Die in der Causa Frauke Brosius-Gersdorf von ihr selbst eines „ehrabschneidenden Journalismus“ beschuldigte „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) hat vergangene Woche ein Streitgespräch zwischen dem Bonner Staatsrechtler Christian Hillgruber und dem emeritierten Würzburger Verfassungsrechtler Horst Dreier veröffentlicht. Moderiert von FAZ-Mitherausgeber Jürgen Kaube und Feuilleton-Chefin Sandra Kegel, geht es darin der Reihe nach um die Menschenwürde, das Recht auf Leben und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Zusätzliche Brisanz erfährt der so dichte wie gehaltvolle Positionsabgleich, bei dem jede Zeile der Lektüre wert ist, durch zwei biografische Details: Dreier ist Doktorvater von Frauke Brosius-Gersdorf, Hillgruber im Ehrenamt Vorsitzender der „Juristen-Vereinigung Lebensrecht“ (JVL).
Nichtjuristen können dank dieses Gesprächs eine ganze Menge lernen. Zu den wichtigsten Lektionen gehört: Menschenwürde und das Recht auf Leben sind keine identischen Rechtsgüter. Was sich bereits daran erkennen lässt, dass der Schutz der Menschenwürde in Artikel 1 Absatz 1, das Recht auf Leben aber in Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz behandelt wird. Dazu muss man wissen: Das Grundgesetz ist hierarchisch aufgebaut und schreitet vom Grundlegenden zum Spezielleren fort. Deshalb behandelt es nach der Präambel zunächst die Menschenwürde, die Vorrang vor allen anderen Normen hat. Anschließend folgen die speziellen Grundrechte (Allgemeine Handlungsfreiheit, Recht auf Leben, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit et cetera). Artikel 20 folgende behandeln anschließend die Strukturprinzipien der Bundesrepublik (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaat, Verbot eines Angriffskrieges et cetera). Im Anschluss daran werden die Verfassungsorgane beschrieben und ihre Zusammenarbeit geregelt. Juristen nennen das „vertikales Abschichten“.
Was ist das Recht auf Leben?
Unbestritten ist: Zwischen dem Rechtsgut der Menschenwürde und dem Rechtsgut Leben gibt es Überlappungsbereiche. Dies hat in vielen, aber keineswegs in allen Fällen zur Folge, dass derjenige, der das eine Rechtsgut verletzt, auch das andere in Mitleidenschaft zieht. Wer dagegen Menschenwürde und Recht auf Leben in eins setzt, tut dies meist, um für den Schutz des Lebens auch Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 in Stellung zu bringen, wo es mit Bezug auf die Menschenwürde heißt: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das mag man clever finden, ist aber verkehrt.
Denn der Staat ist nicht verpflichtet, das Leben seiner Bürger mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu schützen. Wäre es anders, müsste jeder Bürger sein Dasein in staatlich zertifizierten Gummizellen fristen. Und zwar auch dann, wenn zuvor keine Pandemie ausgerufen wurde. Richtig verstanden, beschränkt sich das Recht auf Leben auf das Recht eines jeden Bürgers, von einem anderen nicht getötet zu werden sowie sich darauf verlassen zu können, dass der Staat, wo dieses Recht (im Erfolgs- wie im Versuchsfalle) missachtet wird, nach den Tätern fahndet, um sie vor Gericht zu stellen.
Unantastbare Menschenwürde, abwägungsfähiges Lebensrecht
In dem Streitgespräch mit Dreier knöpft sich Hillgruber denn auch gleich zu Beginn den von vielen bisher nicht hinreichend verstandenen Unterschied zwischen Menschenwürde und Recht auf Leben vor. Weil das „Recht auf Leben“ sich „aus der Würde“ ergebe, komme es jedem Menschen „in gleicher Weise und in gleichem Umfang“ zu. Daraus folge „die Absage an einen gestuften Lebensschutz“. Es bedeute jedoch nicht, „dass das Leben des Ungeborenen unter allen Umständen geschützt werden muss und sich immer gegenüber konkurrierenden Grundrechten, wie denen der schwangeren Frau, durchsetzt. Dass es hier zu einer Abwägung kommt, ist daher unproblematisch.“
Halten wir also fest: Während die Menschenwürde „unantastbar“ ist und daher auch nicht abgewogen werden kann, sind die Grundrechte, einschließlich des Rechts auf Leben, einer Abwägung zugänglich und damit antastbar, wie auch Christian Funck in dieser Zeitung bereits gezeigt hat. Das kann auch gar nicht anders sein. Schon deshalb, weil Grundrechte miteinander in Konflikt geraten können, für die es keine Lösung gäbe, wenn sie nicht gegeneinander abgewogen werden könnten.
Widersprüche gibt es
Das heißt nicht, dass man gezwungen wäre, die Abwägungen, die das Bundesverfassungsgericht in seinen beiden Abtreibungsurteilen vornimmt, für über jeden Zweifel erhaben zu halten. Der Autor dieser Zeilen tut dies jedenfalls nicht. Noch bedeutet es, dass die in den Leitsätzen festgehaltene Rechtsauffassung des Gerichts zu den entscheidungserheblichen Fragen frei von Widersprüchen wäre. Im Streitgespräch mit Hillgruber listet Dreier, der 2008 von der SPD als Kandidat für die Nachfolge des Bundesverfassungsrichters Winfried Hassemers nominiert worden war, diese denn der Reihe nach auf. Auch, weil Dreier, den die SPD wieder zurückzog, nachdem die Union erklärt hatte, ihn wegen seiner Positionen zur Menschenwürde, der embryonalen Stammzellforschung und der sogenannten Rettungsfolter nicht zu wählen, in den Widersprüchen eine Bestätigung seiner eigenen Position erblickt: „Was das Gericht dem Gesetzgeber als Lösung des Problems vorgegeben hat, lässt sich nur mit dem Konzept des gestuften vorgeburtlichen Lebensschutzes schlüssig erklären.“ Das klingt gut, nur trifft es nicht zu.
Denn das Grundgesetz, das den Staat zum Schutz des Lebens verpflichtet, beschränkt den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts darauf, lediglich zu prüfen, wo der Gesetzgeber diesem offenkundig nicht genügt. Mit anderen Worten: Die Richter bleiben überall dort an den Willen des Gesetzgebers gebunden, wo dieser nicht verfassungswidrig ist. Die Widersprüche im Urteil hängen also auch damit zusammen, dass das Schwangeren- und Familienhilfegesetz, welches der Bundestag im Juni 1992 verabschiedet hatte und welches das Bundesverfassungsgericht damals auf Antrag der Bayerischen Staatsregierung zu prüfen hatte, kein konsistentes war.
Wenn es einen Konstruktionsfehler des Streitgespräches gibt, dann den, dass sich über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 nur dann vollends sinnvoll sprechen lässt, wenn man auch das Gesetz berücksichtigt, über das die Richter zu befinden hatten und das ihre Entscheidung reflektiert. Die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Karin Graßhof, Mitglied des erkennenden Senats, hat das später einmal so formuliert: Die „juristische Spagatübung“, welche die Richter in ihrem Urteil zwischen rechtswidrigen und rechtmäßigen Abtreibungen unternommen hätten, sei „Folge davon“, dass der Senat vor der Aufgabe gestanden habe, „effektiven Lebensschutz“ gewährleisten zu sollen „in der sozialen Wirklichkeit, wie sie sich nun einmal entwickelt hat“.
„Life is not logic“
Anders formuliert: Statt um „wünsch dir was“ ging es um „so ist es“. Juraprofessoren tun sich damit oft schwer. Sie bevorzugen rechtsdogmatisch klare und widerspruchsfreie Lösungen. Nur kann es die in einer „offenen Gesellschaft“ allenfalls auf dem Papier geben. Das darf man bedauern. Und man muss es dort, wo es um derart fundamentale Aufgaben wie den Schutz des Lebens ungeborener Kinder geht. Doch geht es in der Politik statt um die bestmögliche Lösung eines Problems immer auch um widerstreitende Interessen, die miteinander verhandelt und in Kompromisse gegossen werden müssen. Und zu mehr als einem „faulen Kompromiss“ hatte der Bundestag weder 1992, als er seinen ersten Entwurf der im deutsch-deutschen Einigungsvertrag vereinbarten rechtlichen Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs vorlegte, noch 1995 die Kraft.
Dreier, der das Urteil „wegen seiner Inkonsistenz“ scharf kritisiert, lobt jedoch, dass es für Rechtsfrieden gesorgt habe. Das Urteil habe „Abtreibungsgegnern wie den Befürwortern etwas gegeben“. „Frauen können in den ersten zwölf Wochen abtreiben, was nicht strafbar, aber eben rechtswidrig ist. (…) Für die andere Seite wurde die Maxime des gleichen Lebensschutzes für geborenes und ungeborenes Leben ausgegeben sowie die Anerkennung der Menschenwürde überall da, wo menschliches Leben existiert. (…) Life is not logic, könnte man sagen.“
Der Staat lässt zu, dass die Vorgaben unterlaufen werden
Politik schon gar nicht. Auch deswegen sind nicht wenige Richter versucht, sich zu Nebengesetzgebern aufzuwerfen. In Deutschland hat wohl keiner mehr politischen Gestaltungswillen erkennen lassen als der Freiburger Verfassungsrechtler Andreas Voßkuhle, dem Deutschland maßgeblich das Urteil vom 26. Februar 2020 zur Beihilfe zum Suizid „verdankt“ und den die SPD 2008 aus dem Hut zauberte, nachdem die Union Dreier zu wählen nicht bereit war. CDU und CSU sind daher nach der Aufgabe von Frauke Brosius-Gersdorf gut beraten, sich die künftige SPD-Kandidatin frühzeitig genau anzuschauen.
Bei Licht betrachtet könnte es auch trotz des geltenden Rechts um den Lebensschutz in Deutschland weit besser bestellt sein. Denn die Verfassungsrichter hatten dem Gesetzgeber eine Beobachtungspflicht mit auf den Weg gegeben. Er sollte sich Gewissheit darüber verschaffen, ob das von ihm verfolgte Konzept, das damals auf die griffige Formel „Hilfe statt Strafe“ gebracht wurde, auch tatsächlich greift und zu einer Reduzierung vorgeburtlicher Kindstötungen führt. Für den Fall, dass davon keine Rede sein könne, verpflichteten die Richter den Gesetzgeber zur Nachbesserung. Keine Bundesregierung und kein Bundestag ist dem bisher nachgekommen.
Mehr noch: Der Staat lässt zu, dass seine eigenen Vorgaben unterlaufen werden. Wie Hillgruber gegen Ende des Streitgesprächs mit Dreier vermerkt, erkenne etwa „Pro Familia“ „die Lebensschutzorientierung der Beratung nicht an“ und setze sie „in der Praxis nicht um“. Hillgruber: „Der Organisation müsste die Beratungslizenz entzogen werden, weil sie die Rahmenbedingungen verletzt.“ Auch ist der Staat laut dem Bundesverfassungsgericht verpflichtet, den Unrechtscharakter der Abtreibung im Rechtsbewusstsein zu erhalten. Doch der letzte Repräsentant des Staates, der sich dazu überhaupt öffentlich eingelassen hat, war der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau mit seiner Rede „Wird alles gut? Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß“. Das ist jetzt 24 Jahre her. Eine viel zu lange Zeit.
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