Krems

Bringt die Pandemie den demokratischen Rechtsstaat in Gefahr?

„Great Reset“, Verschwörungen, Corona-Razzia, Willkür, Kanzlerrunde, Lockdown und Ausgangssperre sowie Bußgelder sind Schlagwörter, die derzeit die gesellschaftliche Debatte befeuern. Aber nicht eine geheime Weltverschwörung oder die Bosheit globalistischer Eliten bedrohen unseren Rechtsstaat, sondern der Verfall des Rechtsbewusstseins durch politisches Chaos, Gesetzesflut und Verunsicherung.
Coronavirus Berlin
Foto: dpa | Behördliche Verordnungen, grenzwertiges politisches Agieren, gravierende Fehler und ein willkürlich wirkendes Auftreten der Behörden verunsichern die Bürger.

Wer glaubt, was auf vermeintlich sozialen Medien so alles in Umlauf ist, hat wohl nur die Wahl zwischen Resignation und Revolution. Ein Killervirus, im chinesischen Labor gezüchtet, dann – versehentlich, fahrlässig oder vorsätzlich? – in globalen Umlauf gebracht, diene nur dazu, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie abzuschaffen zugunsten einer globalen Autokratie, lautet (stark komprimiert) eine These, die man auf Facebook und Youtube in Variationen findet. Lassen wir alles Beiwerk (Beteiligungsgeschäfte von Bill Gates und George Soros, Verharmlosungen und Dramatisierungen von Corona) beiseite: Gibt es einen sinistren Plan zur Aushebelung der Rechtsstaatlichkeit und zur Abschaffung von Bürgerrechten?

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Es gibt jedenfalls keine überzeugenden Belege dafür, dass irgendeine Regierung daran interessiert war, eine globale Pandemie auszulösen, die Wirtschaft des eigenen Landes an die Wand zu fahren und die eigene Macht an eine utopische Weltregierung abzutreten. Sehr wohl aber gibt es Mächte, die – im Sinn des Sprichworts „never waste a good crisis“ (verschwende nie eine gute Krise) – die Gelegenheit nutzen: China etwa hat die Krise genutzt, die lange geplante Total-Überwachung der eigenen Bevölkerung zu perfektionierenund global die Agenda seines ökonomischen Kolonialismus voranzutreiben. Dass Diktatoren die Krise nutzen, ihre Macht zu zementieren, ist nicht überraschend. Ebenso wenig, dass globale Marktmächte wie Amazon und Netflix ihre Gewinne zu maximieren und Konkurrenten zu marginalisieren versuchen.

„Es gibt undemokratische Weltmächte, deren Herrschaftswissen
von gesetzlich geordneter Staatlichkeit weithin unabhängig ist“

Beides darf uns beunruhigen: Der Aufstieg Chinas zur ersten Weltmacht gefährdet das Lebens- und Staatsmodell Europas; die faktische Monopolstellung von Internetgiganten mit ihrer riesigen Datenmacht bedroht unsere Freiheit. Verglichen mit dem Wissen, das Giganten wie Google aufgrund unseres Internetverhaltens über uns sammeln, sind die Geheimdienste eher ahnungslos. Staatliche und internationale Einschränkungen (etwa die Datenschutzgrundverordnung) treffen die Kleinen, nicht die Unverzichtbaren: Google, Youtube, Facebook und Amazon diktieren uns die Bedingungen, unter denen wir ihnen unsere Privatsphäre offenbaren und unsere Daten schenken. Also ja, es gibt undemokratische Weltmächte, deren Herrschaftswissen von gesetzlich geordneter Staatlichkeit weithin unabhängig ist. Anzunehmen, dieses Herrschaftswissen werde immer nur kommerziell genutzt werden, um uns immer treffsicherer mit Waren zu versorgen, ist naiv. Anzunehmen, dass der Markt die faktischen Monopolisten aus eigener Kraft demokratisiert, wohl auch.

Die digitalen Weltmächte nutzen die Krise, um ihre Macht auszubauen. Und wir sind dankbar und erleichtert, dass wir sie haben, weil sie wenigstens teilweise ersetzen, was uns durch Corona-Pandemie plus Lockdowns genommen wird. Wer kurz darüber nachdenkt, wie sein Leben in einem vergleichbaren Lockdown anno 1980 abgelaufen wäre, ahnt den Bedeutungszuwachs der Internetriesen in der aktuellen Krise. Verglichen mit ihnen wirken nationale Regierungen rund um den Erdball wie Kaiser ohne Kleider: entzaubert und lächerlich. Man muss schon ein hartnäckiger Verschwörungstheoretiker sein, um anzunehmen, eine Regierung in Washington, Berlin, London, Wien, Budapest, Madrid, Moskau oder Rom habe in irgendeiner Weise die Lage im Griff oder gar einen großen Plan.

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Demokratisch: Es gibt keine ungeteilte Zustimmung

Tatsächlich sind die Regierungen in keiner beneidenswerten Lage: Sie müssen ihre Länder bei erhöhter Kollisionsgefahr durch dichten Nebel manövrieren, ohne adäquate Erfahrungswerte und im vollen Wissen um gigantische Kollateralschäden. Keine denkbare Regierungsmaßnahme darf (in Demokratien jedenfalls) auf einen gesellschaftlichen Konsens und die ungeteilte Zustimmung von Medien und Opposition hoffen. Alles – und das Gegenteil von allem – ist umstritten. Keine Regierung kann die finale Tragweite ihrer Entscheidungen abschätzen: weder epidemiologisch noch gesellschaftlich und wirtschaftlich. Entscheiden muss sie aber doch, denn auch Unterlassungssünden sind Sünden und Untätigkeit rächt sich rasch.

Auf die unübersichtliche Gefechtslage reagieren die Regierenden mit einer Flut von Regelungen, Verordnungen und Gesetzen. Weil sich die virologische Lage ständig verändert, die Erkenntnisse der Wissenschaften wachsen und immer mehr medizinische, psychische, ökonomische und existenzielle Folgeschäden sichtbar werden, werden alle neuen Regelungen, Verordnungen und Gesetze permanent diskutiert, verändert, angepasst oder aufgehoben. Die Folge ist, dass die Menschen den Überblick verlieren. Unter welchen Bedingungen darf ich wann aus dem Haus gehen, andere Menschen treffen, arbeiten, Sport treiben? Wann und wie darf ich einen Gottesdienst besuchen, der Großmutter Essen bringen, einkaufen? Welche Gründe gibt es, in eine grüne, hellrote oder dunkelrote Zone oder gar in ein Nachbarland zu reisen? Wo genügt ein Mund-Nasen-Schutz und wo brauche ich die FFP2-Maske?

Es ist ein Irrtum, zu meinen, mit wachsender Gesetzesflut wachse die Gesetzestreue oder die Rechtssicherheit. Im Gegenteil: Je unübersichtlicher die Menge der geltenden Verordnungen und Gesetze, desto größer die Unsicherheit und Verwirrung. Wenn selbst hauptberufliche Beobachter den Überblick verlieren, welche Regelungen gerade gelten (und welche nur angedacht, diskutiert, vorgeschlagen oder schon wieder verworfen sind), erodiert das Rechtsbewusstsein. Kommunistische Staaten hatten dies zur Kunstform stilisiert: Hier gab es so viele und so widersprüchliche Gesetze und Verordnungen, dass kein Bürger je sicher sein konnte, rechtstreu zu handeln, sondern jeder Bürger jederzeit verhaftet und verurteilt werden konnte. Die Menschen wussten: Irgendetwas finden sie immer. Genau darin liegt die Macht der Willkürherrschaft.

Einen derart dunklen Plan hegen die Demokratien in Europa nicht. Aber durch die Notwendigkeit, unaufhörlich auf eine Krise zu reagieren, die so gefährlich, unberechenbar und übermächtig ist, wird auch die stetige Flut von Verordnungen und Gesetzen zur Gefahr für den Rechtsstaat. Einfach deshalb, weil das Rechtsbewusstsein der Menschen diese Flut nicht mehr verarbeiten kann. Ein Beispiel: Jeder weiß, dass die Personenfreizügigkeit zu den Grundfreiheiten in der EU gehört, weshalb wir frei von Irland nach Griechenland oder von Estland bis Portugal reisen dürfen. Aber keiner weiß heute, wie viele Grenzkontrollen, Covid-Tests, Ausnahmeregelungen und Quarantänebefehle ihm drohen, sollte er von diesem Recht Gebrauch machen.

Es darf keine Willkür walten

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Eine Aufgabe des Rechts ist es, Ordnung ins Chaos zu bringen und Gerechtigkeit statt Willkür walten zu lassen. Corona hat auch hier alles auf den Kopf gestellt: Die Rechtssetzung stiftet immer schneller Chaos und Willkür. Je nach psychischer Verfasstheit und Lebenserfahrung löst dies bei Betroffenen Angst oder Ignoranz aus, aber beides ist Gift für die Rechtstreue. Psychisch eher zu Vorsicht und Angst geneigte Menschen werden sich angesichts der wachsenden Rechtsunsicherheit weniger trauen als erlaubt wäre. Zur Angst vor Krankheit und Tod kommt die Angst vor Polizei und Gesetz, die Angst beschuldigt zu werden und sich rechtfertigen zu müssen. Selbstsichere und wagemutige Menschen werden zu Hasardeuren, die die ständig veränderte Rechtslage als lächerlichen, weltfremden Unsinn zunehmend ignorieren.

Als wäre all das für das Rechtsbewusstsein – und in Folge für den Rechtsstaat – nicht toxisch genug, kommt eine weitere Bedrohung hinzu: Die Demokratie scheint nicht mehr zu funktionieren. Die demokratischen Rechtsstaaten Europas quälen sich plan- und hilflos durch die Pandemie, während das Heimatland von Covid-19, das autokratische China, so tun kann, als habe es die epidemiologische Lage im Griff. Chinas Bevölkerung scheint ruhig zu sein, sein Wirtschaftswachstum erstaunte 2020 die Welt. Europas Rechtsstaaten müssen sich also zu allem Überfluss auch noch mit der Verschwörungstheorie herumschlagen, Autokratien seien funktionaler, und Demokratien taugten nur für schönes Wetter.

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