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War der Krieg in der Ukraine vorhersehbar? Prophetische Stimmen

War der Krieg in der Ukraine vorhersehbar? Wie ein Streifzug durch die Literaturgeschichte zeigt, hatten Dichter oft ein richtiges Gespür.
Theater in  Mariupol
Foto: Imago/Ilya Pitalev | Was vom Theater in Mariupol übrigblieb: Schriftsteller und Künstler beschrieben oft Szenarien denen die Realität später erschreckend nahe kommt.

Diese Sätze könnten gestern geschrieben worden sein: „Das eingängigste Manifest sind die Fleischstücke, die / man morgens auf den Märkten auslegt wie Zeitungen. / Die überzeugendsten Reime sind die gleichmäßigen und / dumpfen / Maschinengewehrsalven, mit denen man / verletzte Tiere tötet. / Alle waren gewarnt. / Alle kannten das Vertragswerk. / Alle wussten, der Preis würde unglaublich hoch sein. / Sagt ruhig, es ist euch zu viel Politik. / Redet von den sonnigen Horizonten.“ Obwohl hier die Rede vom Schlachtgut ist, weiß natürlich jeder, dass Menschen gemeint sind, Menschen, denen der Krieg Leben und Würde genommen hat.

„Dieses so faszinierende wie erschreckende Beispiel einer visionären Kunst des Schreibens
zeigt einmal wieder, dass an dem Mythos vom prophetischen Dichter
durchaus etwas dran sein muss“

Diese traurige Erkenntnis mag nicht neu sein. Besonders auffällig mutet bei diesen Versen eher der Hinweis an, dass alle es hätten wissen müssen. Und zwar nicht retrospektiv – dann sind ja bekanntlich immer alle schlauer –, sondern seit den Maidan-Protesten und der Krim-Annexion. Zumindest dem ukrainischen Autor Serhij Zhadan, 1974 bei Luhansk geboren, war die Zukunft offensichtlich bewusst. Denn die Lyrik seines just erschienenen Bandes „Antenne“ entstand schon in den vergangenen Jahren.

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Dieses so faszinierende wie erschreckende Beispiel einer visionären Kunst des Schreibens zeigt einmal wieder, dass an dem Mythos vom prophetischen Dichter durchaus etwas dran sein muss. Wie gut ginge es der Menschheit wohl heute, hätte sie stets die Menetekel der Schriftsteller beachtet und ernst genommen? Dass sie oftmals zutrafen, belegt die Geschichte. Und die findet ihren Anfang in einem, der eigentlich erblindet ist, nämlich Theiresias. Seit Homer findet er sich in Texten der Antike wider. In verschiedenen Kostellationen in der Thebanischen Trilogie des Sophokles sagt er letztlich verrätselt den Fluch der Labdakiden voraus, der Kreon, Ödipus und weitere zu Fall bringen wird. Zwar mögen die Geschichten um den nicht sehenden Seher doch vor allem Mythos und damit fiktiv sein. Aber damit war auch ein Archetypus geboren.

Das Ideal der Völkergemeinschaft

Sein Nachleben schlägt sich in positiven wie negativen Vorhersagungen nieder. Bei ersteren lassen sich natürlich all die Utopisten unter den Romanciers anführen. So etwa Tommaso Campanella mit seiner „Sonnenstadt“ (1602), Johann Karl Wezel mit seinem „Robinson Krusoe“ (1780) Thomas Morus mit seinem kanonischen Werk „Utopia“ (1516). Allesamt haben sie mal mit mehr, mal mit weniger Irrtümern Urbilder demokratischer Gesellschaft entwickelt. Lange bevor man noch überhaupt an einen Staatenbund nach dem Modell der Europäischen Union denken konnte, schwärmte schon Friedrich Schiller in seiner inzwischen zur Europahymne avancierten „Ode an die Freude“ (1786), dass alle Menschen sich zu einer weltumspannenden Gemeinschaft zusammenfinden würden: „Seid umschlungen Millionen! / Diesen Kuß der ganzen Welt! / Brüder – überm Sternenzelt / muß ein lieber Vater wohnen.“ Davon sind wir noch weit entfernt, erst recht im Schatten des Krieges. Die Solidarisierung in supranationalen Institutionengefüge wie der UNO gehen allerdings deutlich aus diesem Geist hervor.

Doch bevor dieses Glück unseren Kontinent, anfangs noch unter dem Label der „Montanunion“ oder der Europäischen Gemeinschaft firmierend, bereichern sollte, hatten andere Dichter das rechte Gespür im buchstäblichen Sinne. Bereits in Heinrich Heines zwischen romantischer Sehnsucht und galliger Politsatire mäanderndem Langgedicht „Deutschland. Ein Wintermärchen“ (1844) lassen sich zahlreiche Anspielungen auf den gewaltsamen Nationalismus des 20. Jahrhunderts finden. „Fatal ist mir das Lumpenpack“, schimpft sein reisendes Ich, „das um die Herzen zu rührend, / Den Patriotismus trägt zur Schau / Mit allen seinen Geschwüren.“

Wenn Texte nachträglich zu Warnungen destilliert werden

Noch deutlicher fällt die Passage zwischen dem Textsubjekt und einer Göttin aus, die von der „Zukunft deines Vaterlands“ künden wird. Ansichtig wird es ihrer in einem sogenannten „Zauberkessel“, der nichts anderes als eine euphemistische Umschreibung für das Klosett bedeutet. Ähnlich vorausschauend fallen gewiss viele Werke um und nach 1900 aus. Man denke nur an Franz Kafkas Romanporträt eines kruden Unrechtsstaates „Der Prozess“ (1925), der nicht nur als Weissagung der späteren Nazi-Herrschaft, sondern wohl auch der Wirren einer arbeitsteiligen, kapitalistischen Gesellschaft der Moderne verstanden werden kann.

Dass Literatur schon oft als Spiegel für ein noch nebulöses Morgen diente, ist übrigens auch seit einiger Zeit in den Fokus der Wissenschaft gerückt. Allen voran das Cassandra-Projekt des Tübinger Germanisten Jürgen Wertheimer hat es sich erfolgreich zur Aufgabe gemacht, aus fiktionalen Texten letztlich Warnungen und Ratschläge für Politik und Gesellschaft herauszudestillieren. Wie der Forscher und emeritierte Professor für Literaturwissenschaft schon in mehreren Interviews schilderte, hätte man bei sorgfältiger öffentlicher Beachtung dieser Ergebnisse so manche Fehlentwicklung etwa in Afghanistan eventuell verhindern können.

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Nicht alles wird wahr

Nicht jede Vorhersage der Literatur hat sich übrigens erfüllt. Die Realisierung mancher Fantasien steht noch aus und scheint wenig an Gültigkeit verloren zu haben. Diese Analyse ergibt sich aus einem Blick auf die Kurzprosa der modernen Autorin Hermynia Zur Mühlen. Nicht selten gibt es in ihren vom Revolutionsgeist des Proletariertums geprägten Schriften ein gutes Ende, eines, das nicht Literatur bleiben, sondern immer die Welt verändern will: „Volk, erhebe dich und erkämpfe dein Recht! […], bis auf Erden Gerechtigkeit herrscht und kein Mensch einen anderen […] unterdrückt“, ruft der Muezzin in der gleichnamigen Erzählung von 1927 den Menschen zu. Gegen die Willkür des Potentaten werden sie aufbegehren.

Denn die zerstörerische Dimension von Repression und ökonomischer Ausbeutung stellen für Hermynia Zur Mühlen keine Ansichtssache dar. Zu ihrer erfrischenden Radikalität gehört vielmehr die feste Überzeugung, dass die Relativierung von Armut und eklatanter Ungleichheit einer Lüge gleichkommt. Am bildgewaltigsten mutet daher auch ihr Text „Das Schloß der Wahrheit“ (1924) an. Hell leuchtend auf einem Felsen vermittelt es allen die unbegründete Diskrepanz zwischen dem Leben der Verlierer und jenem der Wohlhabenden.

Der kindliche Duktus dient einer pädagogischen Mission

Obwohl letztere mit aller Macht das Monument abzureißen versuchen, wirkt es als überzeitliches Mahnmal: „Das ist das Schloß der Wahrheit, das unzerstörbare, ewige Schloß, das auch dann noch stehen wird, wenn die Herrlichkeit und Macht der Reichen zu Ende ist.“ Zur Mühlens kindlich-naiver Sprachduktus steht im Zeichen einer reizvollen Ambivalenz: einerseits entführt er uns in einen Kosmos, wo Dinge und Tiere sprechen und festgefahrene Verhältnisse durch Magie aufgebrochen werden, andererseits dient er einer klar volkspädagogischen Mission, nämlich die Menschen mehr oder weniger metaphorisch über den bedenklichen Zustand der Wirklichkeit aufzuklären und die Leserschaft gleich zu Mit-Utopisten zu ernennen. Sie können fort- und weiterdenken, was im Text angelegt ist.

Intuitiv mag den meisten in diesen Tagen die Lust am Lesen abhanden gekommen sein. Mehr noch: Während im Osten Europas die Demokratie mit Waffen und dem Einsatz von Leben verteidigt wird, erscheint vielen die gepflegte Lektüre auf dem Sofa dekadent. Doch solcherlei Gefühle basieren auf einem Trugschluss. Gerade jetzt könnte im Lichte der historischen Betrachtungen der prophetischen Stimmen in der Literatur die Zeit für deren wachsames Studium gekommen sein. Und zwar gänzlich ohne Eskapismus. Denn sie kann dabei helfen, dass uns die Zukunft nicht abhanden kommt, bevor wir sie gelebt haben werden.

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