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Luther und das dialektische Verhängnis der Neuzeit

Das traditionelle katholische Bild von Luther, das dessen destruktive Seiten hervorkehrte, ist längst konsensökumenischen Erfordernissen gewichen. Doch die neue Sicht unterschlägt Luthers folgenreiche Rezeption. Ein Debattenbeitrag. Von Felix Dirsch
Sonderausstellung "Ketzer, Spalter, Glaubenslehrer"
Foto: dpa | „Ketzer, Spalter, Glaubenslehrer – Luther aus katholischer Sicht“ – Eine Sonderausstellung im Lutherhaus in Eisenach widmet sich noch bis zum 5.

Martin Luther gilt gemeinhin als Mann des Übergangs. Dementsprechend groß ist die Zahl völlig unterschiedlicher, ja, gegensätzlicher Bewertungen. Heute überwiegt weithin die Sicht vom reaktionären Luther, der schlecht zur Neuzeit passt, obwohl er andererseits häufig als einer der Initiationsfiguren dieser Epoche betrachtet wird. Der Jubiläumsrummel, der Ende Oktober zum 500. Jahrestag des angeblichen Thesenanschlages seinen Höhepunkt erreichen dürfte, ist der EKD stark entgegengekommen. Denn der organisierte Protestantismus weiß mit der Gründergestalt wenig anzufangen. Zum Vorläufer einer rot-grün eingefärbten Moralagenda taugt sie nicht. Protagonisten des bis heute einflussreichen Kulturprotestantismus, etwa Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch, machten früh auf die mangelnde Modernekompatibilität des Bibelübersetzers aufmerksam. Besonders seine Einstellung zu Aberglauben, Hexenwesen und Judentum, seine Interpretation der Gnadenlehre, aber auch sein die Heutigen befremdendes Gottes- und Menschenbild sind seit jeher für viele ein Stein des Anstoßes.

Bis in die unmittelbare Gegenwart reichen die Diskussionen. Der bekannte Theologieprofessor Klaus Berger hat dazu unlängst eine viel beachtete Stellungnahme mit pointierten Grundaussagen geliefert (DT vom 22.07.2017). Heute wäre Luther, so die These des Exegeten, ein Piusbruder. Eine lesenswerte Replik verfasste kürzlich der Bonner Latinist Heinz-Lothar Barth in der Kirchlichen Umschau (KU vom September 2017). Er wies den Beitrag des umtriebigen Gelehrten als „eigenwillig“ zurück und führte viele Beispiele an, die den angeblich „stockkonservativen“ Luther dezidiert hinterfragen. Dass es sich bei Luthers Wirken um ein „Zerstörungswerk“ handelt, steht für Barth außer Frage. Die Ablehnung der sakramentalen Priesterweihe ist nur eines von vielen Beispielen.

Das traditionelle katholische Luther-Bild deutete manches an ihm als destruktiven Traditionsbruch. Dazu zählt des Reformators Insistieren auf das freie Gewissen, das er über die Glaubenslehre stellte. In diesem Kontext ist auch auf den Reichstag zu Worms zu verweisen und auf Luthers Weigerung, sich der kirchlichen Lehre unterzuordnen („Hier stehe ich …“). Traditionsorientierte Kirchenhistoriker wie Hartmann Grisar oder Heinrich S. Denifle zeichneten das Bild vom glaubensspalterischen Häretiker, der seine Bedürfnisse wichtiger nahm als die heilsstiftende Wahrheit.

Luthers Ausfälle gegenüber traditionellem Glaubensdenken sind zahllos. Exemplarisch ist sein antischolastischer Eifer zu erwähnen. Es blieb dem Indologen Paul Hacker, einem Freund Joseph Ratzingers, vorbehalten („Das Ich im Glauben bei Martin Luther“), die Ursprünge einer neuen, anthropozentrischen Religion herauszustellen. Diese Wende mag im individualistischen Zeitalter attraktiv erscheinen, birgt jedoch etliche Schattenseiten.

Die dialektische Widersprüchlichkeit in Luthers Denken ist ein zentrales Charakteristikum seiner Biografie. Von hier führt die geistesgeschichtliche Tradition weiter zu Hegel, Darwin, Marx und schließlich zum Neomarxismus. Sind linkstotalitäre Mächte in der Welt, braucht es nicht lange, bis das rechtstotalitäre Pendant auf der welthistorischen Bildfläche erscheint, ist dieses doch teilweise als eine äußerst gewalttätige Reaktion auf den umwälzenden Vorläufer zu deuten.

Ein grundlegender Ausgangspunkt Luthers ist die Bestreitung der menschlichen Willensfreiheit. Diese Negation machte es fast notwendig, das Böse in Gott zu verlegen. Dieser ist somit nicht mehr der einfache, ganze; vielmehr ist er in Teile gespalten, die aber wieder die Einheit suchen. Hegel setzte mit seiner Dialektik (von der „Negation der Negation zur Position“) daran an. Über die Gründe für Luthers Leugnung der Willensfreiheit kann man nur spekulieren. Möglicherweise wollte sich Luther exkulpieren. In zeitgenössischen Briefen ist die Rede von der Tötung eines Menschen im Rahmen eines Duells, was auch den Klostereintritt plausibilisiert, konnte Luther doch so der Todesstrafe entgehen. „Der fröhliche Wechsel“, den vor Jahrzehnten der katholische Lutherforscher Prälat Theobald Beer in einer umfangreichen Monografie untersucht hat, bedeutet die Übertragung der Sünde auf Gott. Christus wird durch diese Verschiebung der „einzige Sünder“. Die Sünde bleibt demnach, Christus verzehrt den Widerspruch in sich. Die Erlösung im Sinne der katholischen Lehre kann vor dem Hintergrund solcher Annahmen nicht gelingen. Folgenreich ist die Neubewertung des Todes: Für Luther gibt es keine Erlösung vom Tod, sondern der Mensch ist sterbliches Material. Hier wird die Verbindung zu Hegel und Darwin deutlich, für die aus dem Tod Höheres entsteht. Aus den kontradiktorischen Widersprüchen, etwa von Sünde und Gnade, gehen Gegensatzeinheiten hervor, etwa Sein und Nichts, Leben und Tod, deren Einigung ausgeschlossen ist. Luthers Kampf mit, um und gegen Gott prägt die Geistesentwicklung der Neuzeit bis heute.

Von Luther führt der Weg zu Hegel. Die Philosophin Alma von Stockhausen hat in ihrer Studie „Der Geist im Widerspruch“ diesen Bogen wohl am brillantesten geschlagen. Er ist deshalb relativ unstrittig, weil Hegel seine Verwurzelung als Lutheraner immer wieder betont hat. Dass er die evangelische Kirche im Staat aufgehen ließ, wird niemanden verwundern, stärkte doch bereits die Reformation das Staatskirchentum erheblich.

Hegel setzt nun bei der Tatsache des Bösen in Gott an. Der Philosoph will diesen Selbstwiderspruch in Gott dadurch rationalisieren, dass er ihn als „Ausdruck der notwendigen Selbstentgegensetzung jenes absoluten Geistes begreift, zu dessen Wesen die Selbstreflexion … gehört“ (von Stockhausen). Die Verneinung gehört somit in Hegels Sicht konstitutiv zum Sein. Auch bei Hegel wird Gott nicht Mensch, um die menschliche Schuld im Fleisch zu sühnen. Gott wird bei ihm in der menschlichen Natur böse. Die – ambivalent zu beurteilende – Leistung Hegels besteht nun darin, dass er den existenziellen lutherischen Akt wider Gott zu Gott philosophisch durchdenkt. Menschliche Akte von Glauben und Wissen werden Momente des göttlichen Widerspruches. Unser Denken ist Teil göttlichen Selbstbewusstseins! Hier erkennt man unschwer die Verschlungenheit des Göttlichen mit dem Menschlichen. Diese Verbindung findet sich in sehr unterschiedlicher Weise bei Luther und Hegel. Die „Magie der qualitativen Umschläge“ (Gustav Siewerth) wird an die Stelle der Selbstentäußerung der Gnade gesetzt. Dass die Aussagen des christlichen Credos dadurch maßgeblich berührt werden, steht außer Frage. Eine freie Entäußerung der Liebe Gottes, die den sündhaften Menschen rettet, wird bei einem solchen Ansatz geleugnet.

Die Hegel'schen Entwicklungsgesetze nahm nicht nur Marx auf, sondern auch Darwin. Letzterer führte den Materialismus auf biologischem Gebiet ein, analog zu Marx' Wende auf dem sozialen Sektor. Beide postulierten die Durchsetzung des Stärkeren. Schon vor der Publikation des späteren Kultbuches über den Ursprung der Arten erörterte Herbert Spencer das Selektionsprinzip auf dem Sektor des Sozialen. Darwin erforschte Auswahlkriterien in naturalistischen Zusammenhängen. „Gott“, der bei Hegel zur Äußerung noch der Krücke von Mensch und Natur bedurfte – Gott kommt zu sich sowohl in der Natur als auch im Menschen –, fällt bei Marx und Darwin vollständig weg. Bei Marx stellt der Mensch sich selbst her, bei Darwin hingegen funktioniert die Natur selbstorganisierend. Der Tod ist nicht mehr „Sold der Sünde“; in der Sicht des Evolutionstheoretikers ist er vielmehr „Prinzip der selektiven Höherentwicklung“ (von Stockhausen). Der Tod wirkt erlösend. Diese Perspektive ist auch in der katholischen Theologie zu spüren, insbesondere bei Karl Rahner. Seine Vorstellung vom Tod ist folglich von der herkömmlichen katholischen Auffassung nicht unerheblich abgewichen.

Angesichts des bevorstehenden Reigens der 68er-Gedenktage sind als späte, wenn auch kritische Erben von Hegel und Marx die Vertreter der Frankfurter Schule zu erwähnen. Deren Oberhäupter, insbesondere Theodor W. Adorno, wenden sich gegen das Prinzip der „Negation der Negation als Position“. Sie sehen die Verlagerung des Bösen in Gott bei Luther, das für spätere „dialektische Phantasien“ (Martin Jay) die Voraussetzung darstellt, kritisch. Vor dem Hintergrund der Genozide des letzten Jahrhunderts erscheint es als grotesk, in der Weltgeschichte die Vernunft walten zu sehen, wie Hegel das tut. Jedoch will Adorno das Denken durch das Denken überwinden. Dieser Ausweg erscheint mehr als problematisch. Die Vernunft soll im Trieb erlöschen. Auf diese Weise wird die Sexualisierung der Gesellschaft legitimiert.

Als seinen „stetigen Wegbegleiter“ sieht Martin Heidegger Luther, der den Gigantenkampf von Gut und Böse vorausgedacht habe, während der genuine Gott Platons und des Christentums nur das Gute verkörpere. Dieser steht also nicht für den „letzten Gott“ Heideggers und Hölderlins. Zeitweise genießt für Heidegger der Nationalsozialismus Kombattantenstatus in dieser Schlacht.

Gewiss lassen sich die ideologischen Übel des 20. Jahrhunderts nicht nur aus geistesgeschichtlichen Traditionslinien ableiten. Der Marxismus ist nicht ohne die sozialen Verwerfungen der Industrialisierung in England und Deutschland zu erklären, Nationalsozialismus und Antisemitismus wiederum nicht ohne bestimmte deutsche Traditionslinien. Ungeachtet dessen sind die wirkmächtigen Weichenstellungen bemerkenswert, die Luther vornimmt. Die traditionelle katholische Lutherkritik mag manchmal polemisch übers Ziel hinausgeschossen sein; jedoch hat sie den authentischen Luther besser erkannt als Vertreter der heute üblichen Konsensökumene. Deren Lutherbild ist zumeist von kurzlebigen Bedürfnissen der Gegenwart geprägt.

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