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Wilfried Sellars über die Grenzen des Empirismus

Gibt es die pure Wahrnehmung als Erkenntnisfundament? Der Philosoph Wilfried Sellars verneinte das und zeigte die Grenzen des Empirismus.
Wilfried Sellars,  Philosoph
Foto: zuztu | Wilfried Sellars löste mit seiner Kritik am in der Erkenntnis Gegebenen einen philosophischen Erdrutsch aus, der immer noch an Fahrt aufnimmt.

Das Wörtchen das „Gegebene“ zieht sich wie ein roter Faden durch die Geistesgeschichte. Für Christen ist es ein grundlegender Begriff, denn die Welt ist das mit der Schöpfung dem Menschen Gegebene. Auch das eigentlich Unverfügbare wie die Würde oder das Leben sind dem Menschen gegeben, oder wie es theologisch heißt, geschenkt. Auch bis zum Mittelalter änderte sich daran nichts, in der mittelalterlichen Philosophie haben sich die Denker samt ihrer Vernunft als Teil eines Ganzen angesehen, das durch Gott gegeben wurde.

Das änderte sich mit Descartes und seinen Schriften über die Methode und die Regeln, in denen er eine methodische Vernunft dachte, die prozesshaft Wissen hervorbringt. Das Gegebene stand hier erstmals in Frage, denn die methodisch leitende Vernunft hatte auf einmal bei dem, was als die Gegenstandswelt angesehen wurde, ein Wörtchen mitzureden. Vollends änderte sich die Situation bei Kant. Hier war nicht mehr die Welt, das Reale, gegeben, sondern nur noch das der menschlichen Sinnlichkeit ungeordnete Material von Raum und Zeit – für dessen Ordnung waren Verstand und Vernunft zuständig.

Vernunft gebiert die Inhalte der Welt?

Allerdings waren hier die Gegebenheiten in Raum und Zeit unabhängig von Verstand und Vernunft. Dieser letzte Rest des Gegebenen – Kant hat diesen Begriff ausdrücklich gebraucht – war dann bei Hegel ganz beseitigt, bei dem die Vernunft die Inhalte der Welt selbst hervorbrachte; Hegel wollte diese Vernunft wiederum als das göttlich Schöpferische verstanden wissen im Sinne des göttlichen Nous wie bei Aristoteles.

Mit Kant und Hegel war im 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart der Gegensatz erreicht, mit dem man über den Begriff des Gegebenen diskutierte. Kant gilt nun als der, bei dem es das Gegebene gibt, bei Hegel gibt es das nicht. Philosophische Diskussionen der letzten Jahrzehnte kreisten vorwiegend um dieses Problem des sogenannten Realismus.

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Eine grundsätzliche Kritik an nichtbegrifflichen Inhalten

Der amerikanische Philosoph Wilfried Stalker Sellars (1912–1989) wird in diesem Zusammenhang immer wieder genannt. Auch Sellars war ein Kritiker des Gegebenen, er prägte sogar den Ausdruck vom „Mythos des Gegebenen“ in seinem bis heute immer wieder zitierten Werk „Der Empirismus und die Philosophie des Geistes“ (1956). Sellars kritisiert darin die besonders im Empirismus verbreitete Meinung, dass unserer Erkenntnis Sinnesdaten als Basis zugrunde liegen, die nicht mehr bezweifelt werden können. Dass wir also ganz einfach Rot oder Grün wahrnehmen oder andere Sinnesempfindungen haben und auf dieser Grundlage letztlich Urteile fällen – in der Philosophie spricht man hier von einer fundamentalistischen Theorie. Natürlich streitet Sellars nicht ab, dass wir solche Empfindungen haben. Und er weiß auch, dass wir auch sinnliche Grundlagen für sicheres Tatsachenwissen haben müssen. Was Sellars aber sagen will ist, dass wir Erfahrungen mit einer Theorie der Berechtigung verwechseln, über diese Erfahrungen zu urteilen. Es scheint für ihn selbstverständlich und unwiderlegbar zu sein, dass wir so etwas Einfaches wie Grün wahrnehmen können. Aber Sellars geht es um eine Kritik der Auffassung, dass es sogenannten nichtbegrifflichen Inhalt gebe, also die rohe Wahrnehmung, sowie sie uns erscheint.

Wer schon mal seine Zimmerwand gestrichen und nicht nur Raufaserweiß benutzt hat, weiß, dass es viele Farbschattierungen gibt, die er namentlich nicht kennt, aber wahrnehmen würde. So kann eine festgelegte Farbbezeichnung eine hellere Farbschattierung repräsentieren als eine andere definierte Farbbezeichnung derselben Farbe. Gibt es also doch unabhängig von diesen Bezeichnungen nicht doch nichtbegriffliches Grün? Welch ein Schreck aber für den Maler, der im Geschäft die Farbe gesehen hat, die nun zu Hause im hellen Wohnzimmer ganz anders wirkt.

„Jede simple Wahrnehmung steht in einem Geflecht
von Vorbedingungen und ist nicht einfach gegeben“

Bei Sellars ist es der Krawattenverkäufer, der auch um Farbunterschiede in verschiedenem Licht weiß und den Kunden vor die Tür bittet, um die richtige Farbe zu finden. Darum spricht Sellars auch von den Standardbedingungen von Wahrnehmung. Wahrnehmung findet also als „situiertes Szenario“ statt und ist keineswegs selbstverständlich, sie steht unter Bedingungen. Und das bedeutet für ihn und die ihm folgenden Denker, dass diese Bedingungen, die die Wahrnehmung strukturieren, letztlich im Rahmen einer sozialen Praxis stehen, die nie die Praxis eines Einzelnen sein kann. Wenn wir einfach nur sagen „das ist rot“, dann ist damit schon eine Einordnung verbunden in einem Farbspektrum, das keine Privatmeinung ist, weil das Farbspektrum nicht unabhängig vom Einzelnen existiert; in moderner angelsächsischer Redeweise handelt es sich also um eine Konvention, nach der hiermit eine Wahrheitsbehauptung vorliegt oder ein Sehen von etwas, das der Fall ist, im Unterschied vom bloßen Anschein der Röte etwa. Das heißt für Sellars, jede simple Wahrnehmung steht in einem Geflecht von Vorbedingungen und ist nicht einfach gegeben.

Damit steht Sellars im modernen Diskurs nicht auf der Seite Kants, sondern erklärtermaßen auf Hegels. Schon der sagte, dass etwas Unmittelbares schon ein Vermitteltes ist – und das ist das Unmittelbare immer, sonst wäre es eben nicht das identifizierte „Unmittelbare“. Das Unmittelbare (Erlebnis einer Farbe) sei nicht darstellbar, weil es ja durch die Darstellung vermittelt und nicht mehr unmittelbar ist. Das will auch Sellars sagen.

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Sinnesdaten als Fundament des Wissens

Das Überraschende an der Theorie von Sellars ist, dass hier das Gegebene auf dem Boden des philosophischen Empirismus zurückgewiesen wird, für den es immer selbstverständlich war, denn er hat Sinnesdaten als unhinterfragbares Fundament unseres Wissens behauptet. Auch für den naturwissenschaftlichen Empirismus ist diese Neuauflage eines alten Problems durch Sellars nicht unerheblich; denn die Neurowissenschaften können etwa sinnliche Stimuli auf der Netzhaut oder sonst am Körper feststellen, aber nicht, wie sich etwa ein Hintergrundwissen des Untersuchten auf seine Wahrnehmung auswirkt. Empiristen bestehen ja darauf, dass letzte Sinnesdaten begrifflich unstrukturiert sind, was gerade die amerikanische Philosophie zurzeit immer mehr in Zweifel zieht. Besonders Richard Rorty („Der Spiegel der Natur“, 1979), John McDowell („Geist und Welt“, 2001) sowie Robert Brandom („Expressive Vernunft“, 2000; „From Empirism to Expressivism – Brandom reads Sellars“, 2015) haben die Gedanken von Sellars konstruktiv weitergeführt.

Das christliche Denken in seinen Vorstellungen vom Gegebenen ist damit nicht angetastet, denn dessen Sicht ist eine metaphysische in einem erweiterten Begriff von Vernunft, jenseits der Gedanken von Sellars. Manchmal muss man allerdings auch „vor die Tür gehen“, um Christus besser zu erkennen.

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