Auf dem Platz zwischen der Kathedrale St. Stanislaus und St. Ladislaus und ihrem in der litauischen Hauptstadt Vilnius frei stehenden Glockenturm ist im Pflaster ein Stein eingelassen, der in farbigen Glaslettern das Wort „Stebuklas“ (Wunder) trägt. Von hier aus verband am 23. August 1989 um genau 19 Uhr und für genau fünfzehn Minuten eine 600 Kilometer lange Menschenkette die Hauptstädte der drei baltischen Republiken Riga, Tallinn und Vilnius. Mit der Aktion, dem „Baltischen Weg“, wurde an den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 erinnert, in dessen geheimem Zusatzprotokoll vereinbart war, dass die baltischen Staaten an die Sowjetunion fielen.
Mit Volksliedern protestierten sie gegen die sowjetische Besatzung
Dabei war der „Baltische Weg“ der Höhepunkt einer längeren Entwicklung, die „Singende Revolution“ hatte bereits früher eingesetzt: Trotz des Verbots von nationalen Liedern protestierten die Menschen mit Volksliedern gegen die sowjetische Besatzung. So trafen sich im Sommer 1988 300.000 Menschen in Estland auf dem Sängerfest „Laulupidu” in Tallinn, um gemeinsam ihre heutige Nationalhymne zu singen. Im Frühjahr 1990 erklärten Estland, Lettland und Litauen jeweils ihre Unabhängigkeit, die internationale Anerkennung folgte im Sommer 1991.
Papst Franziskus erinnerte während Baltikum-Reise im September 2018 in Vilnius beim Besuch des „Museums der Besetzung und des Kampfes für die Freiheit“ an die Unterdrückung in der Sowjetzeit. Das Museum in Litauens Hauptstadt ist in dem Gebäude eingerichtet, in dem während der Sowjetzeit der russische KGB sein Hauptquartier unterhielt. „Fast jede estnische, lettische oder litauische Familie hatte oder hat noch Angehörige, die während des Zweiten Weltkrieges in sibirische Arbeitslager deportiert wurden, wobei ein Drittel von ihnen ums Leben kam“, erläutert gegenüber der „Tagespost“ Bernd Posselt, langjähriges Mitglied des Europaparlaments und Präsident der Paneuropa-Union Deutschland. „Im Europaparlament erinnert eine von dem großen Paneuropäer und Befreier-Präsidenten Litauens, Vytautas Landsbergis, initiierte Gedenktafel an dieses allzu oft vergessene Ereignis. Der heutige litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis ist sein Enkel.“
Erinnerungen an 2014 werden wach
Und wieder geht die Angst um. Der russische Aufmarsch an der ukrainischen Grenze verunsichert die Menschen im Baltikum. Die aktuellen Ereignisse wecken Erinnerungen an das Jahr 2014. Damals hatte Russland die Krim annektiert und einen Krieg im Osten der Ukraine entfacht, in dessen Zuge pro-russische Separatisten, die von Moskau unterstützt wurden, die beiden sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk ausgerufen hatten. Seither provozieren russische Kampfflugzeuge immer wieder einen Zwischenfall, indem sie NATO-Territorium überfliegen. Im Baltikum geschieht es besonders häufig. Wie konkret ist die Befürchtung der baltischen Staaten, die seit 2004 der NATO und der EU angehören, wieder unter die Einflusssphäre Moskaus zu geraten?
Nach Ansicht von Bernd Posselt ist die Sorge berechtigt: „Die baltischen Staaten waren zwar in den Augen des Westens nach dem Hitler-Stalin-Pakt widerrechtlich okkupiert und wurden international niemals als Teil der Sowjetunion angesehen. Für einen Sowjet-Nostalgiker wie Wladimir Putin jedoch, der die UdSSR wieder errichten will, sind sie das auf ewig mit Russland verbundene Hinterland von Sankt Petersburg, wo er herstammt.“ Hinzu komme, dass Moskau nach der Unabhängigkeit der baltischen Staaten 1991 von Anfang an deren Grenzziehungen in Frage gestellt und die dort lebenden großen russischen Minderheiten instrumentalisiert habe. Vor allem Letzteres verschärfe sich von Jahr zu Jahr. Wie auf der Krim gibt es auch in Estland, Lettland und Litauen russische Minderheiten, die theoretisch als Vorwand („Hilferuf“) einer russischen Invasion dienen könnten. Im Baltikum hatten auch in den Jahrhunderten zuvor schon Menschen russischer Herkunft gelebt, doch während der Sowjetherrschaft wurden gezielt Hunderttausende angesiedelt.
Abschreckung und Verteidigung von existenzieller Bedeutung
Während Moskau angesichts der Ukraine-Krise die Muskeln spielen lässt, sind Abschreckung und Verteidigung für das Baltikum von existenzieller Bedeutung: Die NATO als Lebensversicherung. Mit der Mission „Enhanced Forward Presence“ (Verstärkte Vornepräsenz) reagierte das Militärbündnis auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland und die fortgesetzte Destabilisierung der Ukraine. Deutschland hat die Führung des multinationalen Bataillons, auch Battlegroup genannt, im litauischen Rukla übernommen. Aktuell befinden sich hier rund 500 Bundeswehrangehörige.
Von der Kleinstadt Rukla aus sind es je nach Himmelsrichtung etwa 150 Kilometer zur Grenze von Belarus, Kaliningrad (Königsberg) oder bis zur sogenannten Suwalki-Lücke an der Grenze nach Polen. Der rund 100 Kilometer lange Streifen zwischen Polen und Litauen ist ein 65 Kilometer schmaler Korridor. Zur Ostsee hin wird die Suwalki-Lücke von der russischen Enklave Kaliningrad begrenz, einer Art westlicher Vorposten Russlands – auf der anderen Seite liegt Belarus. Wenn Moskau die Kontrolle über den strategisch bedeutenden Korridor erlangen würde, wären die baltischen Staaten von anderen NATO-Verbündeten abgeschnitten. Es wäre das Albtraumszenario schlechthin.
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