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Boris Gudziak: „Putin muss diesen Krieg verlieren“

Auf einen ukrainischen Sieg und eine Bekehrung des russischen Volkes hofft der ukrainisch-katholische Erzbischof Boris Gudziak, einst Rektor der Ukrainischen Katholischen Universität in Lemberg, der seit 2019 die griechisch-katholische Erzeparchie Philadelphia in den USA leitet. „Die Tagespost“ traf ihn in Przemyśl zum Interview.
Jahrestag des Zweiten Weltkriegs in Russland
Foto: Alexander Zemlianichenko (AP) | Wladimir Putin mit seinem Verteidigungsminister Sergej Schoigu anlässlich einer Kranzniederlegung am Grab des Unbekannten Soldaten in Moskau.

Exzellenz, was will Präsident Wladimir Putin letztlich? Ist ein Szenario denkbar, in dem er sich mit dem Donbass und der Krim zufriedengibt?

Nein, das denke ich nicht. An einen Kompromiss zu denken, wäre sehr naiv. Der Krieg hat bereits 2014 begonnen. Die Ukraine ist im neunten Kriegsjahr. Wenn es jetzt zu einem Waffenstillstand käme, würde die russische Armee innerhalb von zwei, drei Jahren neu aufgestellt werden – und dann käme der nächste Angriff.

"Dieser Mensch ist zutiefst unmoralisch"

Putin sollte intelligent genug sein, zu sehen, dass er gerade zwei Länder ruiniert: die Ukraine und Russland.

Er war nicht intelligent genug, diesen Krieg nicht zu beginnen. Leider ist es nicht einfach eine Frage der Intelligenz. Dieser Mensch ist zutiefst unmoralisch. 700 Universitätsrektoren haben in Russland eine Petition für den Krieg unterschrieben. Kein einziger orthodoxer Bischof in Russland hat sich klar gegen den Krieg ausgesprochen. Von 25.000 orthodoxen Priestern und Diakonen sind nur 293 gegen diesen Krieg aufgetreten; das ist ein Prozent. Viele Leute in der Ukraine telefonierten mit ihren Verwandten in Russland, um dann festzustellen, dass diese die Kreml-Propaganda glauben und den Krieg rechtfertigen.

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Dabei gab es lange viele, enge Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern.

Vor 150 Jahren gab es auch Kontakte zwischen Weißen und Schwarzen in den USA, aber die Schwarzen waren die Sklaven. Es ist eine völlig falsche Idee, zu meinen, wir könnten Frieden und Wohlstand durch wechselseitige ökonomische Abhängigkeit etablieren. In den zurückliegenden 30 Jahren war es die illusorische Politik von Prodi, Berlusconi, Merkel und Sarkozy, mit den Russen Business zu treiben, um so Frieden und Wohlstand zu sichern. Bei alledem hat man völlig übersehen, was Putin seit 15 Jahren sagt, nämlich dass die Ukraine gar kein Land sei, und dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts sei.

"Ich habe während dieses Krieges in der Ukraine
nicht eine einzige Person getroffen, die bereit gewesen wäre,
ein Stück ukrainisches Land für den Frieden zu geben"

Mit diesem Krieg ruiniert Putin jetzt jedoch auch sein eigenes Land.

Ja, stimmt. Wenn einer jemanden vergewaltigt, dann tut er dem Opfer großes Leid an, aber er zerstört sich auch selbst. Das ist die diabolische Seite einer solchen Tat. Leider haben wir seit einem halben Jahrhundert nicht über die Sünde gesprochen, weil das politisch nicht korrekt ist. Das Problem ist, dass die russische Kultur geprägt ist vom Bewusstsein, dass Russland ein Imperium und groß sein soll. Man spricht vom „heiligen Russland“, trotz der höchsten Abtreibungsrate weltweit, trotz hoher Scheidungsraten, Korruption und Gewalt – und konservative Katholiken denken, dass Putin traditionelle Werte verteidige. Es gibt zudem ein Fehlkonzept von „Realpolitik“, der kirchlicherseits die vatikanische Ostpolitik entsprach, und die davon ausgeht, dass die Atommacht der eigentliche Player sei. Den leiseren Stimmen wird weniger Bedeutung beigemessen. Aber die Ukraine ist keine Kolonie Russlands mehr, so wie Algerien keine französische und Peru keine spanische Kolonie ist. Die Schwarzen sind nicht länger Sklaven der Weißen! Ich habe während dieses Krieges in der Ukraine nicht eine einzige Person getroffen, die bereit gewesen wäre, ein Stück ukrainisches Land für den Frieden zu geben. Alle sagen: Genau jetzt haben wir dieses Problem zu lösen. Wir müssen den Kolonialismus beenden!

Wie genau kann dieser Feldzug Putins gestoppt werden?

In den 1980er Jahren wusste niemand, wie die Sowjetunion enden könnte. Gewiss, es gab wirtschaftliche und militärische Faktoren, aber es gab keinen Krieg. Entscheidend war das moralische Moment. Die Menschen verloren die Angst und wollten einen Wandel. Heute sagen die Menschen in der Ukraine: Wir haben gar keine Wahl.

Sie hoffen also auf einen Regimewechsel in Moskau?

Ich hoffe auf eine tiefgreifende Bekehrung des russischen Volkes. Zuerst aber muss Putin diesen Krieg verlieren. Ich bin kein Militärstratege. Ich bete, erkläre was geschichtlich und aktuell geschieht und organisiere humanitäre Hilfe. Was von den Menschen im Westen nicht verstanden wird: Sogar Alexei Nawalny sah 2014 den Anschluss der Krim an Russland positiv. Die Idee des Imperiums ist tief verwurzelt in der russischen Gesellschaft und Kultur. Es gibt diese Idee, mächtig zu sein und andere Länder oder Völker zu besitzen und zu steuern. In Polen hörte ich mehrfach: Wir danken den Ukrainern, denn sie sterben für unsere Freiheit. Die Polen kennen die Russen – und sie haben Angst.

Gibt es so etwas wie ein „anderes Russland“?

Boris Gudziak, Erzbischof der ukrainisch-katholischen Erzeparchie Philadelphia (USA)
Foto: Baier | Boris Gudziak ist Erzbischof der ukrainisch-katholischen Erzeparchie Philadelphia (USA). Zuvor war er zehn Jahre Rektor der Ukrainischen Katholischen Universität in Lemberg und Exarch seiner Kirche für Frankreich.

Ja, aber es ist sehr schmal. Ein paar Tausend protestierten gegen den Krieg. Sie wurden verhaftet und jetzt ist es still. Natürlich haben viele intelligente Menschen Russland längst verlassen und der aktivste Teil der Opposition sitzt im Gefängnis. Die Amerikaner und Westeuropäer kennen seit Jahrzehnten keinen Krieg auf ihren Territorien, auch wenn sie vielleicht in auswärtige Kriege verwickelt waren. Für sie ist das unvorstellbar, auch wenn diese Inkarnation der Sünde in der Menschheitsgeschichte der Normalfall war. Jetzt wissen sie nicht, wie sie damit umgehen sollen. Es ist aber eine Tatsache, dass es das Böse in der Welt gibt. Darum ist es so gefährlich, zu glauben: Die reden so, meinen das aber nicht – anstatt zu sagen: Wenn du das sagst, bist du kein Partner mehr für uns.

"Angela Merkel meinte jüngst, Putin habe sich geändert;
das sei nicht mehr der Putin, den sie kannte. Wie naiv!"

War der Westen bisher zu naiv?

Wie oft haben die Ukrainer und andere die Deutschen gewarnt, sich in der Energieversorgung nicht von Moskau abhängig zu machen! Angela Merkel meinte jüngst, Putin habe sich geändert; das sei nicht mehr der Putin, den sie kannte. Wie naiv! Putin traf eine fundamentale Lebensentscheidung, als er als ganz junger Mann in den KGB eintrat. Beim sowjetischen KGB anzuheuern, hieß seine Seele zu verkaufen: Das war ein System, das einen zwang, ständig falsch zu sein, seine Freunde zu verraten, die Ermordung von Leuten zu arrangieren. Er ist in diesem System aufgewachsen und darin geformt worden. Er hat bewiesen, dass er kein Problem damit hat, Journalisten ermorden zu lassen, Städte wie Grosny zu bombardieren und damit Tausende Russen zu töten. Er schickt jetzt junge Russen als Kanonenfutter in den Tod. Es juckt ihn nicht. Seine Armee führt fahrende Krematorien mit, um die Gefallenen gleich zu verbrennen und keine Leichen nach Hause zu senden. Er schickt überproportional viele Soldaten aus ethnischen Minderheiten und entlegenen ländlichen Gebieten.

Das Moskauer Patriarchat spielt bei alledem mit.

Putin instrumentalisiert die orthodoxe Kirche, küsst bei Gottesdiensten die Ikonen, tut aber gar nichts gegen die höchste Abtreibungsrate der Welt oder gegen den Alkoholismus. Er hat ein zutiefst korruptes System errichtet. Mag sein, dass der Totalitarismus in Russland für eine Weile verschwunden ist, nicht aber das Vermächtnis des russischen Imperialismus. Nie haben die Russen bekannt, dass die Weise, wie sie andere Völker versklavten, falsch war. Die Idee der „russischen Welt“ wurde von Kyrill geschaffen. Er ist ihr Autor. Es gibt ein strukturelles Dilemma: Selbst wenn Putin heute stirbt, ist das Problem nicht gelöst, weil es eine ganze Elite gibt, die an das Imperium glaubt. Für dieses System werden unsere Städte bombardiert und unsere Leute versklavt. In Russland selbst leben etwa sechs Millionen Ukrainer, aber es gibt keine einzige Schule mit ukrainischer Unterrichtssprache. Zehn Prozent von ihnen sind griechisch-katholisch, aber es gibt keine einzige griechisch-katholische Pfarrkirche in Russland. Da sehen Sie, wie machtvoll die Ideologie der russischen Welt ist! Zudem: Jedes Mal in den vergangenen 250 Jahren, wenn Russland ukrainisches Gebiet okkupierte, wurde die griechisch-katholische Kirche hier früher oder später erwürgt. Zaristische, kommunistische oder putinistische Herrschaft führt stets zum Tod der sichtbaren Strukturen der ukrainisch-katholischen Kirche. Wir Ukrainer wissen das: Wenn die Russen siegen, gehen wir in die Katakomben!

Versenkt Putins Krieg die bisherigen Illusionen im Westen?

Jetzt sehen die Menschen klar, was gut und was böse ist, was richtig und falsch ist – und wofür man sein Leben einzusetzen bereit ist. Und das am Beginn des postmodernen 21. Jahrhunderts, wo alles relativ zu sein scheint, wo keine Wahrheit anerkannt wird. Ich denke, dass die Ukraine heute das Epizentrum eines globalen Wandels ist: Das gesamte globale Sicherheitssystem steht auf dem Prüfstand wegen des Kriegs in der Ukraine – und wegen des ukrainischen Widerstands. Wäre die Ukraine rasch gefallen, hätte sich gar nichts geändert. Das Business wäre weitergegangen und Nord Stream 2 in Betrieb genommen worden. So aber ist Europa vereint und die nordatlantische Allianz stärker denn je. Doch als gläubiger Christ und als Bischof sage ich: Für die meisten Menschen der modernen Zivilisation ist die wichtigste Frage jene nach Leben oder Tod; für uns jedoch geht es um Leben, Tod und ewiges Leben. Das ist es, was hier jetzt bezeugt wird! Wir dürfen nicht aus Angst agieren. Seit 20 Jahren dreht sich alles um die Frage: Was wird Putin tun? Die richtige Frage ist jedoch: Was werden wir tun?

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