Der am 24. Februar begonnene völkerrechtswidrige Einmarsch Russlands in die Ukraine hat bei konservativ gesinnten Zeitgenossen das allzu positive Bild, das viele von ihnen sich im Lauf der Jahre von Wladimir Putin gemacht haben, nachhaltig „nach unten“ korrigiert - besser spät als nie.
Denn der selbsternannte Hüter von Familie, Heimat und orthodoxem Christentum hat mit dem rücksichtlosen Überfall auf sein Nachbarland und der Absicht, dieses „Brudervolk“ von der Landkarte zu tilgen, eindrücklich bewiesen, dass ihn eben solche Werte, die mit obengenannten Begriffen normalerweise verbunden sind, überhaupt nicht interessieren. Vielmehr legt der Kremlchef, den manche Anhänger im Westen möglicherweise bislang als eine Art russischen Ronald Reagan betrachtet haben (als solcher erweist sich nunmehr für die Ukraine Wolodymyr Selenskyj), seine Ideologie offen dar, die weder mit Patriotismus, frommen Christentum noch dem Schutz des Lebens und der Familie in Einklang zu bringen ist.
Putin ist weder konservativ noch ein Christ
Dass es ausgerechnet Putin, dem Gewaltherrscher, Auftragsmordgeber, Kleptokraten und – ja, auch das darf in diesem Zusammenhang ruhig erwähnt werden – geschiedenen, im Konkubinat lebenden Vater mehrerer unehelicher Kinder so lange Zeit gelungen ist, sich in den Augen nicht weniger außenstehender Konservativer als treuen Sachverwalter von Tugenden, Anständigkeit und christlicher Frömmigkeit sowie „sein“ Russland als eine Art kitschig-frommes Disneyland mit Prügelstrafe und Sehnsuchtsort für vom linksliberalen Zeitgeist enttäuschte Konservative und Katholiken in aller Welt inszenieren zu können, ist das Eine. Doch wer von diesem Trugbild des gewieften und an Desinformation und Täuschung geschulten KGB-Zöglings auch nach dem Einmarsch die Ukraine nicht lassen will, muss sich ernsthafte Rückfragen über das eigene konservativ-katholische Selbstverständnis gefallen lassen.
Denn Putins Ideologie – maßgeblich befeuert durch „Philosophen“ wie Alexander Dugin – ist weder vom Christentum noch vom Konservatismus, sondern von zwei anderen Dingen getrieben: Vom sogenannten „Neo-Eurasismus“ und vom Ressentiment. Hinter ersterem verbirgt sich eine politische Theorie, angesichts derer maßgebliche Vordenker der „Konservativen Revolution“ und Geostrategen wie Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck oder Karl Haushofer wie ambitionslose Langweiler anmuten: Denn die Vertreter des Neo-Eurasismus streben einen von Russland dominierten, zwischen Europa und Asien liegenden „Kontinent Eurasien“ an, der letztendlich in einem fundamentalen Gegensatz zur „romano-germanisch“ geprägten westlichen Welt stehen soll.
Dessen maßgeblicher Vordenker Dugin fordert allen Ernstes die Errichtung eines russischen Imperiums, dass „von Dublin bis Wladiwostok“ reichen soll und sich innerlich auf einen „Endkampf“ mit den USA und ihren Verbündeten vorbereitet. Dies soll vor allem durch die Stärkung der „russischen Kultur“ beziehungsweise dem, was Dugin und seine Anhänger hierfür halten, geschehen. Selbst wenn Putin die Dinge, die Dugin (immerhin Berater des russischen Duma-Präsidenten) sich nicht scheut auszusprechen, nicht in gleichem Maße im Mund führt wie jener, ist es spätestens seit dem Überfall auf die Ukraine offensichtlich, dass der russische Staatspräsident von eben solchem Denken geprägt ist.
Vom Ressentiment getrieben wie Hitler
Als ebenso gefährlich wie oben genannte ideologische Spinnereien muss jedoch die von Ressentiments geleitete Persönlichkeitsstruktur des Kremlherrschers bezeichnet werden. Es ist offensichtlich, dass Wladimir Putin, genauso wie andere Vertreter seiner Generation, den Untergang der Sowjetunion nie verwunden haben und diesen als „Niederlage“ und „Schande“ betrachten.
Adolf Hitler sagte bekanntermaßen im Verlauf des Zweiten Weltkriegs, dass es einen „zweiten 9. November 1918“, also eine weitere Niederlage und Kapitulation Deutschlands in einem Weltkrieg, nicht geben werde – die historischen Resultate solchen Denkens sind bekannt. Mit Blick auf Putin muss es sich erst noch erweisen, ob er es tatsächlich wagt, in diese unrühmlichen Fußstapfen zu treten. Im Hinblick auf seine innere Fremdheit gegenüber konservativen und christlichen Werten wie Mitleid, Mäßigung, gesundem Patriotismus und Nächstenliebe wären sie beinahe schon konsequent.
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