Die russische Journalistin Ksenia Lutschenko zeigt in ihrem Buch „Mit guten Absichten. Die Russisch-Orthodoxe Kirche und die Macht von Gorbatschow bis Putin“, wie aus dem Symbol der Freiheit in den 1990er Jahren eine tragende Säule des Putin-Regimes wurde. Im „Tagespost“-Interview erklärt sie, warum die Kirche den Weg in die Unabhängigkeit verpasste, weshalb sie freiwillig die Nähe zum Staat suchte und wie Priester heute zwischen zwei Repressionssystemen zerrieben werden.
Frau Lutschenko, Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche Ende der 1980er Jahre als Symbol der Freiheit wahrgenommen wurde, doch im Endeffekt Teil des staatlichen Apparats wurde. Gab es eine Chance auf eine andere Entwicklung?
Das Bild von der Kirche als Symbol der Freiheit war in Wahrheit eine Illusion. Aber die Möglichkeit, einen anderen Weg zu gehen, gab es tatsächlich. Vor allem nach dem Zerfall der Sowjetunion konnte vieles neu beginnen, es war ein spürbarer Aufbruch in der Gesellschaft zu erkennen. Hätte die Kirche als Institution diesen Aufbruch gewollt, hätte sie die Chance zur Erneuerung gehabt. Doch das Gegenteil geschah: Sie blieb die konservativste aller Institutionen. Nach dem Ende der Sowjetunion wurden viele Organisationen aufgelöst oder umgestaltet. Selbst in der Akademie der Wissenschaften fand ein Generationenwechsel statt, sogar der Geheimdienst KGB wurde nach dem Putsch von 1991 zerschlagen und neu organisiert. Die Kirche aber bewahrte ihre alte Bischofsspitze, die noch mit Billigung des KGB und des Rats für Religionsangelegenheiten ernannt worden war. Gleichzeitig strömten jedoch massenhaft Gläubige hinzu, neue Kirchen, Klöster und Bildungseinrichtungen entstanden. Aber die Leitungsstruktur blieb die alte, sowjetische. Damit war die historische Chance vertan.
Warum suchte die Kirche die Nähe zum Staat?
Anfang der 1990er Jahre gab es in der Gesellschaft eine enorme Nachfrage nach Spiritualität. Russland war instabil und die Menschen suchten händeringend nach spirituellen Stützen. Esoterik und Astrologie boomten, unzählige Missionare strömten ins Land, gleichzeitig wuchs das Interesse an der Russisch-Orthodoxen Kirche. Der Staat griff damals kaum in die religiöse Sphäre ein, die Konkurrenz war groß. Diese Angst vor Konkurrenz trieb die Kirche dazu, die Nähe zum Staat zu suchen. Der Staat wiederum versuchte, die Kirche für die Legitimation der neuen Macht einzusetzen. So entstand das Bündnis: Die Kirche verkörperte „das alte Russland“, der Staat gab ihr Schutz und Privilegien.
Heute rechtfertigt Patriarch Kyrill den Krieg Putins. Ist das ein Ergebnis dieser Abhängigkeit oder seine persönliche Handschrift?
„Die Russisch-Orthodoxe Kirche hat sich immer
als Ableger des Staates verstanden"
Die Russisch-Orthodoxe Kirche hat sich immer als Ableger des Staates verstanden. Man kann das mit historischen Gründen erklären, aber die Tatsache bleibt: Die Verwaltungsstruktur der Kirche ist von Unterordnung gegenüber dem Staat geprägt. Im theologischen Sinn ist das nirgends verankert, doch in der Praxis wurde diese Abhängigkeit immer wieder neu hergestellt. Und zwar in einer übersteigerten Form. Oft wird angenommen, dass die Kirche sich in der Sowjetzeit nur gezwungenermaßen dem Staat unterordnete. Doch in den 1990er Jahren, als sie für kurze Zeit Freiheit gewann, reproduzierte sie diese Abhängigkeit völlig freiwillig. Andererseits spielt die Persönlichkeit des Patriarchen, der ein Altersgenosse Putins ist, eine große Rolle. Unter einem anderen Patriarchen wäre die Unterstützung des Krieges vielleicht weniger demonstrativ. Allerdings ist von den Bischöfen aus der sowjetischen Generation kaum eine unabhängige Stimme zu erwarten. Sie sind vom sowjetischen System geprägt.
Kyrill galt einst als liberal. Ein Mythos?
Ja, und den hat er selbst gepflegt. Er bemühte sich stets, dem Zeitgeist zu entsprechen. In den 1990er Jahren, als er ein junger Bischof war, galt es als modern, „Demokrat“ zu sein – und er schlüpfte in diese Rolle. Zudem lag ihm der Lebensstil der sowjetischen Nomenklatura, in deren Kreisen er sich bewegte. Kyrill lebte in der Schweiz, fuhr selbst Auto und Ski, all das gefiel ihm. Er wirkte „europäisch“, und das wurde positiv aufgenommen. Hinzu kam, dass er zahlreiche Kontakte zu westlichen Christen pflegte. Als Metropolit von Smolensk lud er Dozenten aus Polen, Deutschland und anderen Ländern ein, schickte seine Seminaristen zum Studium nach Europa. Solange der europäische Kurs im Trend lag, unterstützte er ihn.
Die Kirche erhält vom Staat viele Privilegien. Macht sie das unangreifbar?
„An Privilegien mangelt es der Kirche nicht.
Doch die Kehrseite ist die ständige Unsicherheit.
Wer heute profitiert, kann morgen bereits in Ungnade fallen"
An Privilegien mangelt es der Kirche nicht. Doch die Kehrseite ist die ständige Unsicherheit. Wer heute profitiert, kann morgen bereits in Ungnade fallen. Dieses Prinzip gilt auch für die Kirche: Es gibt keine Garantie für den Schutz vor staatlicher Repression. Heute fungiert die Kirche als „orthodoxes Design“ des Putin-Regimes, als seine christliche Hülle. Doch der Kreml kommt auch ohne sie aus – mit großrussischer Rhetorik, mit dem Verweis auf traditionelle Werte, mit der Idee der „russischen Welt“. Die Kirche gibt dem Ganzen nur Form. Deshalb bleiben die Beziehungen zwischen Staat und Kirche fragil.

Welche Risiken gehen Priester ein, die sich gegen den Krieg äußern?
Priester, die öffentlich gegen den Krieg oder das Putin-Regime auftreten, riskieren das Gleiche wie alle Russen, die den Mut zum Protest aufbringen. Doch sie geraten unter doppelten Druck: vom Staat und von der Kirche. Für einen Priester ist der Verlust des geistlichen Amtes faktisch der soziale Tod. Er wird aus seinem Umfeld ausgeschlossen, verliert nicht nur seine Arbeit, sondern seine Identität. Das trifft auch die Familie: In Russland sind Priester in der Regel verheiratet, haben oft mehrere Kinder. Mir sind Fälle bekannt, wo Kinder aus Priesterfamilien in der Schule gemobbt wurden. Hinzu kommt ein drastischer Einkommensverlust: Der Betroffene verliert den Beruf, auf den er sein Leben lang vorbereitet wurde. Die meisten haben keine andere Qualifikation. Viele müssen in niedrig qualifizierten Jobs arbeiten, um ihre Familie zu ernähren. Solange ein Priester im Amt ist, gibt es für die Behörden eine Hürde: Ohne Zustimmung der Kirche darf man einen Priester nicht „anfassen“. Doch häufig beseitigt die Kirche diese Hürde, indem sie ihn aus dem Amt entfernt. Damit signalisiert sie dem Staat: Er gehört nicht mehr zu uns, macht mit ihm, was ihr wollt. Dann greift der staatliche Repressionsapparat: Geldstrafen, die Einstufung als „ausländischer Agent“, Strafverfahren – das gesamte Arsenal, das auch gegen jeden anderen Andersdenkenden eingesetzt wird. Es gibt allerdings auch Unterstützung: Der von russisch-orthodoxen Priestern im Exil gegründete Verein Mir vsem (Friede allen) hilft Geistlichen, die durch den Amtsverlust in Armut geraten oder ins Ausland fliehen mussten. Vor Kurzem wurde der Verein in Russland als „unerwünscht“ eingestuft.
Wie ist die Stimmung in den Gemeinden?
Sehr gemischt. Viele Priester folgen der offiziellen Linie aufrichtig. Andere sind zynisch und tun nur, was verlangt wird. Dann gibt es die, die gegen den Krieg sind – sie werden meist nur von einem kleinen Kreis unterstützt und stehen unter permanentem Risiko, denunziert zu werden. In den ersten Kriegsmonaten gab es viele Denunziationen. Lange Zeit war es verboten, in Gebeten das Wort „Frieden“ zu verwenden. Kurz vor dem Treffen von Putin und Trump in Anchorage betete sogar der Patriarch „für den Frieden“. Nur wenige Tage später wurde das wieder aufgehoben: ein klares Signal, wie stark kirchliche Rhetorik von politischer Konjunktur abhängt.
Wie hat sich seit 2022 die Wahrnehmung der Kirche in der Gesellschaft verändert?
„Wer die Kirche als legitimierend für den Krieg wahrnimmt,
empfindet sie als gesellschaftlich akzeptabel"
Die Rolle der Kirche im staatlichen Patriotismus ist spürbar gewachsen. In Schulen, in öffentlichen Ritualen wie der Verabschiedung von Wehrpflichtigen oder Mobilisierten wird sie präsent. Die Gleichsetzung „Kirche ist Patriotismus“ ist stärker geworden. Wer die Kirche als legitimierend für den Krieg wahrnimmt, empfindet sie als gesellschaftlich akzeptabel. Sie vermittelt psychologischen Komfort und festigt so ihre gesellschaftliche Rolle.
Sie haben Alexej Nawalny als christlichen Bekenner bezeichnet. Warum?
Weil er seine Taten mit seinem Glauben begründete. In seinem Buch „Patriot“ schreibt er sinngemäß: Wenn wir an das Himmelreich und an Jesus Christus glauben, was haben wir dann zu fürchten? Seine Glaubenstreue half ihm, in den Bedingungen, in die er geraten war, standzuhalten und seine Entscheidungen daran auszurichten. Dabei stellte er seinen Glauben nie zur Schau oder hat sich als „superorthodox“ inszeniert. Auf den letzten Fotos aus seiner Zelle lagen, wenn ich mich nicht irre, zwei Bücher neben ihm: ein Oxford-Wörterbuch und die Bibel.
Die Interviewerin ist in Moskau geboren, promovierte Germanistin und freie Journalistin.
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