Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Staatsdoktrin

Putins Selbstverständnis basiert auf Iwan Iljins Staatideologie

Der russische Religionsphilosoph Iwan Iljin (1883–1954) ist in der Bundesrepublik nahezu unbekannt – Man sollte sein ideologisches Weltbild kennen, wenn man Putin und sein menschenverachtendes Handeln verstehen will .
Iwan Iljin, Ausschnitt eines Gemäldes von Michail Nesterow (1921)
Foto: dekoder.org | Hinter einem gefährlichen Politiker steckt oft ein gefährlicher Denker: Iwan Iljin. Ausschnitt eines Gemäldes von Michail Nesterow (1921).

Alle möglichen Namen wurden genannt, um herauszufinden, aus welchem Ideengut, besser welcher Ideologie Wladimir Putin lebt und handelt. Ein Name fehlte: Iwan Alexandrowitsch Iljin (1883-1954), Putins Lieblingsphilosoph. Schon 2014 fragte sich Michel Eltchanikoff in einer Publikation, was geht vor „Im Kopf von Putin“.

Lesen Sie auch:

Im Jahre 2005 ließ er Iljins Leichnam in der Schweiz exhumieren und im Moskauer Donskoikloster, wo auch Puschkin und Solschenizyn liegen, bestatten. Putin war persönlich dabei. Für Patriarch Alexis II war das ein Zeichen für die Einheit von Kirche und Nation. Ein Jahr später ließ Putin Iljins Nachlaß aus der Michigan State University holen. 2009 legte Putin unter Medienbeobachtung erneut Blumen am Grab von Iljjn nieder. Seither hat er Iljin als „Begründer eines christlichen Faschismus“ bei seinen jährlichen Ansprachen im russischen Parlament regelmäßig zitiert.

„Putin zitierte Iljins ‚0rganisches Modell‘ russischer Staatlichkeit,
wonach die Ukraine ein untrennbares Glied des jungfräulichen Körpers sei“

Iljin gilt als der „Säulenheilige der konservativen russischen Staatsideologie“, der Putin bestätigt: Immer missbraucht der dekadente Westen die russische Unschuld. Als Geschichtsstudenten Putin fragten, welche Autorität ihr Fach habe, antwortete Putin nur kurz; „Iljin“. Denn dieser habe die Lehre von der „reinen und unschuldigen russischen Nation, einem natürlichen und beseelten Organismus“ vertreten, „ohne durch die Erbsünde belastet zu sein“. Dimitri Medwedew, der Vorsitzende von Putins Partei, empfahl Iljin der russischen Jugend zur Lektüre: „Mein Gebet ist mein Schwert, mein Schwert das Gebet“.

Doch was führte der Hochgepriesene für ein Leben? Iljin hatte in Moskau Jura studiert, wurde zum Gegner der Bolschewiki und als damals konservativer Monarchist Unterstützer der Weissen Armee sechsmal verhaftet und zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde nicht vollstreckt, stattdessen wurde er ausgewiesen. Per Schiff kam er nach Deutschland, zuerst nach Stettin.

Lesen Sie auch:

Putins doktrinäres Fundament

1922 begann Iljin am Russischen Wissenschaftlichen Institut in Berlin als Professor zu arbeiten. In seiner Dissertation beschäftigte er sich mit Hegel: „Von der Konkretheit Gottes und des Menschen“.

1925 erschien sein Buch „Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse“. Individualität sei verdorben und vergänglich. Gott bedeute den ununterbrochenen Kampf gegen die Feinde der göttlichen Ordnung auf Erden. Wer etwas anderes tue, als an diesem Kampf teilzunehmen, mache sich zum Werkzeug des Bösen. Solche sich manchmal auch widersprechenden Thesen machten ihn in Kreisen der Geisteswissenschaft bekannt und er las als Gastprofessor an den Universitäten Heidelberg, Freiburg und Göttingen. Mit Blick auf die Bolschewiki forderte er zum Mut auf „zu verhaften, zu verurteilen und zu erschießen“.

Von Hitler war er beeindruckt

Nachdem ihm die Nazis, deren Machtübernahme er zunächst begrüßt hatte (von Hitler war er beeindruckt, weil er in ihm einen Kämpfer gegen den Bolschewismus sah) Publikationsverbot erteilten, ging er in die Schweiz, wo die Behörden in ihm einen versteckten Nazi sahen. Er lebte in Zollikon, wo er von amtlichen Stellen genau beobachtet wurde. In seinen Vorlesungen in Deutsch nannte er Russland nicht eine kommunistische Gefahr, sondern ein „christliches Heilsversprechen der Zukunft“. Die in Zollikon über ihn geführte Akte wurde inzwischen veröffentlicht. In den 16 Jahren seines Schweizer Aufenthalts schrieb er die meisten seiner 50 Bücher, insgesamt etwa 20 auf Deutsch. Ihnen ist der Einfluss der Philosophen Edmund Husserl und Max Scheler anzumerken.

Von den Honoraren leben konnte er nicht. So nahm er gern die finanzielle Unterstützung der Frau eines Deutsch-Amerikaners an. Da seine Mutter Deutsche war, beherrschte er beide Sprachen perfekt. Dennoch ist Iljin im deutschsprachigen Raum bis heute so gut wie unbekannt geblieben, obwohl es einige Beiträge im Internet gibt. In der Sowjetunion waren seine Werke durch die Zensur verboten. Einige davon erschienen erst seit 1990 wieder in Russland. Putin zitiert daraus des öfteren in seinen Reden: „Wer Russland liebt, muss ihm Freiheit wünschen, seine internationale Unabhängigkeit und Selbstständigkeit“.

Europa und Amerika als Feindbild

Iljin deutete die orthodoxe Lehre um, indem er – wie der amerikanische Professor Timothy Snyder von der Yale Universität in seinem Buch „Der Weg in die Unfreiheit: Russland, Europa-Amerika“ schreibt – das russische Wort für Erlösung in den Bereich der Politik übertrug und das Wort für Willkür „patriotisch“ interpretierte: „Wir werden unsere Freiheit und unsere Gesetze von unserem russischen Patrioten erhalten, der Russland die Erlösung bringt“; Politik müsse den Launen eines einzigen Herrschers folgen. Als solcher sieht sich Putin. Snyder hält dagegen: Diejenigen, die an der Spitze des Staates stünden und Iljins Ideen proklamierten, seien Nutznießer des sich entwickelnden Kapitalismus in Russland. Und zum Thema Ukraine: Vor seiner Wahl zum Präsidenten bezog sich Putin in einem Zeitungsartikel ausdrücklich auf Iljin: Russland habe keine Probleme mit Nationalitäten. Statt vom ukrainischen Staat sprach Putin nur vom ukrainischen Volk, das verstreut zwischen Karpaten und Kamtschatka lebe und Teil der russischen Zivilisation sei. Russen und Ukrainer seien untrennbar verbunden.

Ähnlich äußerte sich Putin – laut Snyder – im September 2013 im Waldai-Klub. In ihm treffen sich seit 2004 alljährlich im Herbst vorwiegend russische Wissenschaftler, Journalisten und ausgewählte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Putin zitierte Iljins „0rganisches Modell“ russischer Staatlichkeit, wonach die Ukraine ein untrennbares Glied des jungfräulichen Körpers sei. „Wir haben gemeinsame Traditionen, eine gemeinsame Mentalität, eine gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame Kultur. Unsere Sprachen ähneln sich sehr. In dieser Hinsicht sind wir ein Volk“.

Laut Snyder hat der heutige russische Machthaber daraus einen großen Flächenbrand entfacht.

Putin macht aus Iljins Fiktion Politik

Stichwortgeber war Iljin sinngemäß jetzt auch bei Putins Rede vom 24. Februar bei seinem Angriff auf die Ukraine. Aus Iljins Fiktion wurde harte Politik. So gewannen der Philosoph und der Politiker gemeinsam an Einfluss oder wie der „Spiegel“-Russland-Korrespondent Christian Esch meint: „Putins Russland bewegt sich nach zwei Jahrzehnten dorthin zurück, wo die Sowjetunion vor drei Jahrzehnten aufgehört hat“. Die Juristin und Slawistin Angelika Nußberger, Professorin an der Universität Köln, stellt fest: „Der Aufbruch einer Gesellschaft, die in den neunziger Jahren zuerst alles besser und dann alles anders machen wollte, ist gescheitert“.


Der Autor ist freier Journalist und war bis zu seinem Ruhestand Leiter der Hauptabteilung „Erziehung und Gesellschaft“ im Hörfunk des Bayerischen Rundfunks.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Norbert Matern Angelika Nußberger Bolschewisten Dmitrij Medwedew Edmund Husserl Georg Wilhelm Friedrich Hegel Max Scheler Religionsphilosophen Timothy Snyder Wladimir Wladimirowitsch Putin

Weitere Artikel

Zu den originellsten und bis heute diskutierten Gedanken über das Wesen der Zeit gehören ausgerechnet diejenigen des frühchristlichen Bischofs.
29.02.2024, 07 Uhr
Stefan Rehder

Kirche

Der Kurienkardinal meint, die Aussagen des Papstes zu Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland aus dem Kontext gerissen worden seien.
18.03.2024, 14 Uhr
Meldung
Wir sind gerufen, Fürsprecher zu sein für die Welt. Dazu spornt uns die Geschichte des Mose an, erklärt Papst Franziskus in seinen Gebetskatechesen.
17.03.2024, 17 Uhr
Papst Franziskus