Denken, worauf es ankommt

Über das christliche Menschenbild des Philosophen Josef Pieper. Von Barbara Stühlmeyer
Philosoph Josef Pieper
Foto: dpa | Moderner christlicher Denker von hohem Format: Josef Pieper.

Die Berufung auf das christliche Menschenbild oder der Verweis auf Traditionen christlich abendländischen Denkens sind in der öffentlichen Debatte zu Allgemeinplätzen geworden, die immer dann in Rede stehen, wenn der Verlust der gesellschaftlichen Bindekräfte wieder einmal allzu deutlich geworden ist. Was dieses christliche Menschenbild aber sei, wie man es sich vorstellen könne oder zu denken habe, ist dabei kein Thema. Doch wer nicht weiß, was er eigentlich meint, wenn er sich auf das christliche Menschenbild beruft oder angesichts seines gefühlten Verfalls dessen Restitution fordert, füllt die Welt zwar mit Worthülsen, nicht aber mit Sinn. Der scheint jedoch gefragt zu sein, wenn auch auf durchaus unterschiedliche Weise. Denn im Zeitalter des weltanschaulichen Pluralismus ist, wie Berthold Wald in seinem lesenswerten Buch „Christliches Menschenbild. Zugänge zum Werk von Josef Pieper“ konstatiert, die christliche Sicht des Menschen nur eine unter vielen.

Ein Werk, das Grundlagen für das Denken bietet

Umso wichtiger ist es für Katholiken, sich dessen bewusst zu werden, welches Menschenbild sie selbst prägt und dies in der Debatte mit Agnostikern, Buddhisten, naturalistischen Szientisten oder Muslimen pointiert darstellen zu können. Das breit gefächerte Werk Josef Piepers, eines dezidiert christlichen Philosophen, dessen Schriften im Gegensatz zu denen manch eines im wissenschaftlichen Elfenbeinturm selbstreferentiell vor sich hindeutelnden Denkers von einer breiten Bevölkerung rezipiert wurden und dank der Bemühungen von Berthold Wald, Ordentlicher Professor für Systematische Philosophie an der Theologischen Fakultät Paderborn, Leiter der Josef Pieper Arbeitsstelle und Herausgeber der Werke von Josef Pieper auch wieder werden, bietet die Grundlage für die Schulung des eigenen Denkens und Argumentationshilfen in einer unübersichtlichen Debatte orientierungslos gewordener Diskutanten.

Mangel an Orientierung herrscht nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Philosophie, deren Vertreter sich über nahezu nichts mehr einigen können und bereits bei der Frage „Wozu überhaupt Philosophie?“ daran scheitern, eine gemeinsame Antwort zu finden. Pieper in diesem Zusammenhang zu thematisieren, wie Berthold Wald es in seinem ersten Beitrag tut, scheint gewagt. Denn der Münsteraner Philosoph beschäftigte sich nicht ausdrücklich mit den abkünftigen Richtungen zeitgenössischer Philosophie. Aus gutem Grund. Denn Pieper konnte die in ihrer Konsequenz einseitig und damit ins Sinnleere laufenden Denkwege der analytischen Philosophie und der philosophischen Hermeneutik, die je auf ihre Weise auf die auf der Basis naturwissenschaftlichen Denkens an der Philosophie geübte Kritik reagierten, nicht teilen. Pieper und mit ihm Wald ist vielmehr davon überzeugt, dass in einer solchen Verengung die Gefahr liegt, dass man jenen Kritikern Recht geben müsse, die äußern, dass die Philosophie eine Spezialdisziplin sei, in der man lerne, Fragen zu beantworten, die außer den Philosophen niemand stellt. Für Pieper ist Philosophie aber viel mehr. Sie ist jene den Dingen auf den Grund gehende Art zu fragen, die der Wahrheit auf der Spur ist und diese vom Sinn nicht trennt. Und auch wenn Pieper in seiner und unserer Zeit mit diesem Standpunkt ziemlich alleine zu sein scheint, steht er zugleich auf den Schultern von Riesen wie Platon, der sich der Uneinholbarkeit des philosophischen Aktes durch die Philosophie bewusst war und deshalb das, was er, wie er wusste, nur unvollkommen zu erkennen in der Lage war, im Lichte dessen interpretierte, was er als wahr annahm, was er glaubte. Piepers Philosophie ist weltbezogen und sie ist praktisch. In diesem Sinne wirkt sie gleich einem prophetischen Korrektiv, bietet aber auch Denkwege an, die zugleich Auswege aus dem gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Dilemma weisen können. Sie erweisen sich deshalb als wirksam, weil es Pieper um Wirklichkeit und nicht um Worthülsen oder, um es akademischer auszudrücken, um eine Auffassung wie die Heideggers vom geschichtlich sich je neu und anders ereignenden Sprachgeschehen, geht. Was Pieper daran für falsch hielt war, dass dieses Denken sich in seinem selbsterschaffenen Irrgarten verläuft, etwa indem es fragend nach theologischen Antworten verlangt, deren Akzeptanz es von vorneherein ausschließt.

Weil Pieper Glauben und forschendes Fragen nicht als unvereinbare Gegensätze versteht kann er, wie Wald es in einem der innerhalb von 20 Jahren entstandenen Beiträge zu Piepers Werk thematisiert, die in diesem Band zusammengefasst wurden, zum Lehrer der Kirche in der modernen Welt werden. Zu lehren gelingt Pieper auch deshalb, weil er verständlich und nachvollziehbar zu schreiben versteht und sich nicht um seiner selbst willen in spekulativen Tiefsinn versenkt. Dass Pieper ungeachtet seiner Sonderstellung von seinen Kollegen wahrgenommen wurde, zeigt der Beitrag über das Verhältnis und die gegenseitige Rezeption von Karl Jaspers und Josef Pieper oder von Pieper und Heidegger.

Zur Provokation wird sein sich am christlichen Menschenbild orientierendes Denken deshalb, weil es im Chor der je persönliche, oft unbewusste Voraussetzungen mitbringenden Denker das Recht auf die eigene Stimme reklamiert. Mit Rückgriff auf Platon, der den untrennbaren Zusammenhang von Wahrheit und Interesse, von Erkenntnis und Leben betont und Thomas von Aquin, anhand dessen Denken Pieper aufzeigt, dass ein auf Wirklichkeitserkenntnis zielendes Verstehen weder unhistorisch noch hermeneutisch naiv sein muss, positioniert Pieper Philosophie neu als wirklichkeitsrelevante Form grundlegenden Nachdenkens. Man kann, wie Wald schlüssig nachweist, Pieper nicht unterstellen, die neuzeitliche Wende zum Menschen nicht mitvollzogen zu haben. Allerdings war das Denken vom Menschen her für den Philosophen kein Grund, den Orientierungsrahmen, in dem Leben und Wirken der Menschen sich entfaltet, also das Hervorgegangensein des Wirklichen aus einem schöpferischen Akt göttlicher Vernunft, als philosophische no-go-area zu deklarieren. Wenn sie dies nämlich tut, schneidet sie den Menschen die Möglichkeit ab, die Wahrheit nicht nur zu denken, sondern auch von ihr zu leben und macht sich damit selbst überflüssig. Pieper war dies, was die bemerkenswerten Auflagenzahlen seiner Schriften zeigen, offenkundig nicht. Durchdachte Wegweisung, etwa im Hinblick auf Piepers Tugendkonzept, war und ist gefragt und sogar Not-wendig. Deshalb sollte man, davon ist Wald überzeugt, auch metaphysik- und theologiekritischen Zeitgenossen heute zumuten, sich dem Denken Piepers auszusetzen. Dafür braucht es wieder öffentliche Vermittlungsorte. Vielleicht wäre es für katholische Akademien deshalb eine gute Idee, einen Yogakurs weniger anzubieten und sich stattdessen dem ganzheitlich wirksamen Denken Piepers auszusetzen und so zu Keimzellen einer Neuorientierung der Kirche zu werden. Und nicht nur sie bedarf der Wegweisung. Auch den Wissenschaften fehlt es an sittlichen Kriterien für die Anwendung ihres Wissens. Es müssen aber, wenn unsere Gesellschaft wieder zu einem Gemeinwesen werden soll, nicht nur die Regierenden, sondern auch die Ärzte, wenn nicht gleich Philosophen, so doch philosophisch gebildet, das heißt von der Liebe zur Weisheit bewegt sein. Dies zu fordern ist übrigens, wie Wald am Denken Piepers erweist, nichts, was im Widerspruch zum eigentlichen Wollen des Menschen steht. Denn er verfügt eine natürliche Veranlagung, die es ihm ermöglicht, seiner höheren Berufung nachzugehen. Diese zu stärken, war Josef Pieper ein Anliegen. Die Lektüre dieses lesenswerten Bandes, der Frucht einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit diesem wichtigen christlichen Philosophen, lädt dazu ein.

Berthold Wald:
Christliches Menschenbild. Zugänge zum Werk von Josef Pieper. 
Pneuma Verlag, München 2017, ISBN 978-3-942013-43-7, 279 S., EUR 22,95

Themen & Autoren
Geisteshaltungen und Weltanschauungen Karl Jaspers Platon Thomas von Aquin

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