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Die Zukunft im "Zeichen menschlicher Brüderlichkeit" vorbereiten

Am 5. Juni erscheint ein aktuelles Interview-Buch mit Papst  Franziskus auf Deutsch. Es trägt den Titel "Gott und die Welt nach  der Pandemie" und  basiert auf Gesprächen des Papstes mit dem  italienischen Journalisten Domenico Agasso. Übersetzt aus dem  Italienischen hat es kein Geringerer als Erzbischof Georg Gänswein. Ein Gesprächsauszug exklusiv in der  "Tagespost".
Planet Erde
Foto: Adobe Stock | Die menschliche Gesellschaft auf Erden ist verletzlich. Die vielfältigen Beziehungen zwischen den Völkern machen gemeinsames Handeln notwendig.

Wir sind dabei, eine der schlimmsten humanitären Krisen nach dem Zweiten Weltkrieg zu meistern. Die Länder haben Notmaßnahmen erlassen, um die Pandemie und eine dramatische globale wirtschaftliche Rezession zu bekämpfen. Was ist von den Regierenden zu erwarten? 

Die Folgen der Epidemie haben auf extreme und tragische Weise Störungen offenbart, die schon lange unter uns existieren. Nun geht es darum, die Trümmer einer alten Ordnung neu zusammenzusetzen. Diese schwere Aufgabe obliegt jenen, die Regierungsverantwortung tragen. Ich bete deshalb für die Regierenden, die Staats- und Regierungschefs, die Gesetzgeber, die Bürgermeister, die Präsidenten der Regionen und für all jene, die soziale Rollen haben, dass sie die Verantwortung für die Sorgen der Völker erkennen und annehmen, auch durch notwendigerweise oft unpopuläre Entscheidungen. Sie müssen in besonderer Weise unterstützt werden. Sie brauchen das Gefühl, dass sie durch das Gebet und durch die Ermutigung der Menschen begleitet werden.

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In einer Zeit der Sorge um die Zukunft, die sich als ungewiss erweist, um den Arbeitsplatz, der in Gefahr ist, verloren zu gehen oder bereits verloren gegangen ist, um das Einkommen, das immer seltener ausreicht, und in Sorge um die anderen Folgen, die die gegenwärtige Krise mit sich bringt, ist es sehr wichtig, ehrlich, transparent und weitsichtig zu handeln. Jeder von uns ist aufgerufen, Gleichgültigkeit, Korruption und Verbindungen mit der Kriminalität zu bekämpfen, nicht nur die Regierenden. 

Die Pandemie erhellt problematische Situationen

 

Welches Prinzip könnte uns dabei inspirieren? 

Die Pandemie hat die dramatische Situation der Armut und die große Ungleichheit, die in der Welt herrscht, zum Vorschein gebracht. Ein kleiner Teil der Menschheit ist vorwärtsgeschritten, während die Mehrheit zurückgeblieben ist. Diese Epidemie hat vor allem die Schwächsten getroffen. Das Virus hat die bereits vorhandenen Ungleichheiten und die Diskriminierung vergrößert. Das, was im Gange ist, kann allen die Augen öffnen. Es ist Zeit, die sozialen Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zu beseitigen. Wenn wir die Prüfung als eine Möglichkeit zur Besserung sehen, können wir eine Zukunft im Zeichen menschlicher Brüderlichkeit vorbereiten, zu der es keine Alternative gibt, weil es ohne eine gemeinsame Vision keine Zukunft gibt   für niemanden. Wenn wir uns nicht des anderen annehmen, beginnend bei den Geringsten, die am meisten getroffen sind, die Schöpfung eingeschlossen, ist die Welt nicht zu heilen.

Die Grenzen fallen, die Mauern brechen ein, die Rivalitäten zerbröseln und die Reden der Ultras und Hardliner verstummen angesichts einer fast nicht wahrnehmbaren Präsenz wie des Virus, das die Zerbrechlichkeit unserer Existenz offenbart. Wenn die verantwortlichen Führer der Nationen diese Lektion lernen, mit all jenen, die soziale Verantwortung tragen, werden sie die Völker der Erde in eine blühendere und brüderliche Zukunft führen. Die Staatsoberhäupter sollten miteinander sprechen, sich ausführlich austauschen und Strategien vereinbaren. Immer wieder hingegen sehen wir nur Kompromissversuche, die sich in Rauch auflösen, ohne dass wirklich aufeinander gehört wird. Halten wir uns dabei vor Augen, dass es Schlimmeres gibt als diese Krise: Das ist das Drama, die Chancen zu vertun, die sie bietet. Aus einer Krise kommen wir nicht unverändert heraus: Entweder wir kommen besser heraus oder schlechter. 

„Wenn wir wie ein gemeinsames Volk handeln,
werden wir auch die Epidemie überwinden“

Wie könnten wir denn diese Chance vertun? 

Indem wir uns in uns selbst verschließen. Wenn wir hingegen eine neue Weltordnung in Angriff nehmen, die auf Solidarität gründet, und innovative Methoden studieren, um miteinander Vorurteile, Armut und Korruption zu bekämpfen, ohne dass wir die Verantwortung anderen überlassen, dann könnten wir die Ungerechtigkeiten überwinden. Wir arbeiten daran, medizinische Versorgung für alle bereitzustellen. Vermeiden es, uns mit bequemen Ausflüchten und verharmlosenden Floskeln dafür zu rechtfertigen, dass wir nicht das tun, was den Absturz und die schwerwiegenden Folgen dessen, was wir erleben, verhindert. Wir können aber wieder auf die Füße und die Beine kommen, wenn wir konkret und sichtbar zusammenhalten. Wenn wir hingegen weiterwursteln und versuchen, den anderen überlegen zu sein, zerstören wir die rettende Harmonie. Es ist die Logik der Herrschaft, andere zu dominieren, und das schafft verheerende Störungen. Die Harmonie ist eine andere Sache: Sie ist ein Dienst, der hilft, die menschliche Würde anzuerkennen. Es ist jene Harmonie, die von Gott kommt, mit dem Menschen im Zentrum.

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Solidarität und Barmherzigkeit führen zur Heilung der Welt

Wie lässt sich denn die Mentalität verändern? 

Wir müssen uns bewusst werden, dass Gleichgültigkeit und Individualismus oder Aussagen wie "was mich nichts angeht, interessiert mich nicht", schlechte, schädliche Einstellungen sind. Die gemeinsame Anstrengung gegen die Pandemie hingegen kann helfen, dass wir alle den Wunsch spüren, die brüderlichen Banden als Glieder einer einzigen Familie zu stärken. Jeder Einzelne ist wichtig, aber die solidarische Gemeinschaft ist in diesem planetarischen Notfall wichtiger. Wenn wir wie ein gemeinsames Volk handeln, werden wir auch die Epidemie überwinden, um Brücken zu bauen und Mauern und Uneinigkeiten zu beseitigen. Wir werden uns, angefangen bei den Verantwortlichen der Nationen, als Teil einer einzigen Familie erkennen und wahrnehmen und uns gegenseitig stützen.

Die stärkeren Nationen werden den schwächeren zu Hilfe kommen. Das ist nicht unmöglich, das ist keine Utopie. Wenn wir daran glauben, können wir es gemeinsam schaffen. Die Antwort der Christen in den Stürmen des Lebens kann nur lauten: Barmherzigkeit. Sie ist in mitleidvoller Liebe allen gegenüber auszuüben, vor allem jenen gegenüber, die es schwer haben. Das christliche Mitleid kann auch eine gerechte Verteilung zwischen den Nationen und ihren Institutionen inspirieren, um der gegenwärtigen Krise in solidarischer und überzeugender Weise Herr zu werden, ohne weiterhin Machenschaften aus privaten, wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen vorherrschen zu lassen.

Niemand kann sich alleine retten

Wo konkret könnten wir beginnen? 

Beim sofortigen Beenden aller Konflikte, die noch immer sehr viele Regionen weltweit in Blut baden. Der Friede! Über die Krisen hinaus, welche die Bevölkerungen geißeln, darf die Internationale Gemeinschaft die Suche nach dem Frieden nicht vergessen. Die Verringerung und die Absage jeglicher Feindseligkeit ist der erste Schritt, um die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zu beseitigen. Wir können ohne Frieden nicht genesen! Es wäre traurig, wenn das Gegenteil gewählt würde. Das würde Tod oder mühevolles Leben für Millionen von Menschen bedeuten. Es ist nicht mehr hinzunehmen, dass weiterhin Waffen produziert und mit Waffen gehandelt wird und dafür ungeheure Gelder ausgegeben werden, die für die Behandlung der Menschen gebraucht würden, um Leben zu retten. Heutzutage werden für die Militärausgaben absurde Summen aufgewendet, während Kranke, Arme, ja ganze Bevölkerungsteile in den Kriegsgebieten unschuldig der Gewalt zum Opfer fallen, einer Gewalt, über die an den Tischen der Macht aus ökonomischen Interessen entschieden wird. Zu viele Führer nutzen die Spannungen zwischen den Ländern aus. 

Der Gesundheitsnotstand und die sozio-ökonomische ökologische Zerrüttung weiten die Schere zwischen Reichen und Armen und den Gebieten, wo Frieden, Wohlstand und Aufschwung herrschen, und den Gebieten, wo es Konflikte und ökologische Verwüstungen gibt. Man darf nicht länger übersehen, dass es einen Teufelskreis gibt zwischen bewaffneten Gewalttätigkeiten, Armut und vernunftloser, irrsinniger Ausbeutung der Umwelt. Das ist ein Zyklus, der die Versöhnung verhindert, Verletzungen der Menschenrechte befördert und jede nachhaltige Entwicklung behindert. Gegen dieses planetarische Unkraut, das die Zukunft der Menschheit zu ersticken droht, bedarf es eines politischen Handelns, das internationale Einigkeit erfordert. Die Konflikte können nicht durch Kriege gelöst werden, sondern dadurch, dass Rivalitäten und Gegensätze überwunden werden. Auf diese Weise ist es möglich, wirksam für das wahre höchste Gut der Nationen zu arbeiten: Das ist die menschliche Familie, die in Liebe, Respekt und Vernunft zusammenlebt. 

Als Brüder und Schwestern sind die Menschen in der Lage, gemeinsamen Bedrohungen ohne gegenseitige Beschuldigungen, Instrumentalisierungen der Probleme, kurzsichtigen Nationalismen und eine Propaganda der Abschottung, des Isolationismus und andere Formen des politischen Egoismus entgegenzutreten. Mich erschrecken Herrschaftsattitüden der Isolierung. Ein Land darf souverän sein, aber nicht verschlossen. Die Souveränität ist zu verteidigen, aber die Beziehungen mit den anderen Ländern müssen auch geschützt und gefördert werden, vor allem jetzt. Wenn wir in dieser Zeit etwas gelernt haben, dann dies, dass niemand sich allein retten kann.


Papst Franziskus:  Gott und die Welt nach der Pandemie. Ein Gespräch mit Domenico Agasso. (Original-Titel:  Dio e il mondo che verr )
fe-Medienverlag,  ISBN 9783863573126, EUR 14,80    

 

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