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Jenseits der Wasserscheide

Der Orientierungstext des Synodalen Weges fließt in die verkehrte Richtung und schwächt die Verbindlichkeit des Lehramts wortreich ab.
Statue von Papst Johannes XXIII.
Foto: imago stock&people | Statue des Papst Johannes XXIII vor der Sankt Antonius-Basilika in Istanbul.

Die Europäische Wasserscheide ist eine unsichtbare Grenze quer durch den Kontinent. Alles diesseits der Linie fließt in Richtung Nord- und Ostsee und Atlantik, alles jenseits zum Mittelmeer und zum Schwarzen Meer. An der Linie selbst liegen die beiden Richtungen noch direkt beieinander. Auf dem Scheitel kann das Wasser von demselben Dach nach der einen oder der anderen Seite hin ablaufen. Aber je weiter man sich vom Scheitel entfernt, umso klarer wird es, in welche Richtung das Wasser fließt. Auch zwischen Kirche und Welt gibt es eine Wasserscheide. Zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils lagen beide noch nahe beieinander. Gefühlt befanden sie sich gewissermaßen noch unter demselben Dach. Doch 60 Jahre später haben die beiden sich schon sehr weit voneinander entfernt. Die Welt kommt fast ganz ohne Bezug zu Gott aus, ganz zu schweigen von einer gründlichen Prägung von Lebensweise, Kultur und Politik durch christlichen Glauben und Tradition. Das ist der Bruch zwischen Evangelium und Kultur, von dem Papst Paul VI. hellsichtig gesprochen hat.

Die Welt braucht Gott scheinbar nicht mehr

Dieser Bruch hat aber längst auch die Kirche erfasst. Gläubige und natürlich auch Priester und Bischöfe haben gewissermaßen ihren ständigen Wohnsitz jenseits der Wasserscheide. Sie sind selbst Teil der Welt und denken und handeln darum weltlich. Alle in der Kirche bedürfen der Selbstevangelisierung, wie wiederum Paul VI. klarsichtig formulierte. Denn von Gott her zu leben verlangt mittlerweile viel mehr als vor einigen Generationen. Der Weg und die Mühen dabei sind heute viel größer als 1962, und darum werden viele auf halbem Weg stehen bleiben.

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So liegt die Versuchung nahe, weltliche Vorstellungen und Verhaltensweisen sozusagen zu taufen und als christlich auszugeben. Heraus kommt dabei die Verweltlichung der Kirche und ihres Glaubens. Sie ist in unseren Regionen zum Normalfall geworden, so sehr, dass es gar nicht mehr auffällt, dass das Wasser unaufhörlich in die entgegengesetzte Richtung fließt.

Credo „Lebenswirklichkeit“

Der Orientierungstext des Synodalen Weges ist gewissermaßen die theologische „Magna Charta“ dieser neuen Fließrichtung. Er ist routiniert geschrieben, spiegelt aber gerade so den Normalfall der Verweltlichung. Seine Theologie sieht ihre Hauptaufgabe offenbar darin, diese Wasserscheide gekonnt zu überspielen. Das zeigt sich besonders bei seinem eigenartigen Verständnis der Zeichen der Zeit und des Glaubenssinnes. Sie werden dem Lehramt weitgehend gleichgestellt, indem sie zusammen mit Schrift und Tradition als die wichtigsten Orte der Theologie gelten. Mit diesen „Orten und Zeiten der Theologie“ wird der sogenannten Lebenswirklichkeit der Menschen heute ein entscheidendes Wort bei der Formulierung von Glauben und christlicher Moral zugesprochen.

Damit wird aber das Jenseits der Wasserscheide zum Diesseits der Kirche gemacht. Die Theologie wechselt dabei gleich die Seiten mit. Anstatt intellectus fidei, Auslegung des Glaubens der Kirche zu sein, wird sie advocatus mundi, Anwalt des Weltlichen. „So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt“ (Goethe). Denn die eigentliche Herausforderung wird dabei verpasst: Glaube und Moral heutigen Menschen so zu sagen, dass sie diese als Orientierung verstehen.

„Sehen, Urteilen, Handeln“

Beginnen wir mit den Zeichen der Zeit, also die Hinwendung zur Gegenwart, weil auch in ihr der Heilige Geist wirkt. Papst Johannes XXIII. wollte der Kirche diese Zuversicht mitteilen. Er rief deshalb in seinem Einberufungsschreiben des Zweiten Vatikanischen Konzils programmatisch dazu auf: „Ja wir möchten uns die Forderung Christi zu eigen machen, ,die Zeichen der Zeit‘ (Mt 16, 3) zu unterscheiden, und glauben deshalb, in all der großen Finsternis nicht wenige Anzeichen zu sehen, die eine bessere Zukunft der Kirche und der menschlichen Gesellschaft erhoffen lassen.“

Konkret knüpfte das Konzil dabei an den berühmten Dreischritt „Sehen, Urteilen, Handeln“ der Christlichen Arbeiterjugend und ihres Gründers Joseph Cardijn (1882-1967) an. So zeigt sich für die Pastoralkonstitution Christi Nähe in hoffnungsvollen Bewegungen der Gegenwart an. Die Kirche bemüht sich, „in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind” (Gaudium et Spes 11).

Die Welt hören mit Christus

Kurz, bei den „Zeichen der Zeit“ geht es um Herausforderungen an die Pastoral, nicht um Neuformulierung der Lehre. Der frühere Trierer Fundamentaltheologe Heribert Schützeichel gibt darum zu bedenken: „Die Zeichen der Zeit können nur in einem sekundären Sinn einen locus theologicus darstellen.“ Denn sie müssen einer Unterscheidung unterworfen werden und können nur im Licht der Offenbarung Eindeutigkeit erlangen.

Darum fährt er fort: „Der Glaube hört die Welt. Dieses Hören aber bleibt getragen und unterfangen vom Hören auf das Wort Gottes in Christus.“ Nüchtern wird man dabei heute die fortgeschrittene Weltlichkeit der Welt mitbedenken. Selbst an sich gute Entwicklungen wie die Antidiskriminierung, die Aufwertung der öffentlichen Rolle von Frauen oder das ökologische Bewusstsein sind deshalb häufig so eng mit weltanschaulichen Positionen fernab des Christentums verbunden, dass die Aufgabe der Unterscheidung viel mehr als vor 60 Jahren auch Korrektur und Trennung einschließen wird. Was aber hat es mit dem Glaubenssinn aller Gläubigen als Ort der Theologie auf sich? Kann der Synodale Weg sich auf die Mehrheitsmeinung der Kirchenmitglieder als Argument zur Veränderung der Lehre berufen? Auch an dieser Stelle wird eine pastorale Herausforderung dogmatisch überfrachtet.

Glaubenssinn ist Konsens, nicht Dissens

Natürlich gibt es „in jeder Zeit eine Spannung zwischen dem Anspruch des Evangeliums und der Lebenswirklichkeit“, wie Papst Franziskus bemerkt. „Allerdings darf diese zweifellos richtige Einsicht nicht zum Vorwand genommen werden, die Erfahrungen und das Zeugnis der Gläubigen zu ignorieren.“ Hören auf die Gläubigen ja, unbedingt! Verstehen, was ihnen ein christliches Leben schwermacht und warum sie sich mit manchen kirchlichen Lehren schwertun. Doch auch hier gilt es zu unterscheiden, was dem Druck der Weltlichkeit geschuldet ist, also sozusagen dem Wasser, das in den anderen Ozean fließt.

Einen eigentlich lehrbestimmenden Charakter kann und darf man diesen Schwierigkeiten jedoch nicht zuschreiben. Denn der eigentliche Glaubenssinn ist nach „Lumen gentium“ 12 etwas ganz Anderes: nicht Dissens, sondern Konsens! Er setzt gerade die „allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten“ voraus. Denn durch ihn „hält das Gottesvolk unter der Leitung des heiligen Lehramtes, in dessen treuer Gefolgschaft es nicht mehr das Wort von Menschen, sondern wirklich das Wort Gottes empfängt (vgl. 1 Tim 2, 13), den einmal den Heiligen gegebenen Glauben (vgl. Jud 3) unverlierbar fest. Durch ihn dringt es mit rechtem Urteil immer tiefer in den Glauben ein und wendet ihn im Leben voller an.“

Verweltlichung statt Selbstevangelisierung

Dieser Schlüsselstelle zufolge besitzt der Glaubenssinn einige Wesensmerkmale. Er ist übernatürlich, das heißt keinesfalls mit empirisch feststellbaren Auffassungen der Gläubigen zu verwechseln. Er entsteht aus dem Glaubensgehorsam, in dem das Wort Gottes in der Lehre der Kirche in Ehrfurcht und Vertrauen aufgenommen wird. Er äußert sich im synchronen und diachronen Konsens und hält am einmal gegebenen Glauben fest, anstatt dessen kritisches Gegengewicht zu sein. Sein Subjekt ist die Kirche in ihrer Gesamtheit, nicht nur die Laien, einzelne Gläubige oder auch Gruppierungen oder Mehrheiten. Schließlich vertieft der Glaubenssinn die kirchliche Lehre, verändert sie aber nicht.

Ohne die Berücksichtigung dieser Charakteristika führt jeder Versuch, aus diesem Glaubenssinn eine Art Korrektiv zur geltenden Lehre zu machen, an der Auffassung des Zweiten Vatikanums vorbei. Der berühmte Münchener Kanonist Klaus Mörsdorf hat darum davor gewarnt, dass ein solches Verständnis „letzten Endes auf eine Spaltung der Kirche hinausläuft. Die Kirche wird nicht auf zwei Pfeiler gebaut, die zwar miteinander verbunden sind, aber dennoch auch voneinander abgehoben werden können.“

Nach alldem bleibt im Orientierungstext nur noch ein Rumpf von Lehramt. Seine Letztverbindlichkeit, seine Autorität und sein Anspruch auf Glaubensgehorsam werden wortreich abgeschwächt. Nicht Dämme gegen die verkehrte Fließrichtung darf es aufstellen, sondern soll sich selbst in diese Richtung mitreißen lassen. Was Wunder, dass bei solchen theologischen Grundlagen des Synodalen Weges auch die Einzeldokumente die gleiche Handschrift tragen: Verweltlichung statt Selbstevangelisierung.

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