Die beiden großen Kirchen in Deutschland sollten sich mehr auf ihr geistliches Kerngeschäft konzentrieren, statt Umwelt- und Sozialpolitik zu machen“: Dieser Aussage stimmten in einer vom Meinungsforschungsinstitut INSA im Auftrag der „Tagespost“ durchgeführten Umfrage 48 Prozent der Befragten zu; unter Katholiken waren es 50 Prozent. Reaktionen auf die Veröffentlichung dieses Meinungsbildes vermitteln den Eindruck, dass gerade konservative Christen das Umfrageergebnis begrüßen und sich dadurch bestätigt fühlen.
„... als glaubten sie tatsächlich und nicht bloß
in einem metaphorischen Sinne an Ihn,
wenn die vorösterliche Bußzeit trendbewusst
zum „Klimafasten“ umgewidmet wird ...“
Der Affekt, der sich in solchen Reaktionen ausdrückt, erscheint angesichts des vorherrschenden Stils der öffentlichen Selbstdarstellung der Kirche(n) in Deutschland durchaus verständlich. Wenn es scheint, dass Kirchenvertreter es kaum noch wagen, von Gott in einer Weise zu sprechen, als glaubten sie tatsächlich und nicht bloß in einem metaphorischen Sinne an Ihn, wenn die vorösterliche Bußzeit trendbewusst zum „Klimafasten“ umgewidmet wird, wenn die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz Leitfäden für „geschlechtergerechte Sprache im Gottesdienst“ erarbeitet und im Zuge dessen sogar ein neues Glaubensbekenntnis erfindet. Dann muss man sich nicht wundern, wenn der Eindruck entsteht, im institutionellen Apparat der Großkirchen grassiere eine geistig-geistliche Orientierungslosigkeit, angesichts derer ein sozialpolitischer Aktionismus, der sich letztlich opportunistisch an die Trends der säkularen Gesellschaft anhängt, geradezu den Charakter einer Art Ersatzreligion annimmt.
Dennoch erscheint die verbreitete Zustimmung konservativer Christen zu der in der INSA-Umfrage formulierten „Kerngeschäft“-These bedenklich, ja sogar befremdlich – und das in mehrfacher Hinsicht.
Sprechblasen des Marketing in und aus der Kirche
So stellt schon allein die Rede vom „Kerngeschäft“ einen augenfälligen Beleg dafür dar, wie sehr die aktuellen Debatten über die Zukunft der Kirche von Sprech- und Denkweisen aus der Welt des Marketings durchdrungen sind; hier übernehmen Konservative anscheinend bedenkenlos ein Narrativ, das vom kirchenpolitisch liberalen Lager seit mindestens zwei Jahrzehnten vorangetrieben wird: Die Kirche als eine Anbieterin auf dem Markt für Spiritualität und Lebenshilfe, die ihr Angebot an den Erwartungen und Bedürfnissen ihrer Zielgruppe auszurichten habe. Wenn eine konservative Klientel nun eine Besinnung der Kirche „auf ihr geistliches Kerngeschäft“ einfordert, mag dies inhaltlich in diametralem Gegensatz zu den Wünschen und Erwartungen jener Zielgruppe stehen, die sich von Klimafasten und geschlechtergerechter Sprache angesprochen fühlt, aber prinzipiell drückt sich darin dieselbe Anspruchshaltung gegenüber einer als Dienstleisterin verstandenen Kirche aus.
Mindestens ebenso problematisch ist, dass eine falsche Dichotomie zwischen dem geistlichen Auftrag der Kirche und ihrem gesellschaftlichen und politischen Engagement suggeriert wird – so als stünden die Sorge um das Heil der Seelen und der Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung im Widerspruch oder zumindest in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. Eine solche Auffassung, die den Daseinszweck der Kirche auf „rein spirituelle“ Aufgaben einengen will, verkennt, dass – wie Marco Sermarini, Gründer und Leiter einer katholischen Laienkommunität im mittelitalienischen San Benedetto del Tronto, es formuliert – „die Lehren Jesu Christi das ganze Leben betreffen und nicht bloß den ,religiösen‘ Teil davon“.
„Wer die Politik aus der Kirche verbannen will,
verbannt umgekehrt auch die Kirche aus der Politik.“
Eine Kirche, die sich damit zufrieden gäbe, nur für einen abgegrenzten Teilbereich des Lebens ihrer Mitglieder „zuständig“ zu sein und sich aus den übrigen Lebensbereichen herauszuhalten,liefe Gefahr, tatsächlich zu dem zu werden, als was eine marxistisch orientierte Religionskritik sie von jeher betrachtet: zu einer reinen Beschwichtigungs- und Vertröstungsanstalt, ja, zum sprichwörtlichen „Opium für das Volk“. Zu bedenken ist auch: Wer die Politik aus der Kirche verbannen will, verbannt umgekehrt auch die Kirche aus der Politik. Ein Säkularismus, der den Grundsatz der „Trennung von Staat und Kirche“ nicht allein im Sinne einer wechselseitigen Unabhängigkeit der Institutionen, sondern als eine prinzipielle „Trennung von Politik und Religion“ versteht, in dem Sinne, dass religiöse Überzeugungen im politischen Diskurs nichts zu suchen hätten, galt noch vor nicht allzu langer Zeit als Merkmal der politischen Linken; dass sich nun, der Aufschlüsselung der INSA- Umfrageergebnisse nach Parteipräferenz zufolge, 61 Prozent der Anhänger von CDU/CSU – also von Parteien, die sich selbst explizit als „christlich“ bezeichnen – zu dieser Auffassung bekennen, muss zu denken geben; ebenso wie auch die Tatsache, dass gerade die Wähler von Bündnis 90/Die Grünen die einzigen sind, bei denen die These vom „geistlichen Kerngeschäft“ der Kirchen mehrheitlich keinen Anklang findet.
Sicherlich wäre es voreilig, aus diesen Umfragedaten ableiten zu wollen, dass gerade diese Befragten das Wesen und die Aufgaben der Kirche richtiger verstanden hätten als alle anderen. Aber auch die naheliegende Annahme, die grundsätzliche Haltung zu der Frage, ob Kirchenvertreter sich politisch positionieren sollen, hänge vom Grad der Übereinstimmung zwischen kirchlichen Stellungnahmen und den eigenen Positionen ab, verdient es, hinterfragt zu werden. Es wäre zu erwägen, ob nicht zumindest teilweise auch ein genau umgekehrter Kausalzusammenhang vorliegt: Ob also womöglich diejenigen, die im Sendungsauftrag der Kirche auch eine politische Dimension erkennen, für ihre eigenen Anliegen mehr Gehör und Resonanz innerhalb der Kirche(n) finden als jene, die eine politische Rolle der Kirche von vornherein ablehnen.
Allen politischen Lagern sagen, was sie nicht hören wollen
Zugespitzt gesagt: Wenn wir im Vaterunser beten „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“, ist das durchaus auch eine politische Aussage. Wenn es uns mit dieser Bitte Ernst ist, dann müssen wir auch bereit sein, uns fragen zu lassen, ob unser eigenes Handeln dazu beiträgt, dass Gottes Wille auch auf Erden geschieht, oder eher zum Gegenteil. Das Bewusstsein für diese Frage wach zu halten und Maßstäbe dafür zu benennen, wie der Wille Gottes auch in Politik und Gesellschaft zur Geltung gebracht werden kann und muss, gehört sehr wohl zu den Aufgaben der Kirche. Mit anderen Worten, die Kirche hat eine Verpflichtung, prophetisch zu den politischen Verantwortungsträgern und zur Bevölkerung zu sprechen – und da keine politische Richtung, kein Parteiprogramm gänzlich mit dem christlichen Menschenbild und den christlichen Konzepten von Gemeinwohl und Naturrecht übereinstimmt, bedeutet das, dass die Kirche den Vertretern aller politischen Lager gerade das sagen muss, was sie nicht hören wollen.
Ob die politischen Positionierungen kirchlicher Amtsträger, Gremien und Verbände diesem Anspruch der prophetischen Rede immer gerecht werden, darf, wie oben bereits angedeutet, sicherlich infrage gestellt werden. Somit ist es zweifellos legitim, anzumahnen, die Kirche solle sich darauf besinnen, dass das Heil in Jesus Christus liegt und nicht in säkularen Ideologien, tagespolitischen Parolen oder soziologischen Trends. Das ist jedoch etwas grundsätzlich Anderes, als zu suggerieren, Stellungnahmen zu sozialen und politischen Fragen gehörten nicht zum „Kerngeschäft“ der Kirche.
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