Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Interview

„Ich war ein Idiot“

Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq im Gespräch über Islam, Wokismus und Christentum.
Michel Houellebecq, französische Star-Autor
Foto: Boris Roessler (dpa) | Der französische Star-Autor Michel Houellebecq gemeinsam mit David Engels im Interview der Tagespost.

Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq („Unterwerfung“, „Vernichten“) zählt seit Jahrzehnten zu den führenden Intellektuellen Europas. Mitte Juli erscheinen seine Tagebuchaufzeichnungen „Einige Monate in meinem Leben. Oktober 2022 – März 2023“ auf Deutsch.Ute Cohen hat für “Die Tagespost“ den 66-jährigen Franzosen zusammen mit dem belgischen Althistoriker und Tagespost-Kolumnisten David Engels („Auf dem Weg ins Imperium“) in Paris besucht, um mit ihm über die Rolle der Religionen, neue Ideologien und die Zukunft der europäischen Zivilisation zu sprechen. Ein Gespräch in drei Teilen. 

Herr Houellebecq, seit der Veröffentlichung Ihres jüngsten Buches häufen sich in Deutschland die Liebesaufkündigungen. Was ist das für ein Liebeskummer, den Sie den Literaturkritikern bereiten?

Michel Houellebecq (MH): Ich habe keine Ahnung. Das sollten Sie mir lieber sagen. In Frankreich habe ich keine Überraschungen erlebt; die Reaktionen der Kritiker waren durch ihre früheren Reaktionen abzusehen.

David Engels (DE): Ursprünglich wurden Sie von den deutschen Kommentatoren auf die Rolle des antikapitalistischen Denkers reduziert. Seit "Unterwerfung", Ihrem Interesse am Katholizismus und Ihrer Kritik an der Migration ist das schwieriger geworden. Meiner Meinung nach greifen sie Sie an, weil sie enttäuscht sind.

Lesen Sie auch:

Wäre es möglich, dass gerade ein Schauprozess veranstaltet wird, um den Tod des alten weißen Mannes, Symbol des Patriarchats, zu feiern?

MH: Die erste Hypothese ist nicht richtig. Ich bin nicht mehr oder weniger antikapitalistisch als früher. Aber ich bin immer noch ein weißer Mann, und ich bin älter geworden. Ich habe es als angenehm empfunden, junge Leute als Idioten bezeichnen zu können, ähnlich wie Bret Easton Ellis in White.

Mehr denn je spürt man in Ihrem neuen Buch etwas, das die Identifikation weniger leicht macht: Den irrenden Menschen. Was bedeutet das Irren in Ihrem Leben?

MH: In meinen tiefsten Überzeugungen wie der Sterbehilfe irre ich nicht. Aber ja, es gibt immer mehr Dinge in der Welt, die ich nicht verstehe. 

DE: In dieser Welt der absoluten Gewissheiten verzeiht man nicht mehr die geistige Größe, zuzugeben, dass man nicht alles weiß: Zweifeln und Irren sind politisch verdächtig geworden.

Michel Houellebecq - Teil 1
Foto: Archiv

In "Quelques mois dans ma vie" beschreiben Sie ein Bestiarium, das von einer Kakerlake, einer Sau und einer Viper bevölkert wird. Das wird als diskriminierend und erniedrigend empfunden.

MH: Das ist seltsam, denn ich selbst hatte keine Skrupel, Tiernamen zu verwenden. Aber ich habe wirklich gezögert, eventuell doch die echten Namen der Personen zu verwenden, was ich noch nie getan habe, außer wenn es sich um berühmte Menschen handelte, deren Namen eine Bedeutung hatten und etwas symbolisierten. Diesmal war es anders, sie hatten angefangen, über mein Privatleben zu sprechen, es waren wirklich Ad-hominem-Angriffe. Aber Tiernamen zu verwenden, nein, da sehe ich kein Problem. Das haben die Nazis nicht erfunden.

Lesen Sie auch:

Mit welchem Tier würden Sie sich denn identifizieren und warum?

MH: Vielleicht eine Schildkröte?

Das ist lustig. Es gibt Schildkröten auf den Seychellen, die unglaublich zärtlich Liebe machen ...

MH: Ja, und das dauert stundenlang. 

DE: Und gleichzeitig leben sie in ihrer Knochenfestung und verteidigen sich, indem sie sich in ihren Panzer zurückziehen.

MH: Aber wenn man sie auf den Rücken dreht, sind sie am Ende, und die Raubtiere können ihren Bauch auffressen. Es ist der Aspekt des Starken und Zerbrechlichen, der mir gefällt. Und ... eine Schildkröte ist langsam.

Man könnte an die Fabeln von Jean de La Fontaine oder an George Orwells "Farm der Tiere" denken, aber bei Ihnen fehlt die Moral. Stattdessen entdecken wir eine Entmenschlichung. Gibt es keinen Platz mehr für Bildung und Moral?

MH: Ich finde nicht, dass es bei La Fontaine so viel Moral gibt, um ehrlich zu sein. Aber es gibt etwas Interessantes in der Fabel. Nehmen wir zum Beispiel "Der Rabe und der Fuchs". Zunächst denken Sie an Personen, die die Rolle des Raben und des Fuchses spielen könnten. Aber nicht nur an zwei Personen, Sie finden schnell weitere Beispiele, und am Ende kommen Sie wieder auf Rabe und Fuchs als Essenzen zurück. Wenn ich ganz darauf verzichtet hätte, die wahren Namen zu nennen, wäre ich schneller aus der Autobiografie herausgekommen und hätte den Sinn der Fabel erreicht. Vielleicht hätte ich das tun sollen.

"In gewisser Weise bin ich ein Idiot..."

An vielen Stellen in diesem Buch bedauern Sie Ihre Idiotie, Ihre Dummheit. Die Idiotie befindet sich zwischen Ethik und Wahnsinn. Der Idiot ist eine weit verbreitete literarische Figur: Bei Dostojewski, einem Ihrer Seelenbrüder, Grass, Mauriac und bei Faulkner findet er sich. Welche soziale Funktion hat der Idiot heute?

MH: Ja, ich gebe zu: Ich war ein Idiot - praktisch, aber auch theoretisch. Ich weigere mich weiterhin, Sexualität mit dem Bösen in Verbindung zu bringen. In gewisser Weise bin ich ein Idiot, weil ich einfach sage: Ich verstehe deinen Standpunkt nicht, aber in Wahrheit will ich ihn nicht verstehen. Ich sage lieber: "Ich verstehe nicht, was Sie sagen", als dass ich diskutieren muss.

Weil Sie nicht mehr an die Möglichkeit einer Debatte glauben?

MH: Nein, das funktioniert nicht mehr. Ich weiß nicht genau, wie, aber es ist unmöglich geworden. Vielleicht können die Menschen in einigen Ländern wie Dänemark noch sagen: "Ich habe meine Meinung geändert". In Frankreich nicht. Obwohl es bei Raphaël Enthoven zum Beispiel noch möglich ist.

DE: Und doch scheint mir Frankreich sogar freier zu sein als Deutschland, wo es eine enorme Angst davor gibt, über politisch unkorrekte Themen zu diskutieren oder mit jemandem in Kontakt zu kommen, der öffentlich als Persona non grata gilt.

MH: Das gibt es auch in Frankreich. Zum Beispiel ist es möglich, mit jemandem vom Rassemblement National in einer Fernsehshow aufzutreten, aber es bleibt problematisch.

David Hume hat sich eine moralisch interessante Figur ausgedacht. Den sensible knave, den vernünftigen Gauner. Der sensible knave erlaubt sich ungerechte Handlungen, solange die Stabilität der Gesellschaft nicht gefährdet ist. Ansonsten verhält er sich korrekt. Es ist eine Strategie, um nicht durch integres Verhalten zum Verlierer zu werden. Ist das für Sie verlockend?

MH: Nein, denn ich bin in Bezug auf Moral immer noch sehr rigide.

Spielt Erziehung eine Rolle bei Ihren heutigen Handlungen?

MH: Aber ja. Nicht in einem Laden zu stehlen oder Versprechen zu halten, zum Beispiel, oder Disziplin bei der Arbeit. Aber ich habe keine moralischen Vorstellungen von Sexualität. 

Lange Zeit waren Schriftsteller vom Bösen fasziniert. Heutzutage versuchen sie eher, sich auf die Seite des Guten zu schlagen. Erleben wir gerade die Renaissance der ideologischen Literatur?

MH: Es ist eine Katastrophe, die mit der allgemeinen Katastrophe in Frankreich zusammenhängt, die wiederum Jean-Luc Mélenchon repräsentiert. Hinzu kommt der Import amerikanischer Irrwege, der Wokeness et cetera. Andererseits ist es in Frankreich noch nicht so weit gekommen, dass es einen Hass "Schwarze gegen Weiße" gäbe. Dennoch gibt es bei uns viele Schwarze, mehr als in jedem anderen europäischen Land. Aber es gibt keinen Hass, wahrscheinlich, weil die Kolonialisierung nicht so schmerzhafte Spuren wie die Sklaverei hinterlassen hat.

"In Frankreich ist es derzeit bei weitem nicht so schlimm wie in den USA,
aber die Woken setzen alles daran, die Situation zu verschlimmern. "

Aber für die Woken scheint es keinen Unterschied zwischen Sklaverei und Kolonialismus zu geben ...

MH: Zu einer so verlogenen Ansicht werde ich mich nicht äußern. Ich gehöre zu den Naiven, die damals glaubten, dass Obama eine neue Ära für die USA darstellt. Letztendlich war das nicht der Fall. In Frankreich ist es derzeit bei weitem nicht so schlimm wie in den USA, aber die Woken setzen alles daran, die Situation zu verschlimmern. 

DE: Ich frage mich tatsächlich, ob die ideologische Literatur jemals wirklich verschwunden ist. Es gab wohl eher zwei Phasen: erstens die Dekonstruktion des alten, sogenannten "traditionellen" Denksystems und zweitens den Wiederaufbau einer alternativen Moral. In der ersten Phase betonte die Linke die "Freiheit", aber jetzt stehen Gewissheit und Zwang im Vordergrund.

MH: Das stimmt, aber die Literatur ist nicht der am stärksten betroffene Sektor. Ich halte es für undenkbar, dass ein Filmschauspieler eine politisch unkorrekte Haltung einnimmt. Für einen Schriftsteller ist das bis zu einem gewissen Grad möglich. Schauspieler sind eher bereit, sich zu unterwerfen. Es gibt eine umfassende Co-Abhängigkeit. Außerdem geht es in den Filmen um große Budgets.

Unser Zeitalter ist Ihrer Meinung nach vor allem durch Verlangsamung, Stagnation und allmähliche Vernichtung gekennzeichnet. Das lässt einen an Oswald Spengler denken; und es ist kein Zufall, dass die diesem Denker gewidmete internationale Gesellschaft Ihnen 2018 einen Preis verliehen hat. Erfolgt dieser Zusammenbruch des Westens mit einem Donnerschlag oder ist es ein langsamer Abstieg? Um mit T.S. Eliot zu sprechen: "not with a bang but a whimper"...

MH: In Form eines Selbstmords, der in erster Linie demografisch bedingt ist. In verschiedenen asiatischen Ländern, wie zum Beispiel Korea, ist es noch schlimmer. Das hat nichts mit den Woken zu tun. Es ist etwas anderes, das ich nicht wirklich verstehe. Chinas Bevölkerung beginnt zu schrumpfen. Das liegt wahrscheinlich an der Virtualisierung der Existenz, die reale Kontakte immer unmöglicher macht, das hat in Japan begonnen. Während wir in Europa Einwanderung haben, wird sie dort abgelehnt. Wir werden uns also wandeln, aber nicht verschwinden.

DE: Meiner Meinung nach hängt der Bevölkerungsrückgang vor allem mit dem Grad der Verwestlichung eines Landes zusammen, was den Fall Japans, Chinas und Koreas erklärt. Das erklärt auch, warum die Schrumpfung in Afrika zum Beispiel noch nicht stattgefunden hat. Der Westen exportiert seinen Niedergang.

MH: Der Westen hat den technologischen Fortschritt erfunden, aber er ist nicht mehr das einzige aktive Zentrum. Wir haben es mit einer allgemeinen Selbstzerstörung der Moderne zu tun.

Spielt der Islam also keine Rolle bei dieser Zerstörung? Sie haben in Ihrem letzten Buch geschrieben, dass es keine Verbindung zwischen Kriminalität und dem Islam gibt. 

MH: Ich glaube wirklich nicht, dass es eine Verbindung gibt. Ich kenne die Kriminalität, seit ich 12 Jahre alt war. Ich lebte in einer Gegend, die gefährlich sein konnte, aber es gab dort keine Muslime. Ich glaube nicht, dass man kriminell wird, wenn man fromm lebt, gleich welcher Religion man angehörig ist.

Dennoch wird die Scharia als über dem säkularen Gesetz stehend betrachtet.

MH: Wenn Sie einen Christen fragen, ob das Gesetz Gottes über dem Gesetz der Republik steht, wird er Ihnen mit Ja antworten. Und weder das christliche noch das muslimische Gesetz verlangen etwas, das gegen das bürgerliche Gesetz verstößt, das glaube ich nicht. Aber sie erlegen zusätzliche Pflichten auf. Bei der Polygamie beispielsweise unterwerfen sich Muslime dem bürgerlichen Gesetz, weil die Polygamie im Westen nicht anerkannt wird.

Der politische Islam stellt also keine Gefahr für die Republik dar?

MH: Nein, ich finde, das ist nicht offensichtlich. Ich habe den Eindruck, dass eine Einigung möglich ist. 

Auf welche Weise?

MH: Ich hatte einmal eine Art "falsche gute Idee": Die Muslime bräuchten einen Papst, um zwischen den Fraktionen zu entscheiden. Man erklärte mir, dass dies im Islam nicht möglich sei. Das hat dazu geführt, dass es sehr gegensätzliche Positionen gibt. Ich denke, dass der Rektor der Großen Moschee von Paris regelmäßig Morddrohungen von anderen Muslimen erhält, die ihn für nicht streng genug halten.

DE: Am Anfang diente das Kalifat genau diesem Zweck: der autoritären Entscheidung über politische und theologische Fragen. Heute, nach dem Ende des Kalifats, befindet sich der Islam, abgesehen von der Sh'ia, in einer ähnlichen Situation wie der Protestantismus.

Wie können die Gemäßigten gestärkt werden?

MH: Ich habe keine Lösung dafür. 

Lesen Sie auch:

Zum Beispiel durch Ihre, Michel Houellebecqs Annäherung an den Islam?

MH: Ich spiele keine Rolle bei diesem Problem.

Sie stellen ein Symbol dar in dieser Debatte.

MH: Oh, Sie übertreiben. Der Papst ist für Katholiken mehr als nur ein Symbol. Er ist die höchste Autorität.

Würde eine Einigung und die Entkopplung des Islams von Kriminalität auch eine Auswirkung auf die Einstellung zu Migration haben?

MH: Nein, die Masseneinwanderung ist für die meisten Franzosen ein grundlegender Fehler, unabhängig von der Religion. Unter den afrikanischen Einwanderern gibt es sicherlich eine ganze Reihe von Muslimen, aber auch Evangelikale und Katholiken. Was die Franzosen nicht wollen, ist, das Elend der Welt aufzunehmen. 

DE: Wenn ich "Quelques mois dans ma vie" richtig verstehe, scheinen Sie den Widerstand gegen die Einwanderung vor allem mit der Angst vor Kriminalität zu erklären. Aber könnte es nicht sein, dass die Franzosen einfach nicht wollen, dass sie nach und nach durch Menschen aus anderen Kulturen ersetzt werden und in ihren Ländern zur Minderheit werden?

MH: Aber das ist nicht passiert. Ich glaube nicht an dieses Problem. Wenn es allerdings zu viele Einwanderer gibt, wird das nie funktionieren. Was passieren wird, ist, dass Afrika weiter verarmen wird. Die Jüngsten und Fähigsten gehen weg, und wir tragen durch unsere Aufnahme dazu bei, die Unterentwicklung dieser Länder fortzusetzen. Die einzige Lösung ist jemand wie Orban. Aber für ihn ist es einfacher, weil er keine Küsten hat. 

DE: Aber er hat eine Grenze zu Serbien, wo er eine Mauer bauen musste.


Lesen Sie hier Teil 2 des Interviews: 

Lesen Sie auch:

Katholischen Journalismus stärken

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Stärken Sie katholischen Journalismus!

Unterstützen Sie die Tagespost Stiftung mit Ihrer Spende.
Spenden Sie direkt. Einfach den Spendenbutton anklicken und Ihre Spendenoption auswählen:

Die Tagespost Stiftung-  Spenden

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Ute Cohen Barack Obama Bret Easton Ellis David Engels David Hume Die Tagespost Französische Schriftstellerinnen und Schriftsteller George Orwell Jean-Luc Mélenchon Katholikinnen und Katholiken Kolonialisierung Michel Houellebecq Moscheen Päpste Ute Cohen

Weitere Artikel

Moral, Migration, Wokismus und Religion. Der französische Schriftsteller spricht im Dreiteiler über die wichtigen Fragen unserer Zeit.
16.07.2023, 10 Uhr
Redaktion

Kirche

Yannick Schmitz, Referent beim Berliner Vorortspräsidium des Cartellverbandes, sieht gute Gründe dafür, dass der Verband künftig wahrnehmbarer auftritt.
27.04.2024, 13 Uhr
Regina Einig
Das römische Dokument „Dignitas infinita" lädt ein, aus der Fülle der Identität als Erben Christi zu leben, statt eigene Identitäten zu konstruieren. 
26.04.2024, 17 Uhr
Dorothea Schmidt
Die deutschen Bischöfe werden beim Synodalen Ausschuss wohl keine kirchenrechtskonforme Lösung finden. Das Mehrheitsprinzip eröffnet einen rechtsfreien Raum.
25.04.2024, 11 Uhr
Regina Einig