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Wenn das System Täter sein soll

Theologie zwischen Schelmenstück und Trauerspiel: Der Synodale Weg macht mit „Sexualisierter Gewalt“ das System für Missbrauch verantwortlich.
Sexualisierte Gewalt
Foto: Patrick Pleul (dpa-Zentralbild) | Der Synodale Weg stellt Missbrauch in der Kirche unter den Begriff "Sexualisierte Gewalt".

Fünf Mal taucht im „Orientierungstext“ das Begriffspaar „Sexualisierte Gewalt“ auf. Nicht ohne Grund. Das semantische Ungetüm ist die geheime Achse, die den geforderten Strukturwandel der Kirche begründet. In einer pathetischen Ouvertüre wird der Exodus des versklavten Volkes Israel bemüht, um die „Zeichen der Zeit“ im „Aufschrei der Opfer sexualisierter Gewalt“ zu erkennen.

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Mehr Opfer

Nun scheint das Ungeheuerliche des kirchlichen Missbrauchs dem Recht zu geben. Allerdings wird die Schar der Opfer nicht unwesentlich erweitert. Die Autoren sprechen von den „Opfer(n) und Überlebenden sexualisierter und geistlicher Gewalt in der Kirche.“ Ein kühner Ausgriff, die „Überlebenden“ der sacra potestas in den gleichen Gifttopf zu tun wie die traumatisierten Opfer sexueller Übergriffe! In ebenso kühner Folgerung wird dem seltsamen Gemisch aus Gewalt, Sex und Spiritualität der identische dunkle Schoß zugeschrieben: „Sexualisierte Gewalt, sexueller und spiritueller Missbrauch sowie die Vertuschung dessen sind in unserer Kirche geschehen und haben systemische Ursachen.“

Warum ist hier nicht einfach die Rede von „sexueller Gewalt“? Warum muss die Attribuierung von Gewalt noch um das Suffix „-isiert“ ergänzt werden? Der Unterschied ist leicht zu begreifen: Bei „sexueller Gewalt“ wird Gewalt durch ihre Quelle näher bestimmt; sie entspringt einem triebhaften Begehren, das so krankhaft oder skrupellos ist, dass es gewalttätig wird und „vergewaltigt“. Bei „sexualisierter Gewalt“ ist es die Gewalt selbst, die in ihrem Dominanzverlangen und ihrer Herrschsucht so krankhaft oder skrupellos ist, dass sie Menschen durch Sexualität demütigt, erniedrigt, benutzt, verbraucht. In einem Fall bedienen sich Triebwünsche der Gewalt, im anderen Fall nimmt Machtstreben sexuelle Formen an.

Zweifellos gibt es beides

Zweifellos gibt es beides: „Sexualisierte Gewalt“ findet sich in Reinkultur im Sadismus, wo der Lustgewinn durch Quälen des Opfers auch in den Bereich des Sexuellen übergeht. „Sexualisierte Gewalt“ ist auch dann und dort gegeben, wo Kinder von kriminellen Tätern und Täternetzwerken benutzt und sexuell ausgebeutet werden, um beispielsweise Geld damit zu verdienen.
Der Missbrauch im Raum der Kirche hat eine andere, durch alle einschlägigen Untersuchungen (vom John Jay Report 2004 bis zur französischen Sauvé-Studie 2021) bestätigte Gestalt, die sich von der Typologie aller anderen Vergleichsgruppen abhebt.

Die Täter sind in aller Regel Männer (Sauvé: zu 95 Prozent), die Opfer zu 80 Prozent pubertierende oder postpubertäre Jungen. Beim Täterkreis ist also von gleichgeschlechtlicher Neigung auszugehen. Betroffenen muss man nicht erzählen, hier handle es sich um „sexualisierte Gewalt“. Man würde Empörung ernten. Den typisch „katholischen Missbrauch“ kennzeichnet eine doppelte Asymmetrie: die zwischen machtvollem Täter und ausgeliefertem Opfer und die zwischen dem älteren Mann und dem jüngeren, männlichen Schutzbefohlenen.

Ein Akt der Vergewaltigung unterbricht jäh eine Vertrauensbeziehung zum „Vater“ – sei es, dass die primäre Beziehung des Täters zum Opfer authentisch väterlich war und diesem bloß die Triebkontrolle entglitt, sei es, dass der Übergriff von Anfang an einem typisch gleichgeschlechtlichen Begehren nach dem jüngeren Partner entsprang. Seit M. Hirschfeld ist das mit dem Terminus „Ephebophilie“ belegt.

Befrachtet mit Ideologie

Ich kenne kein katholisches Missbrauchsopfer, das nicht diesen Durchbruch des Triebverlangens durch die Oberfläche der Nettigkeit beschreiben würde. Es geht also um Sex, den man gerne „pervers“ (nämlich ins Abnorme, Krankhafte abdriftende) nennen würde, hätte man diesen Begriff nicht vor einigen Jahrzehnten in die Tabuzone verbannt. Wie aber kommen die Verfasser des Orientierungstextes auf die absurde Idee, das Sexuelle am sexuellen Missbrauch zu verschleiern und hinter einer angeblich umfassenden Gewaltherrschaft von Klerikern zu verstecken?

Der sperrige Terminus technicus „Sexualisierte Gewalt“ fiel einer breiteren Öffentlichkeit erstmals bei der Aufarbeitung des Pädophilie-Skandals der Grünen auf. Er diente dazu, die konkrete, pathologisch- kriminelle Tat ins Allgemeine, Systemische zu entrücken. Die sexuelle Ausbeutung eines konkreten Kindes durfte sich nicht der „perversen“ oder „bösen“ Handlung eines Einzelnen verdanken, sondern musste vielmehr als Resultante einer „bösen“ Struktur erklärt werden. Das Böse durfte weder mit Sex zu tun haben – Sex ist immer gut –, noch mit einem konkreten Täter. Man musste es in der Kulisse linker Gewaltkritik unterbringen.

Erweiterung der Perspektive

Die Begriffsgeschichte der „sexualisierten Gewalt“ ist vielsagend. So schreibt Sozialwissenschaftler Torsten Linke im „Socialnet“-Lexikon: „Sexualisierte Gewalt soll als Begriff die Perspektivenerweiterung deutlich machen, dass Gewalt im Bereich des Sexuellen auch zur Durchsetzung von Machtansprüchen und zur Herstellung und Erhaltung eines Machtverhältnisses erfolgen kann, ohne dass zwingend eine sexuelle (Trieb-)Motivation der übergriffigen Personen(en) vorliegen muss.“ Wer dahinter marxistisch-feministisches Gedankengut vermutet, liegt gewiss nicht falsch. „Sexualisierte Gewalt“ lässt sich trefflich in die Dialektik des Geschlechterkampfes einbauen und gegen Männer ins Feld führen, wo es gewiss nicht um realen Sex, sondern etwa um die „strukturelle sexuelle Gewalt“ von DAX-Vorständen geht, die nicht zu 51 Prozent aus Frauen bestehen, letztlich um die identitätspolitische Überwindung des finalen Klassengegensatzes – den von Mann und Frau.

Womit wir bei der Kirche wären ...

... wo sich die Formel von der „sexualisierten Gewalt“ als geheime Achse des Synodalen Weges erweist. Wohlgemerkt wird der reale, konkrete Sex nicht näher betrachtet. Der ist in der Begrifflichkeit des Neuen Testaments – porneia, Unzucht – unter die „Werke der Finsternis“ zu rechnen, eine Tat, die vom Reich Gottes (1 Kor 6, 9) ausschließt.

Auf dem Synodalen Weg wird der Missbrauch so gummiartig gedehnt, dass er auf ungefähr alle Lebensäußerungen der sakramental-hierarchischen Kirche passt, insbesondere auf die Nichtordination von Frauen. Plötzlich sind nicht geschändete Messbuben, sondern Frauen die wahren Opfer der Kirche, niedergehalten von einer intransigenten männlichen Priesterkaste.
Bis hinein in biedere Frauenklöster tönt der Ruf „al arma“ und zum Klassenkampf gegen den strukturellen Sex einer letzten Männerbastion, um „... alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch (die Frau? Anmerkung des Autors) ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Karl Marx).

Die Kirche verändern

Die fatale Formel ist der willkommene Hebel einer fundamentalen Gewaltkritik an der Kirche. Nicht was sie sagt, sondern dass sie sagt, – nicht wie sie leitet, sondern dass sie leitet, ist Missbrauch. Die apostolische Top-down-Kirche soll ersetzt werden durch ein basisdemokratisches Autonomiekonzept, in dem der Einzelne ermächtigt wird so zu leben, wie er es für sich bestimmt. Die potestas der Kirche erscheint als eine Art von bösem Sex, den man seines Sakralcharakters entkleiden, in ein egalitäres Rätesystem integrieren und unter Kuratel eines „Obersten Sowjet“ (Kardinal Kasper) stellen muss.

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Christentum ist nun aber eine Offenbarungsreligion, die darauf basiert, dass der Mensch sich etwas sagen lässt, was er nicht aus sich heraus wissen kann. Es ist die Proklamation einer in Christus angebrochenen Gottesherrschaft, deren demütige Annahme zur Freiheit der Kinder Gottes befreit. Wie man Christus und die Kirche nicht miteinander verwechseln, aber auch nicht voneinander trennen darf, so darf die Vollmacht Jesu und die vollmächtige Verkündigung der Kirche nicht miteinander verwechselt, aber auch nicht voneinander getrennt werden: „Wer euch hört, der hört mich.“ (Lk 10, 16) Die Kirche, heißt es, sei herausgefordert, „den systemischen Missbrauch geistlicher Macht nicht zu verdrängen, sondern zu bekämpfen.“

Flugsand einer Ideologie

Besser, sie würde einladen, den systemischen Missbrauch mit dem Missbrauch aufzudecken und zu bekämpfen. Dieser Kampf wäre dann wohl ein Widerstand gegen die Willkür und Winkelzüge derer, die sich berufen fühlen, am Amt vorbei und gegen es Macht zu übernehmen und Deutungshoheit zu erlangen.

Das Axiom ihrer Rechtfertigung ist auf den Flugsand einer Ideologie gebaut. Damit ist kein Haus der Kirche zu errichten. Eines (nicht all zu fernen) Tages wird man von ihm sagen: „Die Flutwelle prallte dagegen und sofort stürzte es ein; und der Einsturz jenes Hauses war gewaltig.“ (Lk 6, 49)

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