„Weil ich die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht.“ (Joh. 8,45) Mit diesem schlichten Satz fasst Jesus die gesamte Tragik seiner Existenz zusammen. Jene, die zu retten er gekommen war, verschwören sich gegen ihn, nicht etwa, weil er ein Betrüger war, sondern weil er die Wahrheit sagte, weil er selbst die Wahrheit war.
Er legt aber auch die Ursache für das Verhalten seiner Gegner offen: „Ihr habt den Teufel zum Vater.“ (Joh. 8,44) Der Teufel steht seit Anbeginn der Zeit im Kampf gegen die Wahrheit. In diesem Feldzug bedient er sich ganz unterschiedlicher Waffen. Einerseits kämpft er mit der klassischen Lüge, die er sämtlichen Irrlehrern ins Ohr flüstert, angefangen von jenen Schriftgelehrten und Pharisäern, die vor lauter Buchstaben die vor ihnen stehende Wahrheit nicht sehen wollten, bis hin zu den heutigen Kirchenvertretern, die nur in soziologischen Kategorien und zeitgenössischen Ideologien zu denken vermögen und daher den wahren Charakter der Kirche verkennen.
Keine Wahrheit?
Der Teufel hat aber auch noch einen anderen Pfeil im Köcher, einen, der sogar gefährlicher ist. Es gelingt ihm mitunter sogar, den Menschen einzureden, dass es so etwas wie Wahrheit überhaupt nicht gebe. Dieser Pfeil ist deswegen gefährlicher, weil man mit solchen Menschen nicht einmal mehr in eine Diskussion eintreten kann. Wer nicht glaubt, dass es Wahrheit gibt, der hat auch kein Interesse mehr, nach ihr zu suchen.
Einer der berühmtesten Vertreter dieser Sorte Mensch ist der römische Statthalter Pilatus, der auf Jesu Wahrheitsanspruch nicht wie die Schriftgelehrten und Pharisäer mit Gegenargumenten reagierte, sondern einfach nur fragte: „Was ist Wahrheit?“ Mit Pilatus lässt sich Jesus auch gar nicht erst auf ein Streitgespräch ein, wohl wissend, dass es keinen Sinn hätte, da es sich um eine rhetorische Frage handelt. Diese Form der Wahrheitsleugnung ist in unserer Zeit wieder enorm populär geworden, versteckt sich jedoch hinter einer ganz neuartigen Maske. Heutzutage ist die Rede von individuellen „Wahrheiten“, also von „meiner Wahrheit“ und „deiner Wahrheit“. Damit behält man zwar den Begriff „Wahrheit“ bei, führt ihn aber ad absurdum, denn Wahrheit ist ihrem Wesen nach immer universal.
Antwort auf die Frage der Wahrheit
Was aber kann man Pilatus auf dessen historische Frage antworten? Der heilige Thomas von Aquin lieferte wohl die beste und nach wie vor unübertroffene Antwort auf die Frage nach der Wahrheit, indem er feststellte, Wahrheit sei die „adaequatio rei et intellectus“, die Übereinstimmung von Sache und Verstand, von Sein und Denken.
Diese Aussage mag zunächst etwas abstrakt klingen, doch ist sie ein überaus praktischer Wegweiser bei der Wahrheitssuche. Im ersten Johannesbrief finden wir einen wunderschönen Satz, der es auch in die Liturgie geschafft hat: „Wir heißen Kinder Gottes und wir sind es.“ (3,1) Nun könnte man sagen, dass sei doch irgendwie doppelt gemoppelt, aber im Gegenteil: Der Satz drückt die notwendige Übereinstimmung von „intellectus“ (heißen) und „res“ (sind) aus. Diese Übereinstimmung ist in unserer Welt keineswegs immer gegeben. Wenn man beispielsweise einen Mann als Frau bezeichnet, so entsteht eine Diskrepanz zwischen „res“ und „intellectus“. Durch Begriffsänderung allein verändert man nicht die Wirklichkeit. Somit ist die Regel des heiligen Thomas durchaus anwendbar, und die Suche nach der Wahrheit keineswegs obsolet. Wenn uns also jemand einreden will, es gebe keine Wahrheit, sondern nur unterschiedliche Meinungen, so dürfen wir ihm mit heiligem Trotz entgegenschleudern: Doch! Es gibt Wahrheit!
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