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"Reich Gottes" war das Losungswort

Zerrissen zwischen Herz und Verstand: Wie Hölderlin um den Glauben rang. Eine Biographie von Rüdiger Safranski.
Hölderlin-Biographie von Safranski
Foto: IN | Hölderlins Mutter schickte ihren Sohn voller Hoffnung in Klosterschulen: er sollte Pfarrer werden.

Der 250. Geburtstag Hölderlins am 20. März 2020 ist nicht der einzige Grund, sich an den großen Dichter zu erinnern. Seine Aktualität hat er auch in dem, was er die „Götternacht“ nennt, sowie in seinen Überlegungen zum „Eigenen“. Der Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Philosoph Rüdiger Safranski („Goethe“, „Nietzsche“) hat beide Linien nachgezeichnet, besonders die religiöse. Denn eine Annäherung an Hölderlin wird nach Safranski kaum gelingen, wenn der Leser unempfindlich für „göttliches Feuer“ bleibt: „Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht,/ Aufzubrechen. So komm! Dass wir das Offene schauen“, heißt es in der Elegie „Brot und Wein“. „Komm! ins Offene, Freund!“ hat Safranski auch als Buchtitel gewählt.

Hölderlin sah die Welt in der Götternacht versunken

Safranski bringt in seiner Hölderlin Biographie Leben und Werk des Dichters eng zusammen. Dabei nimmt er auch zur Forschung Stellung und sagt, was ihm plausibel erscheint. Denn manches ist noch heute bei Hölderlin unklar. Die Familie des 1770 in Lauffen am Neckar geborenen Hölderlin gehörte zur schwäbischen „Ehrbarkeit“ – die Elite des höheren Mittelstands mit evangelischen Beamten. Seine Mutter, eine Pfarrerstochter aus dem Zabergäu und Nachfahrin der „Schwäbischen Geistesmutter“ Regina Bardili (1599–1669), wollte, dass ihr Sohn Pfarrer wird; bei ihrer ersten schwierigen Schwangerschaft gab sie das Gelübde, das nächste Kind „dem Herrn zu bestimmen“, wenn es ein Sohn werde. Hölderlin aber wollte nicht und gab später an, „zuviel Naturfilosofie“ gehabt zu haben. So schickte sie ihn aber zunächst auf die Lateinschule nach Nürtingen, dann auf die Klosterschulen Denkendorf und Maulbronn, schließlich zum Tübinger Stift. Die Erziehung beschreibt Safranski in pietistischem Geist – so waren in Denkendorf „leichtsinnige“ Romane wie Goethes „Werther“ verboten, vor Tee und Kaffee wurde wegen der aufputschenden Wirkung gewarnt, Wirtshäuser, Kartenspiel oder alle Formen lärmenden Zusammenseins waren tabu. In Maulbronn ging es dann liberaler zu, und Hölderlin traf hier mit der Lektüre von Schillers „Räubern“ auf die Gefühle des Sturm und Drang, für die er sehr empfänglich war. Ihm war jetzt schon klar, dass er nur Dichter werden wollte. Zunächst schwankte er aber noch ein wenig – Klopstock war ihm die Verkörperung des Dichter-Priesters, wie Safranski schreibt, im Tübinger Stift kam dann noch die Lektüre von Kant und Fichte dazu, auch Spinoza war in aller Munde. Hölderlin fühlte sich zerrissen in Herz und Verstand, an seine Mutter schrieb er: „Wer hilft uns aus diesen Labyrinthen? Christus. Er zeigt durch Wunder, dass er das ist, was er von sich sagt, dass er Gott ist. Er lehrt uns das Dasein der Gottheit und Liebe und Weisheit und Allmacht der Gottheit so deutlich. Und er mus wissen, dass ein Gott und was Gott ist, denn er ist aufs Innigste verbunden mit der Gottheit. Ist Gott selbst.“ „Reich Gottes“ war auch das Losungswort der Freunde Hegel, Schelling und Hölderlin, die im Tübinger Stift in einem Zimmer wohnten. Oder in Hegels Worten an Schelling: „Vernunft und Freiheit sei unsere Losung und unser Vereinigungspunkt die unsichtbare Kirche.“

Für Hölderlins dichterische Entwicklung wurde Schiller immer wichtiger. In den Jahren des Tübinger Stifts orientierte sich Hölderlin an dessen eher gedanklicher Poesie mit idealistischen Ideen, wobei die Personifikationen wie in der griechischen Mythologie zentral werden. Denn „wo wir zergliedern, wo wir deutliche Begriffe haben, empfinden wir schlechterdings nichts“, schrieb Hölderlin 1770 in seiner Magisterarbeit.

So war er denn auch kein Romantiker, sondern dichtete über die Menschheit, Weltharmonie, Freiheit und Unsterblichkeit – doch blieb seine innere Zerrissenheit erhalten zwischen Glaube und Vernunft, der Hinwendung zur Antike und Gegenwart. So dichtete er Mitte der 1770er Jahre: „Ich hasse mich! es ist ein ekles Ding/ Des Menschen Herz, so kindisch, so stolz,/ So freundlich.../ Und doch so hämisch wieder! weg! ich hasse mich!“

Schillers „Die Götter Griechenlands“ (1788) erregten großes Aufsehen, Theologen sahen eine Ablehnung des Christentums. Thema war hier, was Nietzsche später dionysisch nannte, Hölderlin hat es „Götternacht“ genannt. „In diesem Gedicht wird die Erinnerung an die griechischen Götter zur kühnen Abrechnung mit dem christlichen Gott“, heißt es bei Safranski – Hölderlin wurde das Problem der entzauberten Welt deutlich, deren Verzauberung zurückzugewinnen sei; unter anderem im Roman „Hyperion“ macht Hölderlin diesen Versuch in „dürftiger“ Zeit.

„Kein Volk zerrissener als die Deutschen“

Schiller war begeistert und bot einen Abdruck des „Hyperion“-Fragments in der „Thalia“ an. Auch Joseph Görres gehörte zu den großen Bewunderern des „Hyperion“, er hat eine ausführliche Besprechung geschrieben. Für Safranski ist der Roman der Versuch der Darstellung eines exzentrischen Lebensverlaufs, der sich in die Fremde von Griechenland nach Deutschland begibt, sich also entfremdet, um sich am Ende wiederzufinden. Doch zur Einheit kommt es nicht mehr, wie in Kleists „Marionettentheater“, dem nochmaligen Essen vom Baum der Erkenntnis. Hölderlin beklagt vielmehr an Anfang und Ende seines Romans einen Dämmerzustand, in dem sich die Wahrheit und das erfüllte Leben entzogen hätten – und das alles noch in der Perspektive der Vergangenheit erzählt. Was ihn wie schon in Schillers „Götter Griechenlands“ beschäftigte, war die Ahnung von der Wiederkehr der Antike als „errungenes Eigentum der Menschheit“. Aber die Wahrheit der Erkenntnis und des Lebens findet er nicht und fühlt sich als „ein Wesen der Dämmerung, zwischen Licht und Finsternis“ (Safranski).

Woher aber die gesuchte große Einheit nehmen, das Sein? Zunächst in der Schönheit Diotimas, aber die weist ihn zurück, es gebe eine höhere Schönheit – Politik, Religion, Philosophie und vor allem die Poesie... Diotima macht ihn zum Dichter. In Deutschland soll er das Dichten lernen, doch „ich kann mir kein Volk denken, dass zerrissener wäre, wie die Deutschen“.

Hölderlin wendet sich gegen die Arbeitsteilung und das Spezialistentum in Deutschland, das er auch im „Empedokles“ zum Thema macht, das sich bis zum „Kulturhass“ auf die Gesellschaft als totem Mechanismus steigert. Auch hier nicht die gesuchte Einheit.

Rasch merkte er, dass er sie in Fichtes reinem Ich als Einheit von Subjekt und Objekt nicht fand und kehrte sich gleich ganz von der Philosophie ab, weil er von ihr nicht loszukommen drohte: „Die Philosophie ist eine Tyrannin, und ich dulde keinen Zwang mehr, als dass ich mich ihm freiwillig unterwerfe.“ Stattdessen immer mehr antikisierende Dichtung, die ihn vom Christentum entfernte, wie er es kannte. Es folgen die großen Gedichte „Wie wenn am Feiertage“ mit dem Thema des Dramas „des religiösen Dichtens in der götterlosen Zeit“ (Safranski) oder „Brod und Wein“ – der Dichter findet in der „Götternacht“ die Himmlischen, das Göttliche, Geist, Natur, wobei der christliche Gott und die antiken Götter wechselnde Gestalten des Göttlichen sind. Hölderlin versucht Ausschau zu halten auf die Anzeichen eines neuen Tagesanbruchs nach der Nacht und hofft auf den „kommenden Gott: „Oder er (Gott) kam auch selbst und nahm des Menschen Gestalt an/ Und vollendet und schloss tröstend das himmlische Fest.“

Neben der Sehnsucht nach dem Religiösen gibt es auch die „vaterländischen Gesänge“. Vaterland bedeutet für Hölderlin „Gewohnheit, Brauchtum, Religion und kulturelle Traditionen“ – es ist nach Safranski ein vor- und überpolitischer Begriff, der aber auch mit politischen Forderungen verknüpft ist. So sei das Vaterland erst noch zu erringen, der Friede von Lunéville 1801 zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich gab ihm zusätzlich Hoffnung. Hölderlin selbst aber, auch das behandelt das hervorragende Buch von Safranski, verfällt die letzten vierzig Jahre seines Lebens in geistige Umnachtung. Am Endes der Biographie gibt der Autor einen Einblick in die vielsträhnige Rezeption Hölderlins im 20 Jahrhundert.

Rüdiger Safranski: Hölderlin: Komm! ins Offene, Freund!
Hanser Verlag 2019, Biographie. 400 Seiten, ISBN-13: 978-344626-408-3, EUR 28,–

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