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Der wahre Joseph Ratzinger

Der Emeritus war ein kluger, heiligmäßiger Mann, der keine Ähnlichkeit mit der Karikatur hatte, die seine theologischen Gegner erschufen, meint der US-Theologe George Weigel.
Benedikt XVI.: Gentleman mit sanftmütiger Seele
Foto: via imago-images.de (www.imago-images.de) | Der Schlüssel, um den wahren Joseph Ratzinger und seine Größe zu verstehen, war seine tiefe Liebe zu Jesus, unserem Herrn, eine Liebe, die durch seinen außerordentlichen theologischen und exegetischen Verstand noch ...

Der Joseph Ratzinger, den ich 35 Jahre gekannt habe – zunächst als Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre, später als Papst Benedikt XVI. und dann als Papa Emeritus – war ein ausgesprochen kluger, heiligmäßiger Mann, der keinerlei Ähnlichkeit mit der Karikatur hatte, die von seinen theologischen Gegnern kreiert und von den Medien dann in Beton gegossen wurde.

Gentleman mit sanftmütiger Seele

Der Karikatur nach war Ratzinger ein grimmiger, unbarmherziger kirchlicher Inquisitor/Vollstrecker – der „Rottweiler Gottes“. Der Mann, den ich kannte, war ein vollendeter Gentleman mit einer sanftmütigen Seele, ein zurückhaltender Mann, der dabei über einen starken Sinn für Humor verfügte, ein Mozart-Liebhaber, der im Wesentlichen ein fröhlicher Mensch war und keinesfalls ein sauertöpfischer Griesgram.

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Der Karikatur nach war Ratzinger außerstande, modernes Denken zu verstehen oder zu würdigen. Der Ratzinger, den ich kannte, war der wohl gelehrteste Mann der Welt, der in den Bereichen christliche Theologie (katholische, orthodoxe und protestantische), Philosophie (alte, mittelalterliche und moderne), Bibelstudien (jüdische und christliche) sowie politische Theorie (klassische und zeitgenössische) über ein enzyklopädisches Wissen verfügte. Er hatte einen glänzenden, klar geordneten Verstand und wenn man ihm eine Frage stellte, pflegte er in ganzen Absätzen zu antworten – in seiner dritten oder vierten Fremdsprache.

Kein politischer Reaktionär

Der Karikatur nach war Ratzinger ein politischer Reaktionär, den die Studentenproteste von 1968 in Deutschland verstört hatten und der sich nach der Wiederherstellung der monarchistischen Vergangenheit sehnte. Seine übelsten Gegner deuteten Sympathien für die Nazis an (daher der gehässige Beiname „Panzerkardinal“). Der Ratzinger, den ich kannte, war ein Deutscher, der 2010 bei einem Staatsbesuch in England dem britischen Volk dafür dankte, dass sie die Luftschlacht um England gewonnen haben – ein bayerischer Christdemokrat (was ihn aus amerikanischer politischer Sicht leicht links der Mitte platzieren würde), dessen Verachtung des Marxismus sowohl theoretisch (er war philosophisch unsinnig) als auch praktisch war (er hat nie funktioniert und war von Natur aus totalitär und blutrünstig).

Der Karikatur nach war Ratzinger ein Feind des Zweiten Vatikanischen Konzils. Der Ratzinger, den ich kannte, war im Alter von gut dreißig Jahren einer der drei einflussreichsten und produktivsten Theologen des Zweiten Vatikanums – der Mann, der als Präfekt der Glaubenskongregation gemeinsam mit Johannes Paul II. daran gearbeitet hat, dem Konzil eine verbindliche Interpretation zu verleihen, was er während seines eigenen Papsttums weiter vertieft hat.

Seine Bücher werden auch nach Jahrhunderten noch gelesen

Der Karikatur nach war Ratzinger ein liturgischer Höhlenmensch, der entschlossen war, die Uhr der Liturgiereform zurückzudrehen. Der Ratzinger, den ich kannte, war spirituell und theologisch zutiefst von der liturgischen Bewegung des zwanzigsten Jahrhunderts beeinflusst. Dieser Ratzinger hat sich als Papst in seiner positiven Haltung gegenüber einem berechtigten liturgischen Pluralismus großzügiger als sein Amtsnachfolger gezeigt, denn Benedikt XVI. glaubte, dass aus einem solch lebendigen Pluralismus heraus die hehren Ziele der liturgischen Bewegung, die ihn prägte, in einer durch andächtiges Gebet für Mission und Dienst gestärkten Kirche schließlich verwirklicht würden.

Der Karikatur nach war Ratzinger von gestern, ein intellektueller Rückschritt, dessen Bücher bald Staub ansetzen und zerfallen würden, ohne einen Eindruck auf die Kirche oder die Weltkultur zu hinterlassen. Der Ratzinger, den ich kannte, war einer der wenigen zeitgenössischen Autoren, der gewiss sein konnte, dass seine Bücher auch nach Jahrhunderten noch gelesen würden. Außerdem vermute ich, dass einige der Predigten dieses größten päpstlichen Predigers seit Papst Gregor dem Großen irgendwann Eingang in das tägliche Stundengebet der Kirche finden werden.

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Der Karikatur nach lechzte Ratzinger nach Macht. Der Ratzinger, den ich kannte, hat dreimal versucht, sein Amt in der Kurie niederzulegen, hatte null Interesse, Papst zu werden, hat seinen kirchlichen Mitbrüdern 2005 erklärt, er sei „kein Mann des ,governo‘[der Regierung]“ und hat seine Wahl zum Papst nur angenommen, um dem, was er als Gottes Willen - der sich durch die überwältigende Wahl durch seine Brüder im Kardinalsamt geoffenbart hatte - ansah, gehorsam zu sein.

Der Schlüssel: seine tiefe Liebe zu Jesus

Der Karikatur nach stand Ratzinger der Krise des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker gleichgültig gegenüber. Der Ratzinger, den ich kannte, hat viel getan, als Kardinalpräfekt der Glaubenskongregation und dann als Papst, um die Kirche von dem zu reinigen, was er schonungslos und treffend als „dieser Schmutz“ bezeichnete.

Der Schlüssel, um den wahren Joseph Ratzinger und seine Größe zu verstehen, war seine tiefe Liebe zu Jesus, unserem Herrn, eine Liebe, die durch seinen außerordentlichen theologischen und exegetischen Verstand noch klarer wurde, der sich in seiner Trilogie „Jesus von Nazareth“ zeigte, die er als Schlussstein seiner lebenslangen wissenschaftlichen Forschung ansah. In diesen Bänden fließen mehr als sechs Jahrzehnte Gelehrsamkeit in eine konzentrierte Darstellung ein, von der er hoffte, dass sie anderen helfen würde, zu Jesus zu finden und ihn so zu lieben wie er. Denn - wie er in zahlreichen Variationen ein großes Thema beharrlich herausstellte - die „Freundschaft mit Jesus Christus“ ist der Beginn, das „sine qua non“ des christlichen Lebens. Und diese Freundschaft zu fördern und zu pflegen ist Sinn und Zweck der Kirche.

Die letzte der ganz großen Gestalten des Katholizismus des zwanzigsten Jahrhunderts ist heimgegangen zu Gott, der seinem treuen Diener seinen Lohn gewiss nicht versagen wird.


Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Reimüller

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