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Wurzeln und Auswirkungen der „politischen Korrektheit“

Liegen die Wurzeln der „politischen Korrektheit“ in der Reformation? Und wo führt sie hin?
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Foto: Foto: | Erwischt! Auf diesem Bild von Lucas Cranach dem Jüngeren (1515–1586) sind Urheber politischer Korrektheit abgebildet: die Wittenberger Reformatoren.dpa

Schon seit über 25 Jahren gehört der aus den USA nach Europa transponierte Begriff der „political correctness“ zu den wichtigsten Wörtern der Medienwissenschaft. Eine allseits akzeptierte Definition gibt es nicht. Ursprünglich wurde dieser Ausdruck von einer mehrheitlich akademischen Schicht verwendet, die auf diskriminierungsfreie Sprache achtet, um Benachteiligungen (zumindest längerfristig) aus der Welt zu schaffen.

Von diesem an sich ehrenwerten Ziel war es aufgrund der Verbindung von Sprache, Denken und Realität nur ein kleiner Schritt zum sattsam bekannten Gesinnungs- und Haltungsjournalismus. Dessen hypermoralisierend-großinquisitorischen Untertöne sind selten zu überhören. Eine Konkretisierung erfährt die Öffentlichkeit spätestens dann, wenn es darum geht, die Welt zu retten. Passende Stichworte sind schnell gefunden: Migranten, Euro und Klima. Am deutschen Wesen, so die Hoffnung, soll wieder die Welt genesen – diesmal mit universalistischer Speerspitze. So sind und waren häufig Berichte über das Migrationsproblem von bestimmten Qualitätsmedien schöngefärbt. Erst seit den Ereignissen von Köln (und in anderen größeren Städten) an der Jahreswende 2015/16 gibt es hier und da Akzentverschiebungen. Beispiele lassen sich leicht vermehren.

Die Reformatoren achteten sehr auf das Innere

Viele Schriften sind bereits erschienen, die solche facettenreiche Phänomene versuchen aufzuhellen. Exemplarisch sind die Untersuchungen von Thomas Meyer („Die Unbelangbaren“), Ulrich Teusch („Lückenpresse“) und Uwe Krüger („Mainstream“) anzuführen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass tendenziöse Berichterstattung (quasi im dialektischen Gegenschlag) den rechten „Dunkeldeutschen“ hilft. Weiter würden dadurch noch mehr Menschen in die Parallelwelten der sozialen Netzwerke abgedrängt. Die öfters einseitige Vermittlung wird mit angeblichen oder tatsächlichen Zwängen des Mediensystems und der Absicht erklärt, einem bestimmten Selbstbild und der Arbeitsweise von Journalisten zu entsprechen. Gemeint ist damit die gutmenschliche Intention, Menschen zu bessern. Im Hintergrund mag der Gedanke mitschwingen, ein neues Abgleiten in die Barbarei zu verhindern. Primäres Angriffsobjekt des verspäteten, aber umso ostentativeren Widerstandes gegen die herbeihalluzinierte Tyrannei ist derzeit eine Erscheinung, die (bei aller Kritikwürdigkeit im Einzelnen) in ihrer Opposition gegen allzu abgehobene weltrettende Elitäre ein Stück Legitimität verbuchen kann: der Populismus, hierzulande zumeist auf der Rechten vermutet.

Heiligt ein solches hehres Ziel nicht sämtliche Mittel? Das „System Relotius“, über welches unlängst Juan Moreno seinen Bestseller „Tausend Zeilen Lügen“ verfasst hat, ist nicht ganz überraschend. Schon vor Jahren hat der mittlerweile verstorbene, medienwirksame Publizist Udo Ulfkotte, dessen Zuspitzungen man nicht unbedingt alle teilen muss, in seinem Buch „Gekaufte Journalisten“ beschrieben, wie „Journalistenpreise“ vergeben werden und wie die Mechanismen von Gehirnwäsche funktionieren.

Politische Korrektheit: Einseitige Darstellungen und Wertungen

Freilich wachsen die Bäume der Qualitätspresse nicht in den Himmel: Die durch einseitige Darstellungen und Wertungen offensichtliche Einschränkung der Meinungsvielfalt wird durch Verbreitung alternativer Fakten und Botschaften in den sozialen Netzwerken mehr als nur wieder wettgemacht. Fast jede „Repräsentationslücke“ (Werner Patzelt) dürfte auf diese Weise gefüllt werden. Doch auch die andere Seite der Medaille muss man beachten: Die Gefahr der Zunahme von destruktiven Auseinandersetzungen (einschließlich persönlicher Beleidigungen unter dem Deckmantel der Anonymität) ist nicht von der Hand zu weisen.

Die Genealogie der politischen Korrektheit ist nicht leicht zu schreiben. Die „diskutierende Klasse“, bestehend fast ausschließlich aus Liberalen, ist stets Angriffsobjekt konservativer Rechter von Donoso Cortés über Carl Schmitt und Arnold Gehlen bis zu Helmut Schelsky. Letzterer sieht im „Tertiärbürgertum“ (Gehlen) der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft eine neue „Priesterschaft“. Diese besetzt Schlüsselstellen und indoktriniert das Publikum mittels einseitiger Botschaften. Im Laufe des 20. Jahrhunderts eroberten Linksintellektuelle einflussreiche Positionen in der sich rasch wandelnden Medienwelt. Diese „Gatekeeper“ (Walter Lippmann) mutierten schnell zu Wächtern über relevante Medieninformationen. Erst die Entwicklung des Internets hat die damit verbundene Quasi-Monopolstellung beendet. Nachwirkungen sind jedoch überall zu vernehmen.

Reformation als "moral turn"

Dem gutmenschlichen Weltretter-Gestus liegen ältere Muster zugrunde, die ohne christliche Wurzeln nur schwer zu verstehen sind. Besonders die Reformation als wirkmächtige Station des „moral turn“ wird in letzter Zeit häufiger betont. Besonders herauszustellen ist dabei die Abhandlung des Publizisten Horst G. Herrmann („Im Moralapostolat“), die die Wurzeln dieser Zäsur akribisch unter die Lupe nimmt. Der „innere“ Mensch wird von den Reformatoren – in Anlehnung an Augustinus – großgeschrieben.

Dieser Trend zur Innerlichkeit prägt die deutsche Tradition nachhaltig. Mit dem „,Großmachen‘ von Erbsünden“ (Herrmann) korrespondiert eine Heilsgewissheit in Christus, die mittlerweile säkularisiert ist. „Pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo!“ So lautet einer der wirkmächtigsten protestantischen Schlachtrufe. Glaube und gutes Gewissen obsiegen über Werkgerechtigkeit und Schuld. Diese kann getilgt werden – auch bei noch so schlechten Handlungen. Die große tugendethische Tradition, die von Aristoteles bis Thomas von Aquin reicht, wird für belanglos erklärt. Man ersetzt sie einfach durch Moralistik. Hierin liegen wichtige Grundlagen des bundesdeutschen Zivilschuldparadigmas. Es findet auch in anderen Ländern, etwa in Frankreich und den USA, seine Entsprechung.

Der Enkel eines protestantischen Pastors, der Philosoph Jürgen Habermas, der sich stolz als Produkt der US-Reeducation bezeichnet, personifiziert die Rolle des Volkserziehers wie kein Zweiter. Der Satz „Ich entschuldige mich!“ zählt zu den wichtigsten Aussagen bundesdeutscher Politiker im In- und besonders im Ausland.

Hinter Bußritualen lauert oft das Ressentiment

Ein solches Gebaren erschien jedoch stets verdächtig. Die Traditionslinie von Friedrich Nietzsche über Max Scheler bis Arnold Gehlen mühte sich nicht wenig, hinter solchen zur Schau gestellten Bußritualen die Herrschaft des Ressentiments zu entlarven. Gehlen und Nietzsche sahen primär christliche Motive als Multiplikatoren solcher Absichten. Damit liegen sie aber nur teilweise richtig. Für Humanitaristen sind alle Mitglieder der Menschheit prinzipiell nicht anders zu behandeln als Familienangehörige: Verwandtschaftliche Beziehungen und Verhältnisse bringen indessen andere Verbindlichkeiten und Pflichten hervor als unter Menschen gelten, die sich nicht einmal kennen. Christen bekennen aber Gott, nicht den Menschen an der Spitze der Seinspyramide.

Und doch ist das Diktum des Publizisten und Atheisten Armin Mohler zustimmungsfähig, der bereits vor Jahrzehnten ein beträchtliches christliches Reservoir für künftige linke Bewegungen prophezeite. Er wusste, dass im Transzendenten fundierte Nächstenliebe grundsätzlich in massenhaft-säkularisierten Humanitarismus umschlagen kann. Außerdem sah er die Verlockung voraus, weithin als obsolet empfundene dogmatische Wahrheiten durch universalistisch-konsensfähige Moralimperative zu ersetzen. In der Tat bilden Klima, Menschenrechte und Migration die neue Trinität. Wirft man einen Blick auf kirchliche Verlautbarungen während und nach der Migrationskrise, muss man Mohler recht geben. Gleiches gilt bei der Unterstützung im „Kampf gegen rechts“. Solche Kampagnen sind zu befürworten, wenn es sich um Aktionen zur Abwehr von Extremismus handelt. Sie sind freilich strikt abzulehnen, wenn legitime Interessen der eigenen Nation negiert werden. Dazu zählt auch der Schutz vor illegaler Einwanderung und deren Folgen.

Angesichts der Attraktivität der (öfters grün eingefärbten) Heilsbringer, die sogar mit einer säkularen „politischen Theologie“ aufwarten und den „Angst- und Schuldhaushalt der modernen Gesellschaft“ (Norbert Bolz) verwalten, verwundert auch das gelegentlich verlautbarte konformistische Bekenntnis katholischer Repräsentanten nicht. Sie wollen zu den Guten zählen. Dass die christliche Erlösungshoffnung durch einen solchen Kult der Sorge profaniert wird, stört kaum. Am besten kann man eine derartige Positionierung an den Zwängen zur Abgrenzung von eigenen Glaubensbrüdern und -schwestern erkennen. Sie werden in manichäischer Weise zu Bösen stigmatisiert. Etwa, indem man AfD-Nähe attestiert.

Für ein pluralistisches Land und seine demokratischen Institutionen und relevanten Gruppen ist es nicht gut, wenn die Meinungskorridore auf Grundlage der politischen Korrektheit so eng werden, dass irgendwann nur noch eine gesellschaftspolitische Richtung diktieren kann, was gut und was böse ist. Verschiedene Ansichten zu Migration, Euro-Krise und Klimawandel sind eine Bereicherung für den gesellschaftspolitischen Diskurs. Eine Demokratie, die diesen Namen verdient, muss Meinungsstreits aushalten. Eine politisch korrekte Demokratie kann es nicht geben.

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