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Die Opfer sprechen

Ein Zitatelexikon versammelt jüdische Zeitzeugen, deren Aussagen zeigen, dass nicht die Mehrheit der Deutschen judenfeindlich war.
Portrait Ralph Giordano
Foto: MMH | Der Schriftsteller Ralph Giordano (1923 - 2014) gab an, von Antisemitismus im frühen Nationalsozialismus nichts gespürt zu haben.

Spätestens seit „1968“ gehört es zu den Narrativen der Geschichtspolitik, dass erstens alle Deutschen um die Judenvernichtung wussten, aber geschwiegen haben; dass Hitler zweitens den millionenfachen Mord an Juden nicht hätte inszenieren können, wenn er mit seinem Judenhass und seinem Antisemitismus nicht die Mehrheit der Deutschen hinter sich gewusst hätte.

Wer anderes sagt, schreibt, gar wissenschaftlich untersucht, gilt als Revisionist oder noch Schlimmeres. Der 1931 geborene Jurist und Politologe Konrad Löw sowie der 1967 geborene Theologe und Politikwissenschaftler Felix Dirsch haben sich nicht davon beirren lassen. Löw hatte sich bei „Linken“ schon in den 1980er Jahren mit kritischen, in der DDR verbotenen Büchern über den Marxismus in die Nesseln gesetzt. Zusammen mit Felix Dirsch gab er zuletzt im Jahr 2016 den Band heraus: „München war anders! Das NS-Dokumentationszentrum und die dort ausgeblendeten Dokumente“. Beide Autoren verwahrten sich darin gegen das Vorurteil, München sei quer durch die gesamte Bevölkerung „Hauptstadt der Bewegung“ gewesen.

Jüdische Zeitzeugen und das Verhältnis zu Mitmenschen

Nun haben Löw und Dirsch in mühevoller Detailarbeit unter dem Titel „Die Stimmen der Opfer“ ein „Zitatelexikon der deutschsprachigen jüdischen Zeitzeugen“ herausgegeben. Die Autoren wollen damit anhand jüdischer Zeitzeugen die Haltung der Deutschen gegenüber Hitlers Judenpolitik dokumentieren.

Der Titel des Buches mag etwas sperrig sein, aber das Buch ist es mehr als wert, unter die Leute, auch unter Schüler und Studenten zu kommen: Es lässt rund 250 jüdische beziehungsweise ursprünglich jüdische und konvertierte Zeitzeugen – auch Christen mit jüdischen Ehepartnern – über das Denken und Handeln ihrer nichtjüdischen Nachbarn zu Wort kommen. Darunter Hannah Arendt, Max Born, Albert Einstein, Heinz Galinski, Ralph Giordano, Viktor Klemperer, Karl Löwith, Marcel Reich-Ranicki, Hans Rosenthal, Hans-Joachim Schoeps, Fritz Stern, Simone Veil, George Weidenfeld. Alles ist mit 1 324 Zitaten bestens belegt. Deutlich sichtbar werden dabei auch Unterschiede in Verbreitung und Intensität des Antisemitismus je nach Region, Altersgruppe, sozialer Schicht und Konfession.

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Signifikant: Konfessionelle Unterschiede im Wahlverhalten

Dass der Antisemitismus beziehungsweise die Sympathie für Hitler etwa in protestantisch geprägten Regionen signifikant stärker ausgeprägt waren, belegen die Reichstagswahlen vom 31. Juli und 6. November 1932 sowie vom 5. März 1933. Der Mainzer 1944 geborene Politikwissenschaftler Jürgen Falter hat dies in seinem wegweisenden Buch „Hitlers Wähler“ (1991) dokumentiert. Mehr Antisemitismus gab es auch in Kleinstädten als in Großstädten sowie in den von den Folgen des Versailler Vertrages besonders hart betroffenen Regionen sowie unter Jugendlichen und unter jungen Erwachsenen.

Mit den 1 324 Belegen entsteht ein differenziertes Bild. Wer die Zitate auch nur in Auszügen liest, wird feststellen, dass die Haltung der nicht-jüdischen Deutschen gegenüber den jüdischen Landsleuten vor und nach 1933 nicht einfach „so“ oder „anders“ war. Nein, es wurden auch Testate aufgenommen, die belegen, wie Nicht-Juden Juden, auch konvertierte Juden und Eheleute aus „Mischehen“ piesackten, drangsalierten, verrieten.

Unbeachtet, weil die gängige Meinung nicht bedient wird

Wir geben hier einige Zitate wieder, die üblicherweise keine Beachtung finden, weil sie nicht dem Klischee des durch die Bank antisemitischen Deutschen entsprechen.

Heinz Galinski (1912–1992, viele Jahre Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland) zum Pogrom vom 9./10. November 1938: „Ich hörte viele Menschen, die ihrem Erschrecken Ausdruck gaben, ich sah aber auch andere, die mit hochgeschlagenem Mantelkragen an der brennenden Synagoge vorbeigingen ohne ein Wort. Sie wollten nichts wahrhaben, während andere wiederum ihrer Empörung Ausdruck gaben, dass man selbst vor Gotteshäusern nicht haltmache.“

„Wenn man alle für schuldig erklärt,
heißt das letztlich, dass es keiner war.“

Ralph Giordano (1923–2014; Journalist, Schriftsteller) über die Frühzeit der NS-Herrschaft: „Von Antisemitismus oder persönlicher Abneigung gegen uns war in dieser Frühzeit weder in der Schüler- noch in der Lehrerschaft etwas zu spüren. Die Stigmatisierung zu Nichtariern hatte also zunächst keine spürbaren Folgen.“ Über seinen damaligen Schulleiter: „Dr. Ernst Fritz hat mir etwas eingeflößt, was mich von vorneherein immun machte gegen alle Einflüsterungen und Versuchungen durch Agitation und Propaganda: seine sichtbare Verachtung für die Machthaber, mit untergründigen Spitzen und abschätzigen Bemerkungen gegen den ,Führer‘.“

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Victor Klemperer (1881–1960, Romanist, der große Tagebuchschreiber und Sprachanalytiker) über seine Schulzeit: „Von Antisemitismus war weder unter den Lehrern noch unter den Schülern Sonderliches zu spüren. Genauer rein gar nichts … Für meinen Teil begegne ich viel Sympathie, man hilft mir aus, aber natürlich angstvoll.“ Und später in den Tagebüchern 1940–1941: „Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde.“

Karl Löwith (1897–1973) über seine Vorlesungen im Jahr 1933 an der Universität Marburg: „So kam es, dass ich unter besonders günstigen Umständen zu dozieren begann und in meiner ersten Vorlesung an die 150 Hörer hatte … Im katholischen Bayern war die Abneigung gegen Hitlers Partei so stark, dass ich erwog, mich im Notfall nach München umzuhabilitieren.“

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Simone Veil (1927–2017, ab 1944 in Auschwitz, 1979 bis 1982 Präsidentin des Europäischen Parlaments) über die „Kollektivschuld“ der Deutschen: „Wenn man alle für schuldig erklärt, heißt das letztlich, dass es keiner war.“

George Weidenfeld (österreichisch-britischer Diplomat, 1919–2016): „Die gedankenlose Verurteilung jeglicher Kollaboration durch Menschen, die selbst nie der Verfolgung ausgesetzt waren und Einschüchterungen, Terror und Tod, die andernfalls gedroht hätten, nicht in ihre Überlegungen einbezogen, hat mich oft geärgert, ja angewidert.“

Allein diese sechs Zitate widersprechen der Theorie der Kollektivschuld. Die spannend und aufwühlend zu lesende Sammlung von Löw und Dirsch liefert hierzu weit über tausend facettenreiche Belege. Es ist ein bewegendes Buch, es widerlegt das „politisch korrekte“ Narrativ, dass „die“ Deutschen von Hitlers Antisemitismus erfasst gewesen seien.

Da die meisten Juden, die den Holocaust überlebten, heute oft weit jenseits der 80 bis 90 Jahr alt sind oder nicht mehr unter den Lebenden weilen, erlangen diese „Stimmen der Opfer“ wenigstens auf diesem Weg bleibende Bedeutung.


Konrad Löw/Felix Dirsch: „Die Stimmen der Opfer. Zitatelexikon der deutschsprachigen jüdischen Zeitzeugen zum Thema: Die Deutschen und Hitlers Judenpolitik“. Verlage Inspiration UN Limited und Resch, London/Berlin 2020, 391 Seiten, ISBN-13: 978-394512-730-8, EUR 15,90

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