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Josef Pieper: Einen souveräner Denker entdecken

Josef Pieper hat in der philosophischen Rückbesinnung auf den Menschen um die Bewahrung und Neuformulierung des Glaubens für unsere Zeit gerungen.
Josef Pieper - Souveräner Denker
Foto: dd | Etliche – stets abgelehnte – Rufe auf Lehrstühle an deutschen Universitäten bezeugen die hohe Anerkennung, die Josef Pieper einst bekam.

Josef Pieper wird am 4. Mai 1904 in der Nähe von Rheine geboren und ist am 6. November 1997 in Münster gestorben. Über sein Leben sind wir gut unterrichtet durch eine dreibändige Autobiographie von hoher literarischer Qualität und zeitgeschichtlichem Wert. Kennzeichnend für ihn ist eine katholische Intellektualität, die Glaube und Vernunft klar unterscheidet, aber doch in der Aufhellung existenziell bedeutsamer Sachverhalte nicht voneinander trennt.

„Piepers Denken steht quer zu einer Kultur reiner Selbsterhaltung,
in welcher das paternalistische Lenkungsinteresse politischer Öffentlichkeit in Sachen
Gesundheit, Klima und medialer Kommunikation sich verbindet
mit dem liberalistischen Programm selbstverfertigter Glücksmöglichkeiten im Privaten“

Piepers Denken steht darin Thomas von Aquin recht nahe, dem er neben Platon sehr viel an Einsicht verdankt und im Blick auf heutige Fragen fruchtbar zu machen weiß. Gemessen an der Gesamtauflage und den zahlreichen Übersetzungen seiner Schriften ist er der meist gelesene deutsche Philosoph. Zu seinen Auszeichnungen gehört der Balzan-Preis, den er 1981 erhält. Dem Nobelpreis in Dotierung und Reputation vergleichbar, wurde er in diesem Jahr erstmals im Fach Philosophie verliehen, später dann an Emmanuel Levinas, Paul Ricoeur und Thomas Nagel.

Bis heute ist Josef Pieper der einzige deutsche Philosoph, dem diese höchste Auszeichnung zuteil wurde. Piepers eigentümliche Stellung unter den zeitgenössischen Philosophen erklärt sich nicht zuletzt aus dem Missverhältnis zwischen fachlicher Reputation und intellektueller Hochschätzung über fachwissenschaftliche und weltanschauliche Grenzen hinweg. Immerhin: Horkheimer und Adorno wollten ihn 1951 an die Universität Frankfurt holen. Karl Jaspers hat ihn gelesen mit Bleistift und Lineal in der Hand, und Martin Heidegger empfiehlt ihn dem Präsidenten der Bochumer Kammerspiele an seiner Stelle für ein Podium, das sich mit den Dramen des französischen Existenzialismus befassen sollte.

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Wahrheitsbezug öffentlicher Rede ist ein zentrales Thema

Die angebliche akademische Geringschätzung Piepers ist ein Mythos, den neuerdings der Philosophiehistoriker Kurt Flasch wiederzubeleben sucht. Etliche (stets abgelehnte) Rufe auf Lehrstühle an deutschen Universitäten bezeugen das Gegenteil, wie auch die Tatsache, dass er noch vor seiner Berufung an die Universität Münster bereits Mitglied der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes NRW (heute Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften) war. Piepers beträchtliche Wirkung, auch gerade in akademischen Kreisen, zeigen beispielhaft die Reaktionen auf seinen Festvortrag zum fünfzehnjährigen Bestehen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in Berlin (1964).

In Gegenwart des Bundespräsidenten spricht er vor der versammelten Scientific Community über das Thema „Der Verderb des Wortes und die Macht. Platons Kampf gegen die Sophistik“. Die Intention des Vortrags ist nicht historisch, sondern philosophisch. Seine These lautet: ohne den Wahrheitsbezug öffentlicher Rede wird der Mitteilungscharakter der Sprache korrumpiert. Der Andere mutiert vom hofierten Subjekt zum Objekt undurchschauter Herrschaftsinteressen, ohne es selbst zu merken. Platons Kampf gegen den Missbrauch der Sprache wird so in Piepers Interpretation zu einem Thema von unerhörter Aktualität.

Während seines Vortrags herrscht starke Spannung im Saal

Kurt Zierold, der Generalsekretär der DFG, dankt Pieper wenig später „für den großartigen Vortrag“ und berichtet über Reaktionen aus dem Kollegenkreis: „Das war der eindrucksvollste Vortrag, den wir bei unseren fünfzehn Jahresversammlungen hörten, gerade weil er bei allen, die empfänglich sind, nicht eine Köpfchenangelegenheit blieb, sondern unter die Haut ging. Eben deswegen blieben einige der Fachwissenschaftler abseits, weil sie nicht vorhatten, sich irgendetwas unter die Haut gehen zu lassen.“ Auch der Präsident der DFG berichtet Pieper, „wie stark die Spannung im Saale war und wie die stets erneuerte Verbindung des klassischen Konflikts mit den Anfechtungen der Gegenwart erregte und fesselte.“ Piepers philosophierende Interpretation fasziniert, und sie polarisiert. Geisteswissenschaftliche Einordnung und hermeneutisches Verstehen genügen ihm nicht.

Das Verstandene soll standhalten und Stand geben, indem es auf seinen Wahrheitsanspruch hin geprüft und dann ohne akademische Zurückhaltung vertreten wird. Das gilt für jeden Gegenstand, mit dem er sich befasst. Die fachwissenschaftliche methodische Selbstsicherung und Reduktion von Philosophie auf Geisteswissenschaft weist er als unphilosophisch zurück. Den Titel seiner ersten Vorlesung „Was heißt Philosophieren?“ musste er noch gegen Einsprüche aus dem philosophischen Seminar der Universität Münster verteidigen, eine solche Unmittelbarkeit des Fragens sei philosophisch bedenklich.

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T.S. Eliot gehörte zu den Verlegern Piepers

Pieper hat das ignoriert und damit breiten Zulauf aus der gesamten Universität erhalten. Fast alle seine Beiträge zur Philosophie sind in direkter Intention auf den jeweils zur Rede stehenden Sachverhalt gerichtet, davon gut ein Drittel in der Weise offener Formulierungen (Über … ) und präziser Begriffsbestimmung (Was heißt … ?). Die Intention seiner gesamten Lehrtätigkeit und schriftstellerischen Arbeit hat Pieper der nach ihm benannten Stiftung zugleich als Leitbild aufgegeben: „Neuformulierung des in der abendländisch-christlichen Tradition (von Platon bis John Henry Newman, Romano Guardini, C. S. Lewis) paradigmatisch entfalteten Bildes vom Menschen und der Wirklichkeit im Ganzen.“

Es ist kaum möglich, auf begrenztem Raum seine wichtigsten Schriften dem unvertrauten Leser vorzustellen, ohne dass dabei das Entscheidende, der Mitvollzug der Argumente, auf der Strecke bleibt. Einige Titel und ihre Bedeutung sollen gleichwohl genannt werden: die vollständige Rehabilitierung der Tugenden, der vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß und der drei theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe, sind in der Philosophie des zwanzigstens Jahrhunderts ohne Beispiel. Seine bis heute international meistgelesenen Bücher „Muße und Kult“ sowie „Was heißt Philosophieren?“ (beide 1948) erscheinen schon 1950 in englischer Übersetzung. Piepers Verleger im angelsächsischen Sprachraum ist der gerade mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnete englische Lyriker und ehemalige Harvard-Philosoph T. S. Eliot. Er publiziert beide Schriften in einem Band mit dem von ihm selbst vorgeschlagenen Titel „Leisure the basis of culture“.

Wie weit ist der Mensch wahrheitsfähig?

Derzeit teilen sich fünf amerikanische Verlage die Lizenzrechte an diesem Buch. Dann vielleicht noch der Hinweis auf „Glück und Kontemplation“, dass die für den heutigen Menschen zumeist irreale Vorstellung von der Visio beatifica zurückbindet an die Struktur menschlicher Glückserfahrungen und diesem Kernthema christlicher Anthropologie neue Glaubwürdigkeit verschafft. Schließlich wäre an Piepers Theorie des Festes „Zustimmung zur Welt“ zu erinnern, worin er der utopiegetriebenen Flucht in die „vollendete Negativität“ (Adorno) die Affirmation, nicht des „Bestehenden“, sondern des Geschaffenen entgegenhält.

Ohne hier weitere Buchtitel zu erläutern, lässt sich doch sagen, was ganz allgemein die Hauptthemen sind und was sie verbindet, wie Pieper dabei vorgeht und was das Ziel seiner Lehrtätigkeit gewesen ist. Es geht ihm grundlegend um die Wahrheitsfähigkeit des Menschen und die Rehabilitierung des naturhaften Verlangens nach Glück, um das rechte Verständnis der Tugenden als Seinsweise der Person im Geneigt-sein zum Guten, die Selbstüberschreitung des Subjekts im Fest, im Glauben, Hoffen und Lieben, die geschichtliche Unvollendbarkeit des Menschen und um den Konflikt zwischen Sakralität und Entsakralisierung. Als verbindender Deutungshorizont katholischer Intellektualität gilt Pieper die Kreatürlichkeit von Welt und Mensch. Sein methodisches Vorgehen lässt sich so umschreiben: auf dem Boden der gesprochenen Sprache eine Fragestellung präzise fassen und im Horizont menschlicher Welterfahrung durchdenken unter Einbezug der musischen und religiösen Dimension.

Sein Denken passt nicht in den deutschen Mainstream

Das alles dient einem gemeinsamen Ziel: der Bewahrung und Erneuerung des christlichen Glaubens in der Verlebendigung der abendländisch-christlichen Überlieferung durch philosophierende Interpretation mit Blick auf die Verfassung des Menschen in unserer Zeit.

Es ist nun unschwer zu sehen, warum Josef Pieper zumindest hierzulande im Mainstream der gesellschaftlichen und kirchlichen Bildung keine Rolle mehr spielt. Piepers Denken steht quer zu einer Kultur reiner Selbsterhaltung, in welcher das paternalistische Lenkungsinteresse politischer Öffentlichkeit in Sachen Gesundheit, Klima und medialer Kommunikation sich verbindet mit dem liberalistischen Programm selbstverfertigter Glücksmöglichkeiten im Privaten. Im Interesse des Überlebens vertraut man allein der Wissenschaft und im Interesse des guten und richtigen Lebens empfiehlt man eine Ambiguitätstoleranz, welche die Normativität überlieferter Sinndeutungen als übergriffig diskreditiert. Was bleibt, ist eine intellektuelle Wüste, die Pieper so nicht gekannt hat, in die hinein aber sein Werk neues Leben bringen könnte.


Berthold Wald, Dr. phil. habil., Jahrgang 1952, emeritierter Professor für Systematische Philosophie
an der Theologischen Fakultät Paderborn, ist Herausgeber der Werke von Josef Pieper
und Betreiber der Seite josef-pieper-arbeitsstelle.de.

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