Als Begründung für die kriegerische Aggression nannte Wladimir Putin im Vorfeld, aber auch seit den ersten Tagen der Invasion in die Ukraine die „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“. So ist die Frage nicht unberechtigt und wird immer wieder auch an mich mit Verwunderung gestellt, wie dies zu verstehen sei. Was ist in der Ukraine nazistisch, so dass sie auf diesem verheerenden Weg davon befreit werden sollte und müsste? Auf diesen Vorwurf hin fragt auch der jüdisch-stämmige Präsident Wolodymyr Selenskyj: Putin möge seinen Vorfahren, die Opfer des nationalsozialistischen Holocaust im Zweiten Weltkrieg wurden, erklären, wie er das eigentlich meine und wie das überhaupt möglich sei.
Den Hintergrund der wirren Vorwürfe Putins bildet die sogenannte Idee der „Russischen Welt“. Zum ersten Mal wird dieser Begriff in einem schriftlichen Zeugnis im 11. Jahrhundert, anlässlich der Wiedereinweihung einer Kirche in Kiew erwähnt, und zwar als Bezeichnung der Epoche der slawischen Fürstentümer mit Zentrum in Kiew (Großfürstentum), noch bevor aus dem quasi ostslawischen Urstaat „Kiewer Rus“ die drei heutigen Völker und Länder der Belarussen, Russen und Ukrainer hervorgingen und sich mit der Zeit auseinanderentwickelt haben.
Eine nationalistische Ideologie
„Russische Welt“ entstand demnach ursprünglich als ein sozio-kulturelles Phänomen und wurde besonders in der post-sowjetischen Zeit in Russland aufgegriffen und weiterentwickelt. Zu den wesentlichen Identitätsmerkmalen gehören: die orthodoxe Konfession und die russische Sprache. Nach dem Zerfall der Sowjetunion nahm diese Idee verstärkt den Aspekt der gemeinsamen ostslawischen Geschichte in den Blick und diente in Russland als konsolidierend und Einheit stiftend. Dies galt innerhalb von Russland und auch für die Russen länderübergreifend: Alle, die Russisch sprechen, und alles, was irgendwie, auch wenn es nur entfernt mit Russland zu tun hat, wurde in diese Idee integriert. Auch die Russisch-Orthodoxe Kirche trug und trägt die Idee mit, die eine Festigung und Verbreitung der russischen Orthodoxie sicherstellen soll.
Seit den 2000er Jahren griff Putin diese Gedanken gezielt auf und entwickelte sie zur bestimmenden Leitidee für die Innen- und Außenpolitik. Dabei wurde immer mehr deutlich, dass aus dieser gesellschaftlichen Leitidee eine nationalistische Ideologie wurde, mit der zum Teil massivster Einfluss staatlicherseits genommen wurde: beispielsweise staatlich finanzierte Projekte im In- und Ausland, offizielle Ansprachen der Regierungsvertreter, die ersten militärischen Invasionen in Georgien (2008) und der Krim sowie in der Ostukraine (2014) unter dem fadenscheinigen Vorwand des Schutzes der russischsprachigen Bevölkerung und der russischen Kultur und Sprache. Diese Ideologie scheint aus Sicht der russischen Regierung mittlerweile mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln durchgesetzt werden zu dürfen.
Zusammenbruch der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe
Dabei handelt es sich um eine extreme Form des russischen Nationalismus, der von den russischen regierenden Eliten für gut geheißen, weiterentwickelt und gefördert wird. Geprägt wurde diese Ideologie nicht allein durch einflussreiche Ideologen wie Alexander Dugin, sondern durch Putin selbst, dessen persönliche Visionen und Interpretationen der Geschichte den Grundstock des neo-imperialistischen Nationalismus prägten. So etwa die Meinung, dass die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts der Zusammenbruch des Kommunismus und der Sowjetunion gewesen sei. Letztere wiederum müsse durch verschiedene wirtschaftliche und internationale Bündnisse auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR restauriert werden, und Russland sei der würdigste und dazu berufene Nachfolger der Sowjetunion. Dies bildet den Hintergrund für alle politischen Handlungen, Bestrebungen und Forderungen des aktuellen russischen Präsidenten, besonders Richtung Westen.
Mit der Verwirklichung seiner Ideologie einer „Russischen Welt“ und mit der damit zusammenhängenden Bewahrung des Russischen und der russisch Denkenden und Sprechenden verfolgt der Kreml die Heimholung (die vermeintliche „Befreiung“) aller ehemaligen Sowjetrepubliken und hat zugleich eine existenzielle Angst, dass dies nicht gelingen könnte. Relativ leicht scheint die Implementierung dieser Ideologie Russlands in Belarus vonstattenzugehen. Doch die jüngsten Proteste und Geschehnisse sowohl in Belarus als auch in Kasachstan haben gezeigt, dass die Durchsetzung dieser Ideologie auf Widerstand trifft. Besonders deutlich wurde die Kritik an der „Russischen Welt“ in der Ukraine und dies seit Jahren.
Er schreckte nie vor unsauberen Mitteln zurück
Obwohl Putin als ehemaliger Chef des Geheimdienstes auch vor unsauberen Mitteln nicht zurückschreckt (Empörung lösten hier vor allem die staatlichen Auftragsmorde im Ausland aus), konnte er nach den demokratischen und proeuropäischen Protesten des Euromaidan in der Ukraine trotz jahrzehntelangen Bemühungen in dieser Richtung nichts erreichen. Nur logisch, wenn auch erschreckend, ist seine jetzige Reaktion: Er greift nun zum gewaltsamsten Mittel: dem Krieg.
Um die weitere freie Entwicklung in Richtung Mitteleuropa und liberaler Demokratie zu verhindern sind zwei wichtige Ziele gesetzt. Zunächst wäre für Putin wichtig, die Ukraine zu entmilitarisieren und von den ukrainischen, demokratisch gewählten Eliten zu säubern, um dann in einem zweiten Schritt ein prorussisches Regime einzurichten; dieses könnte dann die Ideologie der „Russischen Welt“ nach und nach implementieren.
Dabei fragt man sich, wie Putin das umzusetzen gedenkt, wenn das ganze Volk nicht nur eine russische Hegemonie über seinem Land, sondern vor allem die Zerstörung seiner mühsam aufgebauten Demokratie und Freiheit ablehnt. Greift Putin zu den bekannten Methoden der Massenverbannung und -vernichtung? Nach der Drohung mit seinen – nuklearen – Abschreckungswaffen scheint leider alles möglich, auch das Undenkbare.
Einnahme Kiews für Putin zentral
Die Einnahme der Hauptstadt Kiew ist dabei für Putin zentral. Zunächst, weil die aktuelle und legitime ukrainische Regierung dort regiert. Darüber hinaus ist vor seinem ideologischen Hintergrund klar: Was ist Russland mit seiner auf der Ideologie der „Russischen Welt“ gründenden Geschichte ohne Kiew, das geschichtliche Zentrum der Ostslawen, der Kiewer Rus, noch wert? Die Stadt muss aus seiner Sicht unbedingt der russischen Einflusszone untergeordnet werden beziehungsweise wenigstens die Ideologie der „Russischen Welt“ mittragen.

Für meine Begriffe stand das sowjetische Rot schon immer dem nazistischen Braun nahe. In diesen Tagen zeigt Putin sein wahres Gesicht als sowjetisch und neo-imperialistisch inspirierter Diktator. Die rote Farbe seiner sowjetisch-russischen Ideologie kippt in das tiefste Braun. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch verstehen, warum ihm die äußeren Flügel sowohl der extremen rechten als auch der extremen linken Kräfte in der ganzen Welt imponierten und warum er mit ihnen Verbindungen pflegte.
Die bisher ruhmreichen Seiten des großen russischen Volkes, vor dem ich als unserem Nachbarn mit all seinen Verdiensten in Kultur, Technik und Sport großen Respekt habe, werden in diesen Tagen beschmutzt, so dass sie in Zukunft schwer zu reinigen sein werden. Seit der am 24. Februar eröffneten kriegerischen, völkerrechtswidrigen Invasion in die Ukraine, wird die Geschichte Russlands leider mit brauner Tinte geschrieben und mit roten Flecken des auf beiden Seiten vergossenen Blutes gebrandmarkt. Denn wir sind Zeitzeugen eines nazistischen Vorgehens, eines Vernichtungskrieges gegen das ukrainische Volk, gegen seine Identität, die mit der Idee der „Russischen Welt“ nicht identisch und nicht kompatibel ist.
Er zweifelt das Existenzrecht der Ukraine an
Die Ukrainer lassen sich diese Ideologie nicht überstülpen, weder die ukrainisch- noch die russisch-sprechenden; genauso wie es deutschsprachige Völker und Staaten gibt, die nicht unbedingt ein Staatsgebilde darstellen müssen und wollen.
Es ist mit der weißen Weste von Putins Russland nun gänzlich aus! Denn er geht brutal, mit fürchterlicher Aggression gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine vor. Wir sehen immer wieder Szenen aus den im Osten umkämpften Städten und Gemeinden. Wir sehen die russischen Soldaten, die sich wundern, trotz aller Versprechen zu Hause nicht als Befreier mit Blumen empfangen zu werden. Das ukrainische Volk demonstriert gegen sie mit den Rufen in dem für sie verständlichen Russisch: „Ihr seid hier fremd und Invasoren.“ „Geht lebend nach Hause, woher ihr gekommen seid.“ „Wir müssen von niemand und vor allem nicht von eurem Putin befreit werden!“
Putin erlaubt sich Unerhörtes und zweifelt sogar das Existenzrecht der Ukraine als solche an. Seine Ideologie entlarvt sich jetzt als ukrainophob, brutal, menschenverachtend und voll von Lügen und Unwahrheiten. Sie wird als solche in die Geschichte der zivilisierten Welt eingehen. Putin selbst zeigt sich nicht nur der westlichen Welt in den vergangenen Wochen als skrupelloser Lügner und Despot, sondern auch seinem eigenen russischen Volk gegenüber.
Offensichtlich demonstriert er in diesen Tagen seinen unerbittlichen Kampf gegen alles, was freiheitlich-demokratisch und ukrainisch ist. Dem verpasst er eine „nazistische“ Etikette, weil diese seine Ideologie bedroht, und geht mit aller Gewalt dagegen vor. Von einer „nazistischen“ Ukraine zu reden, ist nur ein Ablenkungsmanöver für die Öffentlichkeit. Verraten nicht seine Methoden und neo-imperialistischen Absichten, in der Welt eine neue Ordnung zu installieren, ihrerseits einen „nazistischen“ Charakter? Doch seine „Russische Welt“ wird an der Ukraine zerschellen.
Der Autor, 1976 in Ternopil geboren, ist Priester der ukrainisch-katholischen Kirche und Rektor des Collegium Orientale Eichstätt.
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