Wollbold würdigt Benedikt

Entweltlichung - zwölf Jahre später

Klarsichtig erkannte Benedikt XVI. in der Kirche als Apparat die Gefahr der Selbstverschließung und des Verlusts der Vertikalen.
Benedikt XVI. bei seiner Konzerthausrede in Freiburg
| Benedikt XVI. bei seiner Konzerthausrede in Freiburg.

"Der Mönch am Meer" ist eines der beeindruckendsten Gemälde von Caspar David Friedrich (1808/10). Da steht ein einsamer Mönch klein und verloren vor der gewaltigen Kulisse des bedrohlichen Ozeans, darüber Wolkentürme, vielleicht ein Gewitter. Erst weit nach oben hin geht der Himmel in ein kaltes Blau über. Radikal ist alles weggebrochen, was früher einmal selbst eine dramatische Landschaftsmalerei immer auch schön machte, also etwa perspektivische Hilfen, das Spiel von Vorder- und Hintergrund und harmonische Proportionen. Vielmehr ist die Komposition von der Übermacht der Horizontalen erdrückt. Vor ihr wirkt der aufrechte Stand des Mönches wie verloren. 

Große Kunst ist immer deutungsoffen, und "Der Mönch am Meer" hat unzählige Interpretationen gefunden. Ob es erlaubt ist, im "Mönch" auch Benedikt XVI. zu sehen? Den einsamen Aufrechten, der nach oben weist, wo alles andere nach unten drückt? Den Himmelspropheten in einer verweltlichten Kirche? Dabei kann man besonders an die Gestalt des Papstes am 25. September 2011 im Freiburger Konzerthaus denken, also bei seiner berühmten Konzerthausrede zur Entweltlichung. Damals erhob er sich vor einer Welt, in der die Horizontale so mächtig geworden ist, dass sie längst auch die Kirche, ihr Denken, ihre Strukturen und ihre Selbstverständlichkeiten prägt. Wie einsam stand er da, wie ruhig sprach er mit seiner warmen, unaufgeregten Stimme! In welchem Kontrast stand dies zu den Gewitterwolken der Reaktionen des Establishments, die sich zusammenbrauten, noch bevor er seine Rede mit "Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!" geendet hatte. 

Die Kirche gibt eine universelle Botschaft weiter

Hätte man genau hingehört und wäre man seinen Worten gerecht geworden, so hätte man festgestellt: Der Papst spielte nicht Strukturwandel gegen Herzensänderung, Sendung in die Welt gegen Bekehrung aus. Wohl aber betonte der Nachfolger Petri, was schon die Apostolische Kirchenordnung um 380 formulierte: "Nicht das Mitleben mit der Welt wird den Gerechten zum Vorwurf, wohl aber die Anpassung an ihre Gesinnung." Ganz ähnlich der Originalton Papst Benedikts: Die Kirche "gibt eine universelle Botschaft weiter:  Verkündet das Evangelium allen Geschöpfen  (Mk 16,15). Durch die Ansprüche und Sachzwänge der Welt aber wird dies Zeugnis immer wieder verdunkelt, werden die Beziehungen entfremdet und wird die Botschaft relativiert. Um ihre Sendung zu verwirklichen, wird sie auch immer wieder Distanz zu ihrer Umgebung nehmen müssen, sich gewissermaßen  ent-weltlichen ." Die Rettung der Vertikalen vor der Übermacht der Horizontalen also. 

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Papst Benedikt stand dabei wohl ein Bild vor Augen, wie es Hugo Rahner so eindrucksvoll in seinen "Symbolen der Kirche" aus den Kirchenvätern entwickelt hat: Das Schiff der Kirche ist unterwegs auf dem Meer der Welt, geschüttelt von ihren Stürmen, versucht von den Sirenengesängen von links und rechts, nur eine Planke vom Tod entfernt. Doch ihr Mastbaum ist das Kreuz, ihr Segel die Liebe und ihr Ziel der himmlische Hafen. Es ist, als wäre der kleine, mittellose Mönch am Meer bereit, mit dem kleinen Kahn des Kirchenschiffs ins feindliche Meer der Welt zu stechen, allein im Vertrauen auf den Beistand von oben.

Benedikts Worte waren prophetisch

Das ist durch und durch prophetisch. Denn Propheten sind Erinnerer. Sie richten auf und stellen allen vor Augen, was vergessen, verdrängt und überlagert ist von allerhand weltlichem Treiben. Propheten sind aber auch Seismographen der Zukunft. Man erkennt sie daran, dass eintritt, was sie vorhersagen. Man kann nur erschüttert sein, wie wahr Benedikt bereits vor zwölf Jahren gesprochen hat.

Zunächst einmal darf man dem Ratzinger-Papst eine organisationssoziologische Präzision bestätigen. Sie steht in denkwürdigem Kontrast zu den meisten "Zeitanalysen" der sogenannten Lebenswirklichkeit, die wenig von guter Analyse, dafür aber viel von Schlagwort und ideologischem Interesse aufweisen. Das wäre übrigens einmal ein aufschlussreicher Aspekt der Ratzinger-Forschung: seine Gesellschaftsanalysen des klaren, unbestechlichen Blicks zu untersuchen. In Freiburg zeichnete sie sich durch eine in der Organisationssoziologie bestens bestätigte Einsicht aus. 

Benedikt XVI. erkannte nämlich in der Kirche als Organisation, als Apparat - bekanntlich eine besondere deutsche Spezialität! - die Gefahr der Selbstverschließung. In der Tat, entwickelte Systeme verschließen sich. Dann werden von außen kommende Impulse nur noch als Störungen verarbeitet, und sie entwickeln sich bloß aus ihren eigenen Gesetzen. In diesem Sinn ist die Kirche der Hauptamtlichen, vermehrt allenfalls um die "Berufslaien", übrigens heute viel mehr ein geschlossenes Milieu als die vielgescholtenen fünfziger Jahre. Pointiert gesagt, werden Systeme irgendwann eine Art von "geschlossener Anstalt". Das muss gar nicht einmal in jedem Fall nachteilhaft sein, weil sie sich dann ganz auf sich selbst konzentrieren können, also etwa Banken auf die professionelle Abwicklung von Geldgeschäften.

Für die Kirche ist die Selbstverschließung fatal

Für die Kirche dagegen ist die Selbstverschließung fatal. So konstatierte Benedikt: "In der geschichtlichen Ausformung der Kirche zeigt sich jedoch auch eine gegenläufige Tendenz, dass die Kirche zufrieden wird mit sich selbst, sich in dieser Welt einrichtet, selbstgenügsam ist und sich den Maßstäben der Welt angleicht. Sie gibt nicht selten Organisation und Institutionalisierung größeres Gewicht als ihrer Berufung zu der Offenheit auf Gott hin, zur Öffnung der Welt auf den Anderen hin. Um ihrem eigentlichen Auftrag zu genügen, muss die Kirche immer wieder die Anstrengung unternehmen, sich von dieser ihrer Verweltlichung zu lösen und wieder offen auf Gott hin zu werden." Die Kirche lebt nämlich nicht aus sich, sondern aus Gott. Darum ist die Vertikale für sie die Lebensader, nichts weniger. 

Die Verweltlichung unterwirft die Kirche den Erwartungen der Welt. Soziologischer formuliert wird sie ein zweckrationales Gebilde, dem von außen her Funktionen zu- oder auch abgeschrieben werden. Anders gesagt lässt sich die Kirche dann zum Funktionieren der Gesellschaft gebrauchen. Zusammenhalt, Toleranz, Wertschätzung und Sozialkitt, das ist von ihr verlangt, mehr nicht. Dafür wird sie mit gewissen Privilegien ausgestattet, etwa dem schulischen Religionsunterricht oder dem staatlichen Kirchensteuereinzug. Ihr selbst bleibt nur, geeignete Taktiken dafür zu finden. Nur passend zu den weltlichen Erwartungen müssen sie sein. Für den Skandal des Kreuzes dagegen ist hier kein Platz. Reine Horizontale also. 

Entweltlichung dagegen heißt, sich von Gott her gebrauchen zu lassen. Sendung und nicht Funktion. Dazu muss jeder Christ erst einmal bei sich selbst beginnen, von Gott her zu leben und die Welt als sehnsüchtige, aber auch gebrochene, erlösungsbedürftige Welt anzusehen. Das ist die Vertikale, die allein die Christen der Welt zurückgeben können. Originalton Papst Benedikt: "Es geht hier nicht darum, eine neue Taktik zu finden, um der Kirche wieder Geltung zu verschaffen. Vielmehr gilt es, jede bloße Taktik abzulegen und nach der totalen Redlichkeit zu suchen, die nichts von der Wahrheit unseres Heute ausklammert oder verdrängt, sondern ganz im Heute den Glauben vollzieht, eben dadurch, dass sie ihn ganz in der Nüchternheit des Heute lebt, ihn ganz zu sich selbst bringt, indem sie das von ihm abstreift, was nur scheinbar Glaube, in Wahrheit aber Konvention und Gewohnheit ist." Noch einmal: Das ist kein Programm des Rückzugs ins Getto. Ganz im Gegenteil: "Die von materiellen und politischen Lasten und Privilegien befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein." 

Die Sendung der Kirche darf nicht verdeckt werden

Es braucht an diesem Ort nicht nachgewiesen zu werden, wie hellsichtig die Analyse des Papstes vor zwölf Jahren war. Das waren für die Klarheit der Sendung, für die Tiefe des Glaubens und für die Eindeutigkeit des Zeugnisses verheerende Jahre für den deutschen Katholizismus. Natürlich hat der Missbrauchsskandal massiv die kirchliche Glaubwürdigkeit untergraben. Auch dies hat Benedikt vorhergesehen: "Dieser Skandal, der unaufhebbar ist, wenn man nicht das Christentum selbst aufheben will, ist leider gerade in jüngster Zeit überdeckt worden von den anderen schmerzlichen Skandalen der Verkünder des Glaubens. Gefährlich wird es, wenn diese Skandale an die Stelle des primären skandalon des Kreuzes treten und ihn dadurch unzugänglich machen, also den eigentlichen christlichen Anspruch hinter der Unbotmäßigkeit seiner Boten verdecken."

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Skandale müssen schonungslos aufgearbeitet werden, das ist klar. Dazu muss übrigens wirklich alles auf den Tisch, nicht nur das, was der eigenen kirchenpolitischen Position dient. Eigene Gewissenserforschung, nicht Fingerzeigen auf die Schmuddelkinder. Doch die Aufarbeitung von Skandalen darf nicht die Sendung der Kirche verdecken. Denn sie stammt von Gott und nicht von sündigen Menschen. Skandale ziehen nach unten, der Blick auf die Sendung dagegen lässt den Kopf wieder erheben und nach oben richten.

Nur selten haben Propheten zu ihrer Zeit offene Ohren und bereite Herzen gefunden. Das Meer der Welt drohte sie zu überschwemmen, gerade so wie den "Mönch am Meer" Caspar David Friedrichs. Doch das Wort der Propheten geht nicht unter. Es erhebt sich Jahr um Jahr höher. Man braucht kein Prophet zu sein, um sicher sagen zu können: Nicht anders wird es auch den Weisungen Papst Benedikts ergehen.

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