen: Die wichtigste europäische Sicherheitsmacht sind im Moment die Vereinigten Staaten. Das ist in der jetzigen Situation gut für uns. Aber ist es auch abzusehen, dass dies nicht auf Dauer so bleiben wird und darauf müssen wir uns vorbereiten.

Und drittens müssen wir aus der Energieabhängigkeit von Russland lernen, dass wir unsere wirtschaftliche Abhängigkeit von China nicht weiter steigern dürfen. Wir sollten sie vielmehr reduzieren. Kurz: Es bestehen drei gefährliche Abhängigkeiten: In der Energieversorgung von Russland, in der Frage der Sicherheit von den USA und mit Blick auf wirtschaftliche Wachstumsmärkte von China.

Zunächst zur Ukraine: Wie lange wird der Krieg noch dauern?

Das ist sehr schwierig hier eine Prognose abzugeben, denn die wäre immer spekulativ. Es wird daran liegen, wie groß die militärische und wirtschaftliche Durchhaltefähigkeit Russlands ist.

Worin besteht die Abhängigkeit von China?

Es ist ein großes Problem, dass die für Deutschland strategisch wichtigen Industriezweige – Automobil, Chemie, Pharmazie und Maschinenbau – ihr wichtigstes Standbein in China haben und dort einen Großteil ihrer Umsätze machen. Geopolitische Risiken wurden dabei bisher weitestgehend ausgeblendet. Aber wenn entscheidende Branchen in die Abhängigkeit geraten, kann diese Abhängigkeit zu einem Risiko für die deutsche Volkswirtschaft und damit für unser Land schlechthin werden. Außenhandel ohne Geopolitik funktioniert nicht mehr. Wir brauchen daher eine neue Außenwirtschaftsstrategie, um auch andere Wachstumsfelder zu erschließen und unsere Abhängigkeiten zu reduzieren.

Wo könnten denn diese Wachstumsfelder liegen?

Das müssen natürlich in erster Linie die Unternehmen selbst entscheiden. Über solche alternativen Wachstumsmärkte wird in der deutschen Industrie bereits intensiv nachgedacht. Am zögerlichsten ist da noch die Autoindustrie. Aber auch die Politik muss im Umgang mit China Konsequenzen ziehen, da ist die Bilanz bisher überschaubar: Ein erster Schritt war aber, dass der Bundestag sich im letzten Jahr bei der 5G-Gesetzgebung durchgesetzt und die Nutzung chinesischer Komponenten beim 5G-Ausbau erschwert hat.

Schließlich zur Situation in den USA: Wie schätzen Sie dort die Lage ein?

Wir haben wirklich viel Glück, dass dort aktuell Joe Biden Präsident ist. Dessen Administration ist klar proeuropäisch. Stellen Sie sich nur vor, was wäre, wenn in der jetzigen Situation Donald Trump regieren würde. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er wiedergewählt wird. Und selbst wenn Biden bleiben sollte oder ihm ein anderer Demokrat ins Amt folgt, ist zu konstatieren: Die USA werden sich künftig stärker auf das eigene Land konzentrieren.

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Die USA sind ein gespaltenes Land. Dort werden zwischen verfeindeten Lagern „Kulturkämpfe“ ausgetragen. Wie geschlossen ist der Westen? Besteht nicht die Gefahr, dass solche „Kulturkämpfe“ auch in anderen Ländern ausbrechen?

In den USA stehen sich eine linke und eine rechte Identitätspolitik feindlich und zum Teil mit Hass erfüllt gegenüber. Darum muss man sich wirklich Sorgen um die Demokratie in den Vereinigten Staaten machen. Und wenn die amerikanische Demokratie beschädigt ist, dann hat das auch Auswirkungen auf die amerikanische Außenpolitik – das ist für uns Deutsche entscheidend. Ähnliche Konflikte wie in den USA erleben fast alle westlichen Demokratien, auch hier in Europa. Schauen wir etwa auf die Machtkämpfe bei den britischen Tories. Da geht es nicht mehr um rationale Argumentation, sondern eben um „Kulturkampf“. Im Vergleich dazu ist die deutsche Demokratie aber stabil.

Wenn ich Sie richtig verstehe, dann sehen sie im westlichen Wertekonzept ein Gegengift zu diesen identitätspolitisch aufgeladenen Auseinandersetzungen. Was zeichnet für Sie diese westlichen Werte aus?

Die Bedeutung der Personalität, die Freiheit des Einzelnen, Demokratie, Herrschaft des Rechts und die Menschenwürde – das ist der normative Kern. Wir haben eine lange Epoche des Wohlstands und des Friedens erlebt und haben zum Schluss geglaubt, das sei selbstverständlich. Es ist aber nicht selbstverständlich. Dass wir diese Werte auch verteidigen müssen, lernen wir gerade wieder.

Welche Rolle muss die EU spielen? Wird es immer wieder einzelne Mitgliedsstaaten wie etwa Ungarn geben, die eigene Wege gehen, weil sie so ihre nationalen Interessen besser vertreten sehen?

Zunächst einmal erkenne ich zwischen den Nationalstaaten und Europa keinen Gegensatz. Beide Seiten stehen vielmehr in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander und brauchen sich gegenseitig. Was man aber feststellen muss: Die europäischen Gesellschaften haben große Veränderungen erlebt und noch viel größere Veränderungen stehen mit der Klimakrise bevor. In dieser Situation sind Menschen anfällig für Identitätspolitik und Populismus, weil sie einfache Antworten zu geben scheinen. Und zu Ungarn: Ich halte Viktor Orbán für keinen Ideologen, eher für einen skrupellosen Machtpolitiker, der sich nimmt, was er will, wenn wir ihn gewähren lassen.

Wie steht es um die Stabilität der deutschen Demokratie? Sortiert sich die politische Szene neu? Man kann ja eine Art von Querfront-Bildung zwischen linken und rechten Putin-Freunden feststellen.

Unsere Demokratie ist stabil. Schauen Sie beispielsweise auf die Außenpolitik: In 85 Prozent der Fragen gibt es unter den demokratischen Mitte-Parteien große Einigkeit. Das ist sehr gut. Aber es ist in der Tat auch eine inhaltliche Kongruenz zwischen linken und rechten Populisten festzustellen, was gerade in der Russland-Politik deutlich wird. In Deutschland gibt es zwei Putin-Parteien: Die Linkspartei und die AfD.

Welche Aufgabe kommt hier der Union als Volkspartei zu?

Die Union hat als Volkspartei eine ganz wichtige Aufgabe: Sie muss einen eigenen christdemokratischen Ansatz entwickeln, der Antworten gibt auf die Fragen dieser Zeit. Also nicht einfach dasselbe wie immer. Sondern auf der Grundlage unserer Prinzipien – proeuropäisch, transatlantisch und verankert in der sozialen Marktwirtschaft – neue Antwort geben auf die neue Zeit.


Nie wieder hilflos – Ein Manifest in Zeiten des Krieges“ (dtv), heißt das neue Buch von Norbert Röttgen. Seit 1994 gehört er für die CDU dem Bundestag an. Der 57-jährige Katholik war von 2009 bis 2012 Bundesumweltminister, von 2014 bis 2020 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses.

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