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Noch einmal?

Der richtige Weg steht auch heute für uns alle offen. Ein Plädoyer gegen eine drohende Kirchenspaltung in Deutschland.
Cranach-Tage in Weimar
Foto: Sebastian Kahnert (dpa-Zentralbild) | Kinder setzen auf dem Herderplatz in Weimar (Thüringen) bedruckte Kunststoffwürfel zu dem Werk «Martin Luther» von Lucas Cranach dem Älteren zusammen.

Vor 42 Jahren schickten meine Oberen mich als frisch geweihten Priester nach Frankfurt am Main, um eine theologische Doktorarbeit zu schreiben. In Deutschland habe man nämlich die Chance, Theologie auf höchstem Niveau zu betreiben, und zwar in innigem Dialog mit der Gedankenwelt, die sich seit der Reformation entwickelt habe. Im Nachhinein muss ich zugestehen, dass es keine allzu schlechte Entscheidung gewesen ist.
Ich konnte evangelische Theologen verschiedener Provenienz wie Wolfhart Pannenberg und Eberhard Jüngel vollständig lesen und in meiner Dissertation vergleichend kritisch bearbeiten; aber auch Katholiken wie Karl Rahner, Hans Urs von Balthasar und vor allem Joseph Ratzinger durfte ich mit Gewinn in ihrer eigenen Sprache lesen und hören.

Während meines Grundstudiums in Madrid hatte ich keine konfessionell gebundene Theologie studiert. Im Gegenteil, unsere Lehrer waren beeindruckt – nicht zuletzt auch durch die Ereignisse um das Zweite Vatikanum – von den aus dem Norden zu uns fließenden Strömungen und sehr offen für alles, was Kirche und Glaube vermeintlich modernisieren könnte. In Deutschland hingegen lernte ich später eine bewusst auf ihre katholische Identität bedachte Theologie kennen, gerade deshalb – so habe ich es mindestens empfunden –, weil sie schon seit langem in direkter Auseinandersetzung mit Reformation und Moderne zu Hause war.

Die Lage hat sich stark geändert

Inzwischen scheint sich die Lage stark geändert zu haben. Was ist in Theologie und Kirche in Deutschland in den letzten Jahrzehnten passiert? So stelle ich mir heute dieselbe Frage, die am 18. November 2022 Kardinal Marc Ouellet an die in Rom zum Ad-limina-Besuch versammelten deutschen Bischöfe gerichtet hat. Was vor vierzig Jahren radikale Vorschläge von manchen Theologen und kirchlichen Aktivisten waren, fordert heute, im Rahmen des sogenannten Synodalen Wegs, die Mehrheit der deutschen Bischöfe. Woher kommt dieser „unerwartete Bruch mit der katholischen Überlieferung“, der die Kirche erneut der Gefahr einer schwerwiegenden Spaltung aussetzt?

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Von Spanien aus blicken viele Katholiken traurig und besorgt auf diese Lage in Deutschland. Gerade dort, wo man die stärkste geistige und theologische Kraft für die Evangelisierung der Moderne vermutet hatte, scheint nun der Gegenwind der modernen Welt das Schiff der Kirche ins Wanken zu bringen. Woran mag das liegen? Es wird mir wohl nicht möglich sein, diese Frage zufriedenstellend zu beantworten. Danach gefragt, möchte ich immerhin ein Wort dazu wagen. Dabei liegt es mir fern, jemanden belehren zu wollen. Es geht mir vielmehr um die gemeinsame und demütige Verantwortung für die Kirche.

Ich setze mit einer persönlichen Erfahrung an. Als Vertreter der spanischen Bischofskonferenzen habe ich im Mai 2018 am Katholikentag in Münster teilgenommen. Eines Tages saß ich beim Abendessen zusammen mit einem spanischen Priester, der mich begleitete. Dann setzten sich auch einige deutsche Bischöfe dazu. Der erste von ihnen war Kardinal Reinhard Marx. Wir hatten uns schon früher in Madrid kennengelernt. „Ach, wir, Bischöfe“, wandte er sich an mich, „wir gehen immer hinter dem Volk her! Es musste Napoleon kommen, um uns aus unseren Palästen herauszuholen!“
„Sind Sie sich dessen wirklich sicher, Herr Kardinal? Immer hinterher? Wissen Sie“, gelang es mir zu bemerken, die große Rede des Kardinals unterbrechend, „ich habe gerade im Dom das Grab des seligen Erzbischofs von Galen besucht. Damals gab es zumindest einen, der, gegen den Zeitgeist, der Zukunft entgegen vorangegangen ist.“ „Da haben Sie Recht“, gab der Kardinal höflich zu. Er fuhr unbeirrt fort zu der Frage, die er eigentlich anvisiert hatte: „Ihr aber in Spanien und in Italien, ihr seid kaum in der Lage zu verstehen, dass die Kirche, wenn wir das Volk nicht endgültig verlieren wollen, endlich die Frauen zum Priestertum zulassen muss. Denn bei euch befinden sich nicht auf der anderen Straßenseite die evangelischen Gemeinden, die von Pastorinnen geleitet werden.“

Nicht ohne Weiteres den evangelischen Rezepten folgen

Etwas überrascht von einer solch direkten und mehr frechen als klugen Belehrung, versuchte ich wieder etwas zwischendurch zu erwidern: „Aber, Herr Kardinal, meinen Sie das wirklich ernst? Kennen Sie nicht den starken feministischen Kampf um Bild und Rolle der Frau in der Gesellschaft, den wir in Spanien und Italien nicht weniger als ihr in Deutschland erleiden müssen? Es ist ja auf diesem grundlegenden Boden, wo auch in der Kirche die Forderung der Zulassung der Frau zum Priestertum grundsätzlich gestellt wird. Der Vergleich mit den Protestanten spielt hier heute eher eine nebensächliche Rolle. Auch die staatliche lutherische Kirche hatte sich vor hundert Jahren zum ersten Mal in Schweden diesem Zeitgeist gebeugt, als sie auf Anforderung des Parlaments das kirchliche Amt für die Frau hat öffnen müssen, obwohl ihre Synode, sich auf dem Wort Gottes gründend, mehrmals dagegen gestimmt hatte. Übrigens muss ich mit Bedauern sagen: Wenn Sie das Volk wirklich nicht verlieren wollen, folgen Sie bitte nicht ohne Weiteres den evangelischen Rezepten. Auch im reformierten Lager leuchten sie nicht allen ein.“

„Na gut, die Geschichte von Schweden kannte ich nicht“, räumte der Kardinal wieder ein, um aber überraschend auf ganz anderen Wegen die scheinbar auf alle Fälle voranzutreibende Sache weiter zu vertreten: „Es geht vor allem darum, den kritischen, zukunftsweisenden Minderheiten zuzuhören und sie nicht zu verlieren...“. Soweit das Münsteraner Tischgespräch mit dem deutschen Kardinal, das den anderen Spanier und mich, wenn nicht ganz verloren, so doch etwas besorgt zurückgelassen hat. Sorge um die Kirche in unserer Zeit ist sicherlich das treibende Motiv für die Forderungen von gründlichen Änderungen in Dogma und Praxis. Die Krise ist offenkundig geworden, und zwar schon vor dem Ausbruch der Missbrauchsskandale. 1984 hatte Kardinal Ratzinger in seinem bahnbrechenden „Bericht zur Lage des Glaubens“ eine treffende Diagnose der Irrwege und Enttäuschungen der nachkonziliaren Zeit dargelegt. Etwas müsste doch geändert werden, wenn die Kirche wirklich ihre göttliche Sendung für die Menschen von heute erfüllen will. Wir wissen es: Der Heilige Geist ist keine starre Größe der Vergangenheit, sondern die göttliche Kraft, durch die die Kirche immer tiefer durch die Zeiten hindurch das Heil Jesu Christi jeder Generation nahebringt.

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Fortentwicklung und Änderungen können ein Ausdruck von Treue sein. Sie können aber auch Schritte in die entgegengesetzte Richtung sein, also in die Selbstsicherheit des alten Adam, der sich, vom Bösen versucht, gegen die Bewegung des Heiligen Geistes sperrt und eigentlich nur noch seine eigene Stimme hören will. Echte Unterscheidung der Geister ist also dringend notwendig. Den guten Willen darf man niemandem absprechen. Sowohl im gerade erinnerten Münsteraner Tischgespräch wie in der stürmischen Sitzung des Synodalen Wegs vom vergangenen Herbst, die ich auf „YouTube“ mitverfolgt habe, steckt auch hinter manch Bedauerlichem die gute Absicht, das Evangelium neu für die Menschen unserer Zeit erstrahlen zu lassen. Ich frage mich aber, ob nicht ein großer Mangel zu beobachten ist, der die notwendige geistliche Unterscheidung zum Scheitern zu bringen droht. Fehlt hier nicht das Vertrauen in die Kirche als Sakrament Gottes? Darauf hat treffend Kardinal Luis Ladaria hingewiesen, als er im vergangenen November in Rom seine Ansprache an die deutschen Bischöfe unter einen Satz des Briefes des Papstes an das Volk Gottes in Deutschland gestellt hat: Wie wichtig ist es, „sich als Teil eines größeren Leibes zu wissen“!

Gehen wir nicht noch einmal den falschen Weg

Die Kirche ist als Leib Christi das Volk Gottes in unserer Welt. Ein Volk aus begrenzten und sündigen Menschen, das sicherlich ständig der Erneuerung bedarf. Trotz aller Missstände bleibt sie aber Gottes Volk, die einzigartige Gegenwart des auferstanden Erlösers in jeder Epoche. Ist es uns dann erlaubt, über sie zu richten? Sind wir ihr nicht alle, vom Papst bis zum letzten Getauften, für unseren Glauben und unsere Erlösung auf sie angewiesen? Wie können wir uns unserer Maßstäbe für die „Modernisierung“ der Kirche so sicher sein, dass wir unsere Meinungen dazu über die große katholische kirchliche Überlieferung zu stellen wagen?

Einmal wurde die Stimme eines Mönchs aus Deutschland in der Christenheit vernommen: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ Und weiter: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders!“ Der barmherzige Gott hat sich endgültig durch die Kirche mitgeteilt. Eigentlich brauche ich ihn nicht zu bekommen. Es wäre ein großer Widerspruch, bei ihm bleiben zu wollen und gleichzeitig das eigene „Ich“ über die Kirche zu stellen. Anstatt einer notwendigen Reform hat dieser Widerspruch damals eine verhängnisvolle Spaltung hervorgebracht. Spaltung ist sicherlich nicht eine Frucht des Heiligen Geistes. Gehen wir nicht noch einmal den falschen Weg! Der richtige Weg steht auch heute für uns alle offen. Es ist der Weg der Heiligen. Sie erneuern die Kirche und tragen entscheidend dazu bei, dass sie zu jeder Zeit fähig ist, den Menschen die Freude des Evangeliums nahe zu bringen. Ich erlaube mir, das Beispiel einer Frau in Erinnerung zu rufen, die in diesem Sinne sicherlich mehr für die Kirche getan hat als tausende von Theologen und Priestern: die Kirchenlehrerin Teresa von Ávila – und mit ihr so viele andere, wie die deutsche Teresa unserer Zeit, Edith Stein.

Liebe Mitbrüder im bischöflichen Amt: Bleiben wir bitte weise, demütig und geduldig! Wahre Erneuerung ist immer aus dem Herzen der Kirche, unserer Mutter, gekommen. Auch die modernen Erkenntnisse anthropologischer oder naturwissenschaftlicher Art können es nicht besser!

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