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Warum Putins Russland in Polen besondere Sorgen auslöst

Warum Putins Russland in Polen besondere Sorgen auslöst – und was die Deutschen für die Zukunft daraus lernen können.
Ukraine-Konflikt - Großbritanniens Premierminister Johnson
Foto: AP | Nicht fehlerlos, aber mit Realitätssinn und Humor ausgestattet: Mateusz Morawiecki (M), Ministerpräsident von Polen, bei einer Begegnung mit Boris Johnson (r), Premierminister von Großbritannien, und britischen ...

Es gibt eine bestimmte Form der Ängstlichkeit, der zögerlichen Furcht vor Veränderungen oder politischer Klarheit, die man international mit Deutschland assoziiert: „German Angst“ heißt dazu der populäre Ausdruck. Deutsche Angst. Ein Begriff, der eine spezifische nationalgeprägte Mentalität beschreiben soll. Wobei die Konnotation durchaus negativ ist. Haftet der Bezeichnung „German Angst“ doch auch etwas Irrationales an. Ein Sonderweg der Mentalität, der für andere Staaten oder Staatenbünde aufgrund der Entscheidungen und (unterlassenen) Handlungen, die daraus folgen, nur schwer nachvollziehbar ist. Ein aktuelles personales Beispiel? Vielleicht Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der lange mit Worten und Flugzeugen zwischen Washington und Moskau hin und her pendelte, ohne dass man genau sagen konnte, wofür er eigentlich steht und was er will.

Gibt es zu dieser spezifischen deutschen Angst ein polnisches Äquivalent? Wenn, dann könnte man sie vielleicht als „Polski Angst“ (polnische Angst, pl. Polski strach) bezeichnen. Was sind ihre Spezifika? Ist sie auch irrational? Eher negativ oder positiv?

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Putins unverhohlene Aggression gegen Nachbarn

Begleitend zur „Migrationskrise“ an der polnisch-belarussischen Grenze und der unverhohlenen Aggression des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegenüber der Ukraine ist diese „Polski Angst“ seit Monaten anschaulich zu studieren – in den Medien, bei den Äußerungen der Politiker und auch beim Kontakt mit den Menschen in Polen. Wobei – dies sei gleich hervorgehoben – es sich weitestgehend nicht um ein irrationales Phänomen handelt, sondern eine Form von Angst, die durchaus berechtigt, also vernünftig erscheint. Darin ähneln die Polen den Engländern: sie sind trotz ihrer bekannten Freiheits-Euphorie stets Realisten gewesen. Common Sense-Politiker und -Philosophen, die mit deutscher oder französischer Abstraktion bei aller Bewunderung für einzelne Erkenntnisse und Ideale nie viel anfangen konnten.

Das hängt neben dem melancholischen Realismus der „polnischen Seele“ auch mit der geografischen Lage und der Geschichte zusammen. Eingekeilt von den Expansions-lüsternen Supermächten Russland (alias Sowjetunion) und Deutschland (alias Preußen plus Habsburg), die Polen über einen Zeitraum von 123 Jahren von der Landkarte der Souveränität tilgten und im September 1939 sukzessive angriffen und untereinander aufteilten, gehörte es schon immer zur polnischen Raison d'etre, vor den potenziell bösen Nachbarn auf der Hut zu sein. Daher: Nichts Schlimmeres für Polen, wenn diese Nachbarn ein gemeinsames Projekt betreiben – und sei es eine Erdgasleitung wie Nord Stream 1 oder 2, die als Ostsee-Pipelines Deutschland und Russland verbinden.

„Im Spätsommer 2021, als die „Migrationskrise“ an der Grenze zu Belarus begann,
ließ sich das Phänomen „Polski Angst“ besichtigen“

Bereits der liberal-bürgerliche Premier und spätere EU-Ratspräsident Donald Tusk, der zurzeit wieder als Oppositionspolitiker in Polen unterwegs ist, betrachtete diese Connection mit ablehnend-mulmigen Gefühlen. Bei der derzeitigen PiS-Regierung und Präsident Andrzej Duda hat das Projekt – verstärkt durch die „Ukraine-Krise“, die vielleicht lieber „Putin-Krise“ heißen sollte – Höchstwerte auf der „Polski Angst“-Skala ausgelöst. Früher als die Deutschen erkannten die Polen die Gefahren des Projekts. Man hat Recht behalten.

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Auch im Spätsommer 2021, als die „Migrationskrise“ an der Grenze zu Belarus begann, ließ sich das Phänomen „Polski Angst“ besichtigen. Als man in Deutschland mit einer Mischung aus Verwunderung und pazifistischem Desinteresse auf den zynisch von Putin und dem belarussischen Diktator Lukaschenko betriebenen Erpressungsmechanismus, der Menschen zu Waffen degradiert, schaute, lief der polnische Verteidigungsminister und inzwischen als möglicher Premier gehandelte Mariusz B³aszczak zu Rhetorik-Hochform auf: Es handle sich um einen „hybriden Krieg“, den es zu unterbinden gälte. Eine Wortwahl, die nicht nur überraschend schnell von EU-Politikern übernommen wurde, sondern ein Kernelement der „Polski Angst“ enthält. Nämlich: Alles, was sich an der polnischen Grenze tut, hat – falls irgendeine russische Hand daran beteiligt ist – mit „Krieg“ zu tun. Paranoia? Hysterie?

Die Sorgen Polens über Putins sind berechtigt

Inzwischen, da es gute Gründe gibt, anzunehmen, dass auch diese Aktion ein Teil des toxisch-aggressiven Moskauer Drehbuchs war und ist, lässt sich sagen: die polnische Angst war berechtigt, auch die Benutzung des Wortes „Krieg“. Was nicht heißt, dass alle Polen, die im Bann von „Polski Angst“ stehen, von rationalen Motiven geleitet sein müssen. Schaut man sich die derzeitige Berichterstattung des von PiS-gesteuerten Staatssenders „TVP“ und eine ganze Reihe von rechten Magazinen an, die sich auf dem Zeitungsmarkt erschreckend gut verkaufen, so begegnet man der dunklen Seite von „Polski Angst“, die es auch gibt: martialische Worte, Kampf- und Kriegs-Fetischismus im Geiste eines übersteigerten Nationalismus. So, als gelte es nun Polen (und nicht die Ukraine!) vor Putins Soldaten zu beschützen. In diesem Kontext wird die „Polski Angst“ ideologisch instrumentalisiert. Und die liberalen Zeitschriften? Sie setzen dieser nationalistischen Fehlform einer berechtigten Angst Donald Tusk entgegen – als europäisch integriertes Heilmittel gegen Putin und das Böse, für das er steht.

Es sind die tendenziell besonnenen Stimmen, wie die des derzeitigen Premiers Mateusz Morawiecki und die des Vorsitzenden der polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanislaw Gadecki, welche ein gesundes Angstgefühl mit politischem Pragmatismus und menschlicher Verantwortung einerseits und Aufrufen zum Gebet und Frieden andererseits ausdrücken. So teilte Morawiecki am vergangenen Wochenende, als sich in den öffentlichen Medien wieder einmal viele Politiker und Historiker in düsterem Kassandra-Raunen gefielen, ganz sachlich mit, dass man die Krankenhäuser zu erhöhter Einsatzbereitschaft angewiesen habe. Das heißt: man stellt sich in Polen früh auf Flüchtlinge aus der Ukraine ein, und weiß, dass diese medizinisch versorgt werden müssen. Polski Angst – im Dienst der Menschlichkeit.

EU, Deutschland und Frankreich gelten den Polen als unsichere Kantonisten

Doch es gibt noch einen anderen Aspekt der polnischen Angst: die Angst, in den entscheidenden Momenten der Geschichte als Nation auf sich selbst gestellt zu sein. Viele national-konservative Polen deuten das EU-Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen so und fühlen sich Amerikanern und Engländern näher als Deutschen und Franzosen. Ehrlicherweise müssten sich die Anhänger dieses Opfer-Narrativs aber auch fragen, wo ihr ideologischer Waffenbruder Viktor Orbán, der so gern mit Putin Geschäfte macht, nun eigentlich steht und ob PiS nicht auf die falschen Gefährten gesetzt hat. Zu diesen falschen Gefährten zählt auch die Putin-Sympathisantin Marine Le Pen, die bei einer rechtspopulistischen Veranstaltung im Dezember 2021 in Warschau von PiS-Politikern hofiert wurde. Immerhin war man bei PiS klug genug, sich von deutschen Wirrköpfen fernzuhalten.

Und wie geht es weiter mit der „Polski Angst“? Man wird abwarten müssen, mit welchen europäisch-weltpolitischen Szenarien diese historisch gewachsene, realpolitisch fundierte Mentalität in nächster Zeit noch konfrontiert wird. Zumal Putin schon länger mit Abscheu gen Polen blickt. So gab der Kreml-Herrscher Ende 2019 aus Anlass des 80-jährigen Jubiläums des Kriegsbeginns ausgerechnet Polen eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.

Humor und Gaube als Antsttherapie

Doch bei aller berechtigten Angst darf man auch nicht den polnischen Humor vergessen, der die Furcht psychisch kompensiert. Interessant für Deutsche ist besonders eine in Polen populäre Weisheit. Nämlich: „Was machen wir, wenn uns die Deutschen und Russen wieder angreifen? Antwort: Erst werden die Deutschen verprügelt, dann die Russen. Schließlich gilt: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Nun denn.

Geistlich sublimiert worden ist die „Polski Angst“, wenn nicht die Angst schlechthin, hingegen von einem Polen in Rom, der sein Amt mit den Worten „Non abbiate paura“ antrat. Habt keine Angst. Der ein oder andere wird sich an ihn erinnern.

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