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„Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Impfpflicht tot“

In einer an Besonderheiten und Kuriositäten reichen Debatte hat der Deutsche Bundestag heute mehr als eine Stunde lang in Erster Lesung über die Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht beraten.
Coronavirus - Novavax-Impfungen in Braunschweig
Foto: Moritz Frankenberg (dpa) | Eine Mitarbeiterin des Impfzentrums in der Stadthalle Braunschweig impft einen Mann mit dem Corona-Impfstoff Nuvaxovid des US-Herstellers Novavax. Seit heute wird in dem Impfzentrum mit Nuvaxovid gegen Corona geimpft.

Entscheiden müssen die Abgeordneten zwischen drei Gruppenanträge sowie je einem Gesetzentwurf der CDU/CSU- und der AfD-Fraktion. Damit stehen zur Lösung einer Sachfrage zum ersten Mal sowohl interfraktionell erarbeitete Gruppenanträge als auch von Fraktionen eingebrachte Gesetzentwürfe zur Wahl – ein echtes Kuriosum. Zu den Kuriositäten der Debatte zählte sicher auch, dass vier der sechs Mitglieder des Bundestagspräsidiums, obwohl doppelt geimpft und geboostert, sich wegen einer Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus in Isolation befanden, weshalb die beiden verbliebenen Bundestagsvizepräsidentinnen, Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) und Petra Pau (Die Linke), derzeit sämtliche Aussprachen im Wechsel leiten.

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Unter den SARS-CoV-2-Infizierten befindet sich auch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP), der zu den Initiatoren eines Gruppenantrags zählt, der eine gesetzliche Pflicht zur Impfung gegen COVID-19 ablehnt und stattdessen niederschwellige Impfangebote intensivieren will. Auf seiner Facebook-Seite schrieb Kubicki mit Blick auf die heutige Debatte, er habe „dankenswerterweise nur leichte Grippesymptome“, könne jedoch „isolationsbedingt nicht an der Sitzungswoche des Deutschen Bundestages teilnehmen“. Und weiter: „Ich bin geboostert und trotzdem infektiös. Das zeigt, dass die staatlich verordnete Pflicht zur Impfung völlig sinnlos ist.“ Es werde „endlich Zeit, dass wir und an den anderen europäischen Staaten orientieren und aus dem Panikmodus wieder herauskommen“.

Lauterbach: „Die Ungeimpften tragen die Verantwortung dafür, dass wir nicht weiterkommen“

Doch genau daran schienen vor allem die Verfechter einer allgemeinen Impfpflicht ab 18 kein Interesse zu haben. Zu den prominentesten zählten heute Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Vizekanzler Robert Habeck (Bündnis 90 /Die Grünen). Letzterer erklärte, mit freiwilligen Impfungen lasse sich „Grundschutz in der Gesellschaft“ nicht erreichen. „Die Freiheitsinterpretation der Wenigen“ dürfe nicht zur „permanenten Freiheitseinschränkung der Vielen führen.“ „Die Menschen in diesem Land“ hätten das satt. „Bringen wir diese Pandemie endlich hinter uns, erledigen wir das Virus und kehren wir dann zur Freiheit zurück“, so Habeck.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ging noch weiter und warnte vor möglichen neuen Varianten im Herbst, die „tiefer in die Lunge eindringen“ könnten. Er verwies auf eine Ausarbeitung des Virologen Christian Drosten. „Die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine dieser Varianten sehen, geht an fast hundert Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir im Herbst keine Schwierigkeiten haben, die Corona-Pandemie zu bekämpfen, liegt bei fast null Prozent“, so Lauterbach, der auch eindeutige Schuldzuweisungen vornahm: „Die Ungeimpften tragen derzeit die Verantwortung dafür, dass wir nicht weiterkommen.“ Ohne eine allgemeine Impfpflicht würde „erneut das ganze Land in der Geiselhaft dieser Gruppe von Menschen sein. Das können wir uns nicht mehr leisten.“

Bovenschulte warnt vor Überlastung des Gesundheitssystems

Unterstützung erfuhren die Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht auch durch Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD). Der warb – eine seltene Besonderheit – in der Debatte des Bundestags, stellvertretend für die Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer, für eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahre. „Die meisten, die sich bisher nicht haben impfen lassen, werden diesen Schritt ohne eine gesetzliche Impfpflicht auch künftig nicht gehen“, so Bovenschulte. Das hinzunehmen, wäre „unklug“. „Denn die meisten dieser Menschen werden sich über kurz oder lang infizieren.“ Das könnte zu einer Überlastung des Gesundheitssystems führen und neue Corona-Schutzmaßnahmen und Belastungen für Wirtschaft und die Bevölkerung erforderlich machen.

Nicht wenige Beobachter werten das Auffahren solcher Geschütze als deutliches Anzeichen dafür, dass die Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht bisher keine Mehrheit für ihr Vorhaben besitzen. Ins Wort hob das der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Unionsfraktion, Sepp Müller, der darauf hin, dass es derzeit keine Mehrheit im Bundestag für eine Impflicht gebe. „Zum jetztigen Zeitpunkt ist die Impfplicht tot“, so Müller.

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Krings: Impfpflicht „nicht verhältnismäßig“

Union und AfD lehnen die Einführung einer gesetzlichen Impfplicht fast geschlossen ab. Der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundesfraktion, Günther Krings, erklärte, eine „allgemeine Impfpflicht“, wie sie von Teilen der Ampelkoalition präferiert werde, sei verfassungsrechtlich nicht haltbar. Krings warf ihren Befürwortern vor, sich in einem „Paralleluniversum“ zu bewegen. „Wie passt das zusammen, wenn die Ampel die Schutzmaßnahmen schleift, und eine Mehrheit in der Ampel, eine allgemeine Impfpflicht einführen will?“, fragte der CDU-Abgeordnete. Da eine Impfpflicht für die aktuelle Omikron-Welle zu spät komme, könne sich eine jetzt beschlossene allgemeine Impfpflicht nur auf Impfstoffe beziehen „deren Wirkung auf zukünftige Varianten“ unbekannt sei. Damit sei eine allgemeine Impfpflicht aber auch „nicht verhältnismäßig“, wie die vom Verfassungsrecht gefordert werden. „Was wir jetzt brauchen, ist also nicht eine Impfpflicht auf Vorrat, sondern ein Vorsorgegesetz“, so Krings. Auch zeigten die Probleme mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht und dem Zurückrudern in Österreich, dass es nicht reiche, eine Impfpflicht anzuordnen.

Weidel: „Sie reiten ein totes Pferd“

Die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel erklärte, eine Überlastung des Gesundheitssystems habe nie gedroht und drohe auch in Zukunft nicht. „Es gibt keine legitime und verfassungsrechtlich zulässige Rechtfertigung für die Einführung einer Impfpflicht“, so Weidel. „Sie reiten ein totes Pferd, bitte steigen Sie ab.“

Im Anschluss an die Debatte wurden die Gruppenanträge und Gesetzesentwürfe zur weiteren Beratung an die Ausschüsse überwiesen. Anschließend müssen sie dann im Bundestag erneut debattiert, und eine Entscheidung getroffen werden. Bleibt es bei dem vereinbarten Zeitplan, kommt es in drei Wochen zum „shot-down“.

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