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Die Anstößigkeit des Kreuzes

Warum Schwäche stark ist.
Karwoche in Kelkheim
Foto: Sebastian Gollnow (dpa) | Eine Steinkreuz mit Jesusfigur wird von einem Licht angeleuchtet. Am Karfreitag gedenken Christen an das Leid und das Sterbens Jesu Christi am Kreuz. +++ dpa-Bildfunk +++

Gott – wie würden sich Jugendliche, die vom christlichen Glauben nichts gehört haben, ihn wohl vorstellen? Perfekt müsste er sein, souverän und unverletzlich, mächtig und durchsetzungsstark. Er hätte alles, was er braucht – und müsste können, was er will. Hindernisse dürfte es für ihn keine geben. Alle Herausforderungen müsste er spielend überwinden können. Das wäre göttlich. Schwäche, Leiden oder Verletzlichkeit dürfte er nicht zeigen. Das wäre uncool. Das würde seine Potenz beeinträchtigen, seinen Status mindern. Ein „Opfer“ dürfte er auf keinen Fall sein! Diese Vorstellung, die allzu durchsichtig menschliche Vollkommenheitswünsche auf Gott projiziert, durchkreuzt der christliche Glaube.

Gott ist stark

Provokant hält er dagegen: Gott ist stark, weil er schwach sein kann. Jesus Christus, sein Gesandter und Sohn, setzt sich dem Widerspruch von Menschen wehrlos aus, die seine Botschaft nicht ertragen und ihn weghaben wollen. Im ohnmächtigen Dulden von Hass und Gewalt zeigt sich die alle menschlichen Potenzprojektionen sprengende Macht seiner Liebe. In der Passion auf Golgatha stellt sich der Gekreuzigte auf die Seite der „Opfer“ – und erträgt den Widerspruch der „Täter“. Auf Hass und Gewalt gibt er die entwaffnende Antwort der Gewaltlosigkeit und Liebe. Kreuze und Kruzifixe bringen diese Provokation symbolisch prägnant zum Ausdruck.

Nun werden Kreuze in der Öffentlichkeit als zunehmend anstößig empfunden. Aus den Hörsälen der Universitäten sind sie verschwunden, ihre öffentliche Präsenz in Gerichtssälen und staatlichen Institutionen wird angefragt, zuletzt haben Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes das Kreuz aus dem Historischen Rathaus der Stadt Münster im Vorfeld eines G-8-Gipfels entfernen lassen, es hätte bei anders- und nichtgläubigen Teilnehmern Anstoß erregen können. Vorauseilende Demontage als Provokationsprophylaxe!

Vorbehalte gegen das Kreuz

Die wachsenden Vorbehalte gegen das christliche Symbol hängen mit Verschiebungen des religiösen Feldes und wachsender Distanz zur Kirche zusammen. Längst leben wir in Gesellschaften, die nicht mehr christlich homogen, sondern religiös plural und weltanschaulich bunt sind. Auch wächst der Anteil der Religionslosen. Christliche Theologie, die gelernt hat, sich mit den Augen der anderen zu sehen, ist nicht blind dafür, dass das Kreuz für Anders- und Nichtgläubige eine Zumutung sein kann. Juden wurden lange als „Gottesmörder“ verunglimpft, am Karfreitag, dem Datum des Leidensgedächtnisses Jesu, gab es immer wieder antijüdische Pogrome. Auch im Affekthaushalt vieler Muslime hallt das historische Trauma der Kreuzzüge nach.

Sie haben aber zumeist keine Probleme damit, dass es in westlichen Gesellschaften Kreuze im öffentlichen Raum gibt. Es sind vielmehr säkulare Zeitgenossen mit christlichem Sozialisationshintergrund, die zur eigenen Tradition auf Distanz gehen und im Namen interreligiöser Toleranz fordern, auf Kreuze zu verzichten. Sie verweisen auf die Ambivalenz des Symbols, kritisieren die Verquickung des Kreuzes mit der Kolonialgeschichte oder erinnern an die militärische Instrumentalisierung. Eine überzogene Passionsfrömmigkeit könne überdies zur pathologischen Überhöhung des Leidens beitragen und eine geistliche Ideologie des Gehorsams fördern. Schließlich ist immer wieder die Anfrage zu hören: Verweist das Kreuz nicht auf einen erzürnten Orientalen im Himmel, der das Opfer seines Sohnes braucht, um sich besänftigen zu lassen?

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Die Passion Jesu als Hingabe

Es ist Aufgabe der Theologie, solche Verzeichnungen zurechtzurücken und die Passion Jesu Christi als Hingabe bis ins Äußerste zu verdeutlichen. Nicht Gott braucht etwas, sondern der Mensch – und die Passion ist Ausdruck der rettenden und erlösenden Zuwendung Gottes zum Menschen. Jesus aber ist am Kreuz gestorben für das, was er verkündet und gelebt hat. Er hat das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe nicht nur gepredigt, sondern auch verwirklicht. Er hat sich sozial Stigmatisierten und Sünderinnen zugewandt. Das hat provoziert. Jesus hätte der Hinrichtung am Kreuz ausweichen können. Das hat er nicht getan. Daher besiegelt der Schmachtod am Kreuz sein Leben und seine Botschaft vom angebrochenen Reich Gottes. Mit dem Tod des Boten wäre aber auch die Botschaft tödlich getroffen worden, wenn nicht der Gekreuzigte zu neuem Leben erstanden wäre, das keinen Tod mehr kennt. Das Kreuz ist daher auch österliches Hoffnungszeichen!

Politik der weißen Wand

Gegen die Politik der weißen Wand, die Kreuze im Namen der weltanschaulichen Neutralität oder der interreligiösen Toleranz aus dem öffentlichen Raum verschwinden wird, wird oft das Argument angeführt, das Christentum habe die Geschichte und Kultur Europas geprägt. Das ist gewiss richtig. Kreuze markieren symbolisch die Anbindung an christliche Herkunftswelten, denen die westliche Kultur viel verdankt. In der Architektur der Städte ragt sie durch Kirchen und Kathedralen, in der Bestattungskultur durch Grabkreuze sichtbar in die Gegenwart hinein. Eine Politik der weißen Wand kappt diese Herkunftswelten – und es wäre illusionär zu glauben, dass die Leerstelle unbesetzt bliebe.

Symbols der Caritas

In diesem Sinn hat ein agnostischer Intellektueller um 1900 interveniert, als politische Kreise in Uruguay das Kreuz aus Spitälern entfernen wollten. Ob man wirklich glaube, durch das Abhängen des christlichen Symbols der Caritas, des Mitgefühls und der sich für andere verschenkenden Liebe, weiterzukommen? Ob man stattdessen etwa ein Porträt von Kant oder eines Politikers aufhängen wolle? Eine rein geschichtlich-kulturelle Rechtfertigung des Kreuzes im öffentlichen Raum bleibt unbefriedigend, wenn sie die theologische Dimension ausklammert. Dazu vier Anstöße:

(1) Die sichtbare Erinnerung an das Leiden Christi gibt erstens den Anstoß, das Leid der anderen nicht zu verdrängen und die eigene Verwundbarkeit nicht zu verstecken. Apathie und Abstumpfung, das Nichtsehenwollen der Not anderer werden durch den Blick auf das Kreuz unterbrochen. Das Eintreten für die Schwachen aber ist stark. Es folgt dem Appell, sich mit den Armen zu solidarisieren und Strukturen des Unrechts zu bekämpfen. Ohne das Symbol des Kreuzes als Zeichen der Hingabe und „Caritas“ könnte die soziale Temperatur in der Gesellschaft schnell kälter werden.

(2) Das Kreuz ist darüber hinaus Spiegel der eigenen Fehlbarkeit und Schuldanfälligkeit. Es deckt das Böse auf, das in jedem von uns als dunkle Möglichkeit schlummert. Wir alle machen Fehler und sind Meister in der Kunst, es nicht gewesen zu sein, die nach Odo Marquard immer darauf hinausläuft, es andere gewesen sein zu lassen. Diesen unheilvollen Mechanismus der Schuldabschiebung unterbricht das Kreuz, es macht mit der Banalisierung des Bösen ein Ende, indem es die zerstörerischen Folgen schuldhaften Tuns zeigt. Was in unguten Gedanken beginnt, sich in gehässigen Worten fortsetzt, kann sich in der Stigmatisierung anderer entladen. Diese gefährliche Dynamik gilt es auszusetzen.

(3) Das Kreuz steht weiter für eine Kultur der Vergebung, die den anderen nicht auf seine Fehler fixiert. Jesus hat die Feindesliebe in der Bergpredigt nicht nur als hypermoralischen Imperativ gefordert, sondern selbst bis in den Tod hinein verwirklicht. Sterbend hat er für seine Peiniger gebetet (Lk 23, 34). Statt andere auf ihre Defizite zu reduzieren und sie als Rivalen niederzumachen, gilt es im Geist Christi, ihnen einen Spielraum der Umkehr und des Neubeginns offen zu halten. Ein Denken in Freund-Feind-Schemata, das Fronten verhärtet, anstatt sie kommunikativ zu verflüssigen, wird durch das Kreuz heilsam unterlaufen.

(4) Am Ende ist das Kreuz Zeichen für den österlichen Durchbruch zu einem Leben, das keinen Tod mehr kennt. Die Wunden bleiben sichtbar, aber sie werden nicht vorgezeigt, um zu bezichtigen und zu überführen. Sie sind Zeichen der bis ins Äußerste gehenden Liebe. Paulus, der vor Damaskus aus einem zelotischen Verfolger zu einem emphatischen Bekenner Jesu geworden ist, und schon vorher Maria Magdalena oder die Emmaus-Jünger sind Zeugen der bahnbrechenden Erfahrung, dass der Gekreuzigte lebt! Die Auferstehung des Gekreuzigten aber reißt einen Horizont der Hoffnung auf, der quersteht zu resignativen oder apokalyptisch gefärbten Einstellungen der Gegenwart. Unsere Biographien werden nicht im Ozean des Nichts untergehen.

Österliche Hoffnung

Wir werden auf der anderen Seite des Todes erwartet, so die österliche Hoffnung, die durch die Vertikale des Kreuzes angezeigt wird. Christus, der „Anführer des Lebens“ (Apg 3, 15), ist uns vorausgegangen. Das himmlische Hochzeitsmahl ist eine Metapher für die unbeschreibliche Fülle des Lebens, das vor uns liegt. Diesen Übergang vom Tod zum Leben feiert das Christentum, wenn es im Triduum paschale des Todes und der Auferstehung Jesu Christi gedenkt.

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