Wird unter der Berliner Reichstagskuppel einmal der Fraktionszwang aufgehoben, ist die Rede von einer „Sternstunde des Parlaments“ für gewöhnlich nicht allzu weit. Doch anders als bei der Orientierungsdebatte im April des vergangenen Jahres zur gesetzlichen Neuregelung der Beihilfe zum Suizid verdiente das, was die Volksvertreter diesmal ablieferten, ein solches Prädikat nicht. Dabei hatte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) bei der Eröffnung der Debatte durchaus einen Ton angeschlagen, der mehr erhoffen ließ: „Eine Impfpflicht wirft fachlich schwierige und rechtlich wie ethisch kontroverse Fragen auf. Sie zwingt uns zu komplexen Abwägungen. Heute tauschen wir uns darüber aus, was für eine allgemein verpflichtende Impfung spricht – und was dagegen. Wir hören Vorschläge, Bedenken, Einwände und sortieren Optionen. Ergebnisoffen, über Fraktionsgrenzen hinweg. Bedenken wir dabei, dass die Menschen in diesen angespannten Zeiten von uns vor allem Orientierung erwarten. Deshalb wünsche ich mir eine faire, respektvolle und konstruktive Debatte.“
Unionsabgeordnete folgten der Regie
Dass daraus über sehr weite Strecken der fast vier Stunden dauernden Debatte nichts wurde, lag daran, dass die Fraktionsführungen offensichtlich andere Pläne hatten. Während die Union versuchte, Bundeskanzler Olaf Scholz als führungsschwach darzustellen, demonstrierten SPD und Bündnis 90/Die Grünen Geschlossenheit. Und so warben die von ihnen ins Rennen geschickten Parlamentarier denn auch ganz überwiegend für die von Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach favorisierte allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahre. Die Abgeordneten der Union folgten derweil – mit Ausnahme des CDU-Gesundheitspolitikers Erwin Rüddel – den Regieanweisungen ihrer Fraktionsführung und wiederholten gebetsmühlenartig und nur mäßig variiert vor allem zwei Vorwürfe: Da die Regierung keinen eigenen Gesetzentwurf vorlege, „verweigere“ sie „die Arbeit“. Zudem habe sie eine „Kleine Anfrage“ der Unionsfraktion erst nach „vier Wochen“ und dann auch nur unzureichend beantwortet. „Auf viele Fragen gibt es schlicht gar keine Antworten“, echauffierte sich etwa die CSU-Abgeordnete Andrea Lindholz.
Natürlich darf die Opposition den Kanzler und die von ihm geführte Regierung angreifen und versuchen, sie in die Enge zu treiben und Widersprüche aufzeigen. Und so wiesen einige Abgeordnete völlig zu Recht darauf hin, dass die Ampelregierung die Einführung der bereichsbezogenen Impfpflicht, die ab dem 15. März greifen soll, keineswegs für eine Gewissenfrage hielt, sondern mit der ihnen vom Volk verliehenen Mehrheit einfach beschloss. Beschränkt sich die Opposition jedoch auf das Ventilieren von Vorwürfen derart, wie die Union dies an diesem Nachmittag tat, dann wird eine zu einem anderen Zweck geführte Debatte im Ergebnis gekapert und parteipolitischen Opportunitätsgedanken geopfert. Auch deshalb erreichte die Orientierungsdebatte über eine allgemeine Impflicht gegen COVID-19 nur selten einmal jene gravitas, die dem ernsten Regelungsgegenstand angemessen gewesen wäre. Ähnlich vergeblich hätte man an diesem Nachmittag auch versuchen können, in einer Versammlung von Brunnenfröschen über das artgerechte Verhalten in fließenden Gewässern zu diskutieren.
Debatte mit Teilwahrheiten
Auffällig war auch, mit welcher Unbekümmertheit nicht wenige Abgeordnete Teilwahrheiten als ganze verkündeten und unliebsame Aspekte einfach ausklammerten. So erklärte beispielsweise die Grünen-Abgeordnete Kirsten Kappert-Gonther, eine promovierte Ärztin, frank und frei: „Impfen ist der Weg aus der Pandemie“, sondern spekulierte auch: „Wäre die Impfkampagne motivierender, aufsuchender gewesen – wie im schönen Bundesland Bremen – dann müssten wir diese Debatte möglicherweise nicht führen.“
Richtig ist, dass der Stadtstaat im bundesweiten Vergleich mit rund 87 Prozent vollständig Geimpften die mit Abstand höchste Impfquote aufweist. Richtig ist aber auch, dass Bremen, wo derzeit die Corona-Warnstufe 4 gilt, im bundesweiten Vergleich zugleich die mit Abstand höchste Hospitalisierungsrate aufweist. Das wiederum ist kein Beleg dafür, dass eine Impfung gegen COVID-19, wie der inzwischen fraktionslose und frühere AfD-Abgeordnete Johannes Huber fälschlicherweise argwöhnte, nicht gegen einen schweren Verlauf zu schützen vermag (auch in Bremen sind erst rund 58 Prozent geboostert). Wohl aber zeigt die Lage in Bremen, ähnlich wie die in vielen anderen Ländern Europas, die eine deutlich höhere Impfquote aufweisen als Deutschland, dass eine Impfung gegen ein derart mutationsfreudiges Virus wie SARS-CoV-2 eben keineswegs „der“ und schon gar nicht der alleinige „Weg aus der Pandemie“ sein kann.
Keine „sterile Immunität“
Das unbestreitbare und längst hinreichend belegte Faktum, dass sich auch vollständig Geimpfte und selbst Geboosterte mit dem Virus infizieren und eine Virenlast empfangen können, die sie für andere infektiös macht, gehörte von Anfang zur Wahrheit. Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (STIKO), Thomas Mertens, hatte schon während des Zulassungsverfahrens bei der EMA darauf hingewiesen, dass keiner der COVID-19-Impfstoffe eine „sterile Immunität“ gewähre. Im Deutschen Bundestag ist diese Tatsache jedoch, ebenso wie in weiten Teilen der Bevölkerung, die zwei Jahre lang im falschen Glauben erzogen wurde, wer sich impfen lasse, für den sei die Pandemie vorbei, immer noch kein Allgemeingut. Dabei hält auch das Robert-Koch-Institut (RKI) auf seiner Internetseite inzwischen fest: „Wie hoch das Transmissionsrisiko unter Omikron ist, kann derzeit noch nicht bestimmt werden. Es muss jedoch davon ausgegangen werden, dass Menschen nach Kontakt mit SARS-CoV-2 trotz Impfung PCR-positiv werden und dabei auch Viren ausscheiden und infektiös sind.“
Aufgabe des Staates
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki, geimpft und geboostert, erklärte in seiner Rede, die einen der wenigen Höhepunkte dieser Debatte markierte, denn auch: „Es ist häufig zu hören, dass eine Impfung vernünftig ist und deshalb die staatliche Verpflichtung ein Gebot der gesellschaftlichen Notwendigkeit sei. Ich teile ausdrücklich die Auffassung, dass eine Impfung vernünftig ist. Trotzdem halte ich die Idee, der Staat lege für alle Bürgerinnen und Bürger fest, was vernünftig ist, zumindest für problematisch. Die individuellen Gründe, sich nicht impfen zu lassen, können vielfältig sein. Wir machen es uns viel zu einfach, wenn wir erklären, hauptsächlich Corona-Leugner und Rechtsradikale entschieden sich gegen die Impfung. Das ist mitnichten so. Wir müssen respektieren, dass es durchaus bedenkenswerte psychologische oder religiöse Gründe gibt, eine Impfung abzulehnen, weil Fremdschutz durch eine Impfung kaum mehr gegeben ist. Auch deshalb fällt es mir schwer, bei der Impfung von einem Akt der Solidarität zu sprechen, wie es viele tun. Weil die Impfung keine sterile Immunität liefert, dient sie zuallererst dem Selbstschutz. Wir tun gut daran, die Impfung nicht durch eine moralische Aufladung zu einer Solidaritätspflicht zu machen, denn damit würden wir sie zwangsläufig politisieren und Menschen, die persönliche Gründe gegen eine Impfung anführen können, stigmatisieren und zu Parias der Gesellschaft machen.“
Und weiter: „Im Kern geht es deshalb heute auch um den Minderheitenschutz, der durch eine Impfpflicht berührt wird. Ich möchte jedenfalls nicht, dass die Mehrheit für die Minderheit festlegt, was man als vernünftig anzusehen hat und was man nach Mehrheitsmeinung tun muss, um solidarisch zu sein. Denn wenn die Minderheit von der Mehrheit in grundrechtssensiblen Fragen unter Rückgriff auf eine höhere Moral einfach überstimmt wird, dann können wir nur hoffen, dass wir nie in die Verlegenheit kommen werden, Teil einer Minderheit zu sein.“
Kassandra Lauterbach
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hielt das nicht davon ab, erneut die Kassandra zu geben. Man müsse „Varianten erwarten“, die „sowohl die Escape-Mutationen der Omikron-Variante, wie auch die Fitnessvariantenanteile der Delta-Variante enthalten, so dass wir sozusagen die Ansteckung der Omikron-Variante und den schweren Verlauf der Delta-Variante erleben könnten.“ Wolle man dies „im Herbst sicher vermeiden“, dann sei „der einzige Weg eine Impfpflicht, mit der wir uns alle gegenseitig schützen“.
Zu einer Orientierung ermöglichenden Debatte hätte gehört, dass der Bundesgesundheitsminister seine Einschätzung an ihren Anfang statt an ihr Ende gestellt hätte. Dann hätte sie debattiert werden können. Zu fragen wäre etwa, woher Lauterbach eigentlich weiß, dass im Herbst ein angepasster Impfstoff in erforderlichem Umfang zur Verfügung steht, der nicht nur verträglich ist, sondern auch zuverlässig gegen eine Variante wirkt, die niemand kennen kann?
Vertrauen geht verloren
Zögerliches Handeln der Regierenden in der Krise kann dazu führen, dass die Regierten das Vertrauen verlieren. Daher sollte man Politikern nicht vorwerfen, wenn sie bemüht sind, Entschlossenheit zu demonstrieren. Aber wenn offensichtlich ist, dass die Lage unübersichtlich und die künftige Entwicklung völlig ungewiss ist, kostet auch die Demonstration von Entschlossenheit Vertrauen, wirkt bestenfalls lächerlich und vermittelt schlimmstenfalls den Eindruck von Ignoranz und Willkür.
„Bei einem so ernsten, schwierigen Thema wie einer allgemeinen Impfpflicht gegen Corona“ dürfe es „nicht um die Gesichtswahrung von Politikerinnen und Politikern im Hinblick auf Versprechen oder Ankündigungen“ gehen, forderte die FDP-Abgeordnete Linda Teuteberg am Ende einer exzellenten Rede. Stattdessen müsse es um etwas „Grundsätzlicheres“ gehen. Nämlich um die „Wahrung des Gesichts unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung“. Wenn die Debatte eines gezeigt hat, dann, dass der Bundestag hier noch Luft nach oben hat.
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