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Alfred Döblin - Der Dichter und das Kreuz

Alfred Döblin kannte als Nervenarzt besonders die Abgründe der menschlichen Natur - deshalb lehnte er eine Kunst, die zu sehr auf Ästhetik setzt, ab - bei Christus fand der jüdischstämmige Schriftsteller schließlich einen tragfähigen Sinn und Halt.
Alfred Döblin starb vor 50 Jahren
Foto: Foto: | Mehr als nur der Autor von „Berlin Alexanderplatz“: Alfred Döblin.dpa

Günter Grass nannte ihn „meinen Lehrer“, er gehört mit Kafka, Musil, Brecht und Thomas Mann zu den Repräsentanten der literarischen Moderne: der in einer jüdischen Familie geborene Schriftsteller Alfred Döblin (1878–1957). In einer autobiografischen Skizze schrieb er knapp: „In Stettin 1878 geboren, als Knabe nach Berlin gekommen, bis auf ein paar Studienjahre dauernd in Berlin ansässig und an dieser Stadt hängend. Gymnasialbildung, Medizinstudium, eine Anzahl Jahre Irrenarzt, dann zur inneren Medizin, jetzt im Berliner Osten spezialärztlich praktizierend.“ Was nicht erwähnt wird, ist seine traumatische Erfahrung, als der Vater wegen einer Geliebten die Familie verließ und er so über Hamburg mit seiner Mutter und vier Geschwistern nach Berlin kam. Selbst hatte er 1912 dann einen unehelichen Sohn und im selben Jahr wurde er nach der Heirat mit Erna Reiss Vater des Sohnes Peter – drei weitere Söhne sollten folgen. Sein rastloses Leben war geprägt von Flucht, Exil, Verkennung und Isolation. Erst seit 2011 gibt es „Döblin. Eine Biografie“ von Wilfried F. Schoeller, weiterhin unentbehrlich ist die wissenschaftliche Werkbiografie von Gabriele Sander (Stuttgart 2001).

Die verschiedensten Berliner Milieus kennengelernt

Als Neurologe und Psychiater lernte Döblin die verschiedensten Berliner Milieus kennen – von Kriminalität bis Prostitution – und hatte so biografisch und beruflich die nötigen Voraussetzungen, um den Roman zu schreiben, der ihn berühmt machte, vorerst von finanziellen Sorgen befreite und für immer mit seinem Namen verknüpft bleibt: „Berlin Alexanderplatz“ (1929). Die mehrfach verfilmte Geschichte des Transportarbeiters Franz Biberkopf, der, aus der Strafanstalt Berlin-Tegel entlassen, als ehrlicher Mann ins Leben zurückfinden möchte, schildert das Berlin der zwanziger Jahre mit all seinen Dämonien im kollektiven Geschehen. Der Einzelne ist ihnen wie ein ungläubiger Hiob machtlos ausgeliefert und doch blitzen einige Trostlichter auf. Der Schweizer Germanist Walter Muschg, ein persönlicher Freund Döblins, sieht in dem ersten deutschen Großstadtroman von literarischem Rang „die reifste Frucht des Berliner Futurismus“ und aufgrund der Verwendung biblischer Bezüge „Döblins erste christliche Dichtung“. Der Autor selbst wehrte sich jedoch gegen Einteilungen und sprach etwas selbstironisch von „Döblinismus“. Dem Dynamismus der Motive und des Geschehens bis hin zum Mord sollte eine dynamische Darstellung entsprechen. Die evangelische Theologin Dorothee Sölle hat in ihrer Habilitation „Realisation“ (Darmstadt 1973) Döblin einfühlsam interpretiert und sieht Franz Biberkopf im mythischen Streit zwischen Hure Babylon und dem Tod. Seine „Schicksale zwischen Gefängnis und Irrenanstalt werden zurückbezogen auf das, was Hiob erduldete, oder auf das, was Abraham zugemutet wurde“. Auch hellsichtig-prophetisch kann der Roman verstanden werden: „er hat den Zustand einer Welt, in der Faschismus jederzeit als latente Möglichkeit droht, dargestellt, umsonst schreiend wie Jeremia, jener unglückliche Sager der Wahrheit, den Döblin am häufigsten zitiert.“

Es ist jedoch falsch, wie es oft geschah, aus dem großen schriftstellerischen Werk Döblins sich nur auf „Berlin Alexanderplatz“ zu konzentrieren. Seine unter dem Titel „Die Ermordung der Butterblume“ erstmals 1913 veröffentlichten Erzählungen sind genial in ihrer Vielseitigkeit, sie wurden als „moderne Märchen“ und „Miniatur-Meisterwerke des Expressionismus“ bezeichnet. Andere große Romane sind dem Drama um Franz Biberkopf ebenbürtig an die Seite und ins Licht zu stellen: vor allem der China-Roman „Die drei Sprünge des Wang-lun“ (1915/16), der Technik-Roman „Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine“ (1918), der während des ersten Weltkrieges entstandene Roman zum Dreißigjährigen Krieg „Wallenstein“ (1920), der Günter Grass so beeindruckt hat, und der geschichts- und naturphilosophische Roman „Berge Meere und Giganten“, der die bis heute aktuelle futurologische Frage stellt: „Was wird aus dem Menschen, wenn er so weiterlebt?“

Im Versepos „Manas“ (1927) widmete Döblin sich indisch-hinduistischen Themen. Es folgte nach dem „Alexanderplatz“ noch die durch das Lehrstück „Die Ehe“ (1930) vorbereitete teils autobiografische Familiengeschichte „Pardon wird nicht gegeben“ (1935) und der dreibändige Südamerika-Roman „Amazonas/ Das Land ohne Tod“ (1937/38), der die Ausbeutung der Indios durch die europäischen Eroberungen mit Las Casas ähnlich wie der von Döblin geschätzte Reinhold Schneider aus christlicher Sicht kritisiert und dabei zuletzt bis ins 20. Jahrhundert Parallelen zieht. Nachkriegswerke sind der Revolutionsroman „November 1918“ (1948/50) und der daran anknüpfende Kriegsheimkehrerroman „Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende“ (1956). Die entbehrungsreiche Flucht vor den Nazis schilderte zuvor ausführlich die „Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis“ (1949).

Marienbilder ja, Weihrauch eher nein

Der große Dichter und Künstler Alfred Döblin war kein Schöngeist und hatte manchmal einen antiästhetischen Zug. „Das rein Ästhetische und Literarische widert mich an“, war eine polemische Äußerung von ihm. So blieb er auch gegenüber Thomas Mann distanziert, fand aber zunächst Zustimmung bei Bertolt Brecht, dem Erfinder des epischen Theaters. Kunst ist nicht zwecklose l'art pour l'art, sondern der Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtet. Nicht bürgerlich-psychologische, sondern historische Romane sind Döblins Anliegen. Zur Historie zählt er auch Technik, Natur und Naturwissenschaft, Politik und Gesellschaft. „Jeder gute Roman ist ein historischer Roman“, schrieb er 1936.

Religion und Glaube sind eine Dauerkomponente in Döblins Schaffen, nicht erst seit der expliziten Konversion zum Katholizismus, die nach dem Bekenntnis dazu bei der Feier zu Döblins 65. Geburtstag im August 1943 im kalifornischen Santa Monica von Bertold Brecht im hämischen Gedicht „Peinlicher Vorfall“ als „Verletzung irreligiöser Gefühle“ und „mottenzerfressener Pfaffenhut“ skandalisiert wurde. Das Verdikt hatte Folgen. So geht es einem, der sich ohne klerikal zu sein der „Diktatur des Relativismus“ öffentlich widersetzt.

Marx und Freud sprachen ihn nie an, Nietzsche kurz

Schon früh war der ohne religiöse Erziehung aufgewachsene Stettiner Jude religiös sensibel, wohl auch aufgrund der negativen familiären Erfahrungen. Eine erste Begeisterung für Friedrich Nietzsche ist schnell verflogen. Über Marx und Freud sagte der ehemalige Sozialist nach dem Zweiten Weltkrieg: „Keiner von beiden erschütterte mein Inneres, keiner veränderte mein Weltbild.“ Aus dem Studium in Freiburg schrieb er 1904 an Else Lasker-Schüler: „Ich werde vielleicht noch einmal sehr gläubig werden […] Ich bin gestern zum Hochamt im Münster gewesen, nachmittags bin ich noch einmal in das dunkle leere Gewölbe zurückgekehrt […] Das Beste, was wir können, ist beten.“ Ähnlich erging es ihm auf seiner eindrücklichen „Reise in Polen“ (1925), auf der er Spuren des osteuropäischen Judentums nachgehen wollte, in der Krakauer Marienkirche unter dem Kreuz von Veit Stoß: „Leid ist in der Welt, Schmerz, menschlich-tierisches ringendes Gefühl ist in der Welt. Das ist der tote Mann oben, Christus. Seine Wunden, seine Hinrichtung, seine durchbohrten Knochen. Entsetzen geht von ihm aus. Zu ihm beten sie. Zu ihm, nicht zu den Säulen, den Pfeilern, den bunten Farben.“

Und auch für ihn selbst gilt: „Der mächtigen Realität habe ich mein Herz zugewandt, dem Hingerichteten-“ Marienbilder konnten ihn ansprechen, Heiligenbilder und Weihrauch eher nicht. In den schwärzesten Tagen seiner Flucht ins Exil hat er durch die Betrachtung des Gekreuzigten in der Kathedrale von Mende ein „mystisches“ Erweckungserlebnis: „Es besteht ein Geheimnis zwischen uns. Der am Kreuz hängt, spricht nicht zu mir, aber ich spreche zu ihm. Ich frage nicht. Ich fühle: Oh du!“ Es folgt am 30. November 1941 in Los Angeles nach Unterricht durch Jesuiten die Konversion mit seiner Frau und dem jüngsten Sohn Stefan. Vorausgegangen war die intensive Lektüre von Texten Sören Kierkegaards, Johannes Taulers und auch Thomas von Aquins. Seine religiösen Gedanken hat Döblin vor allem in „Unser Dasein“ (1933) und in den die Konversion rechtfertigenden Religionsgesprächen „Der unsterbliche Mensch“ (1942) und „Der Kampf mit dem Engel. Ein Gang durch die Bibel“ (1952) formuliert.  Walter Muschg  hat in seinen Essays „Die Zerstörung der deutschen Literatur“ (1960/2009) die lebenslange Bekehrung Döblins unter dem Titel „Ein Flüchtling“ aufgegriffen und seine Bedeutung erkannt. Christen können sich dem Dichter, der das Böse in der Geschichte und im Menschenleben aufgriff und durch das Kreuz gebannt sah, besonders verbunden fühlen.

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