Der französisch-deutsche Künstler Emmanuel Peterfalvi, bekannt als der Kabarettist "Alfons" mit "Puschel"-Mikrophon, stellt in seinem Programm "Jetzt noch deutscherer" die ernste Geschichte seiner Großmutter vor, die das Grauen von Auschwitz überlebte, danach aber die Entschuldigung des ehemaligen deutschen Lageraufsehers akzeptierte und sich sogar mit ihm soweit befreundete, dass er Teil der Familie wurde. Gekonnt verknüpft "Alfons" humorvolle Passagen, tragische Ereignisse und philosophische Gedanken und erzählt auch, weshalb er trotz oder wegen der belasteten Vorgeschichte die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat. Sein Programm, aber auch seine Person und viele seiner öffentlichen Tätigkeiten sind Zeichen der Versöhnung. Er wurde dafür kürzlich mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.
Versöhnung braucht solche Vorbilder mit ihren bewegenden Geschichten, die Politik kann nur den Rahmen dafür schaffen. Die Annäherung findet dann im Privaten statt. Zwischen Franzosen und Deutschen haben die unzähligen Partnerschaften von Städten und Gemeinden, von Universitäten und Schulen dazu beigetragen. Sie haben Begegnungen ermöglicht, in denen auch alte und feindliche Geschichten aufeinandergetroffen sind. Diese Geschichten bilden die Grundlage für eine gemeinsame, versöhnte Zukunft. Entschuldigt hat sich hier aber niemand. Für Versöhnung nach Großverbrechen sind Entschuldigungen auch nicht angemessen. Sie sind in manchen Fällen sogar schädlich. Politische Bußrituale, wie sie Hermann Lübbe in seinem 2001 erschienenen Werk: "Ich entschuldige mich" kritisch hinterfragt hatte, verfehlen nicht nur ihre Wirkung, sie schlagen auch in Form sinnloser und überzogener Forderungen zurück. Die Versöhnung braucht Zeichen der Demut wie der "Kniefall von Warschau", dem sogar ein Denkmal gestiftet ist. Auch Entschuldigungen gehören dazu, wenn es um persönlich verantwortbare Handlungen geht. Die Verzeihung als der Verzicht auf Vergeltung durch Rache oder Strafe ist Teil der Versöhnung.
„Der Knecht verzichtet auf die Macht,
doch seine Hingabe ist im weiteren Verlauf dieser Geschichte siegreich,
weil er arbeitet und sich so die Herrschaft über die Dinge aneignet“
Aber es gibt auch das Unverzeihliche, wenn die Schuld so groß ist, dass sie niemand entschuldigen kann. Doch auch hier kann es zur Versöhnung kommen. Der französische Philosoph und Musiker Vladimir Jankélévitsch , einst ein glühender Verehrer deutscher Kultur, war nach dem Krieg zum Gegner aller Versöhnung mit den Deutschen geworden. In seinen Büchern, Artikeln und Reden prangerte er den Deutschen an, dass es ihnen gut gehe, dass sie gut schlafen, obwohl sie sechs Millionen Juden getötet haben.Der junge Französischlehrer Wiard Raveling hörte eine solche Rede im Radio und schrieb ihm einen Brief, in dem er zum Ausdruck brachte, dass es ihm gar nicht gut gehe. Jankélévitsch bedankt sich für diesen Brief, er habe 35 Jahre auf ein solches Zeichen gewartet, das ohne "Routinesprüche und fromme Abziehformeln" auskomme. Dieser Briefwechsel ist so bewegend wie aufschlussreich.
Entschuldigung und Versöhnung sind unterschiedliche Sprachakte und Sprachhandlungen mit ähnlicher Dramaturgie. Die Entschuldigung hat die Abfolge: Vergehen, Bitte um Verzeihung, Lossprechung der Schuld. Sie ist auf mindestens zwei Seiten verteilt und findet in einem persönlichen Dialog statt. Dabei ist die Abfolge genauso bindend wie die Freiwilligkeit der beteiligten Personen. Bitte und Entschuldigung sind freiwillige Gaben, manchmal sogar Opfer, wenn es sich um schwerere Vergehen handelt. Bei leichteren Vorkommnissen ist das nicht so, hier hat eine Entschuldigung fast den Charakter einer Feststellung. Das hingeworfene: " Tschuldigung" oder "pardon" nimmt die Lossprechung von Schuld schon vorweg. Natürlich kann das auch schiefgehen, wenn der Vorfall beim Betroffenen doch schwerer wiegt. Die Grenzen sind fließend und grundsätzlich persönlich und situativ geprägt.
Heilsgeschichte wird auf Naturgeschichte verkürzt
Die Versöhnung hat die Dramaturgie der Dialektik in der Abfolge von These, Antithese und Synthese. Hegel entwickelte sie in seiner "Phänomenologie des Geistes" und zeigte dabei den Weg der Geschichte als Heilsgeschichte hin zur Versöhnung auf. Schon Nietzsche hat das in seinem "Zarathustra" verhöhnt. "Höheres als alle Versöhnung", meinte er dort, muss der "Wille zur Macht" wollen. Das Resultat hat dann zeitgeschichtlich auch nicht lange auf sich warten lassen. Geistesgeschichtlich geht es aber in diesem martialischen Stil weiter. So wird uns heute statt der Versöhnung der Kältetod des Universums vor Augen geführt. Die Heilsgeschichte wird auf Naturgeschichte reduziert. Natur hat aber keine Geschichte, es ist der Mensch, der ihr eine gibt und sie erzählt. Hier soll eine heillose Geschichte erzählt werden. Doch warum?
Vergleicht man die Dramaturgien der Entschuldigung und Versöhnung, dann fallen die Ähnlichkeiten auf: beide gehen in drei Schritten voran, die Dialektik Hegels ist dabei auch auf unterschiedliche Personen verteilt, beginnend in seiner Phänomenologie mit dem zu Recht berühmten Kapitel über "Herrschaft und Knechtschaft". Hier treffen These und Antithese in Form von zwei fertig ausgebildeten Positionen von Selbstbewusstsein aufeinander, die beide als Egos die Macht für sich beanspruchen. Dafür brauchen sie aber, wie bei der Entschuldigung, eine gegenseitige Anerkennung. Denn auch Macht muss anerkannt sein, eine Selbstherrlichkeit aus sich heraus währt nicht lange. Hegel gibt die Anerkennung aber nicht im sprachlichen Austausch zu erkennen, sondern in der stummen Gewalt eines Kampfes. Dabei wird der Gewinner zum Herren und der Verlierer zum Knecht. Der Knecht verzichtet auf die Macht, doch seine Hingabe ist im weiteren Verlauf dieser Geschichte siegreich, weil er arbeitet und sich so die Herrschaft über die Dinge aneignet. Der Herr wird dagegen immer abhängiger vom Knecht und seinem Können. Unterwerfung, Hingabe und Verzicht sind also die Stärken, die für Hegel am Ende zum Heil und zur Versöhnung führen. Nietzsche wollte es bei der Gewalt des Herrn belassen, auch Friedrich Engels stellte lieber eine "Dialektik der Natur" dagegen, um die Arbeit als biologische Selbstermächtigung und Überhöhung des Affen zu feiern. Mit Hegels tieferer Einsicht in die Bedeutung der Arbeit aus der Anerkennung heraus hat das nichts mehr zu tun.
Herrschaft kann nur durch Anerkennung durch die Beherrschten bestehen
Das Motiv für die moderne Bevorzugung einer Unheilsgeschichte ist damit deutlicher geworden: Unterwerfung, Hingabe und Verzicht sind unmännlich. Dagegen werden Kampf und Arbeit als Mittel zur Selbstermächtigung bevorzugt. Doch die Einseitigkeit dieser Gewaltakte bedroht diese Herrschaften. Auch Herrschaft muss von den Unterworfenen anerkannt werden. Die Anerkennung fordert außerdem wechselseitige Demut, auch der Herren gegenüber den Untergebenen. Sogar der Wille zur Macht braucht Anerkennung und muss von allen mitgetragen werden. Wir leben heute im Geiste einer Unheilsgeschichte, weil jeder auch ohne Anerkennung Herr sein möchte, wenn nötig mit Gewalt.
Tatsächlich ist jeder Mensch auch Herr, aber nur durch Anerkennung und im Dialog. Das zeigt sich schon beim Gruß, bei Willkommen und Abschied. Die Ansprache "Meine Damen und Herrn" ist eine Anerkennung der Herrschaft des Anderen und seiner Würde. Wenn heute aus Tierliebe heraus manchmal die Formel: "sehr geehrte Primaten" ergänzt wird, dann wird damit die Würde sofort wieder abgesprochen, nicht weil Primat zu sein eine Herabwürdigung für den Menschen wäre, sondern weil die biologische Versachlichung keine Unterwerfung im Gruß zu erkennen gibt. Sie ist eine bloße Bezeichnung, die, als Gruß missbraucht, eine Beleidigung bedeutet. Wahrscheinlich ist das in solchen Fällen sogar intendiert. Ein Gruß wird dagegen durch Selbsterniedrigung und Verzicht des Sprechers ausgelöst, wie das "servus" oder "ciao", was beides Sklave bedeutet, direkt anzeigt. Der Gruß ist trotzdem keine Versklavung, sondern eine Bitte, erhört oder gesehen zu werden. Dies ist nur im Verzicht auf Selbstherrlichkeit möglich.
Alfons als Vorbild
Verzeihung und Versöhnung können nur aus einem solchen Verzicht hervorgehen. Wer sich selbst erniedrigt, der will nicht erhöht werden, wie Nietzsche meinte, sondern er muss erhöht (und erhört) werden, damit die Schuld ihre zerstörende Wirkung verliert. So kann dann auch das Unverzeihliche zum Teil einer gemeinsamen Geschichte werden. "Alfons" mit seiner jüdischen, französisch-deutschen Geschichte ist hierfür vorbildlich.
Der Autor ist emeritierter Universitätsprofessor
für Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Im Verlag Herder ist von ihm das Buch "Versöhnung: Die Macht der Sprache –
Ein Beitrag zur Philosophie des Dialogs" erschienen.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.