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Er soll mich erlöst haben? Wie denn? Und wovon?

Fragen eines Architekturstudenten mit dem Pseudonym Friedrich Nietzsche.
Alter Adam und Neuer Adam
Foto: paolo de rocco | Die Ikone zeigt, wie Jesus, als der Neue Adam, den Alten Adam befreit.

FN: Ich habe vor einigen Monaten Amiens, Chartres und Rouen besucht. Zugegeben: Die Hardware des Christentums ist aller Bewunderung wert; mit der Software aber verhält es sich umgekehrt!

K-HM: Was Sie mit der ,Hardware‘ meinen, glaube ich verstanden zu haben. Vermutlich loben Sie die Architektur der gotischen Kathedralen, die Sie besucht haben. Aber was meinen Sie mit der unzumutbaren ,Software‘?

FN: Dass ein ,Typ‘, der vor zweitausend Jahren gelebt hat, für mich gestorben ist; dass er mich und überhaupt alle Menschen erlöst hat. Wie denn? Wie soll dieser Jesus mich, der ich zweitausend Jahre später lebe, erlöst haben? Und wenn Sie mir die Frage nach dem Wie beantworten können, dann bleibt noch immer die Frage: Wovon? Lassen Sie sich das doch bitte einmal auf Ihrer theologischen Zunge zergehen: Ein allmächtiger Gott, der, wenn es ihn denn geben sollte, die von ihm erschaffene Menschheit nicht anders erlösen konnte als durch den Tod eines Unschuldigen! Und: Kommen Sie mir bitte nicht mit dem Gerede von der Sünde. Menschen ein schlechtes Gewissen einreden und sie dann von dem selbstverursachten Sündenbewusstsein befreien, ist einfach unanständig.

K-HM: Man mag der Meinung sein, dass die christliche Theologie zu lange zu viel von der Sünde geredet hat. Es ist ja nicht zu bestreiten, dass viele Prediger die Effektivität ihrer Erlösungsbotschaft durch intensive Beförderung des Sündenbewusstseins ihrer Adressaten gesteigert haben. Doch mit dieser Analyse oder ähnlicher Kritik kann man die Wirklichkeit der Sünde nicht aus der Welt schaffen. Sie ist die einzige Wirklichkeit, die der Mensch erschaffen kann. Das mag nicht jedem unmittelbar einleuchten. Aber es ist nun einmal so: Der Mensch kann Veränderungen, Metamorphosen – gute oder schlechte – an der Schöpfung Gottes vornehmen. Er kann seine Begabungen und die seiner Mitmenschen entfalten. Er kann Leben zeugen oder gebären. Aber er kann nichts ,aus nichts‘ erschaffen; nicht einmal ein einziges Atom.

Der Sünder kann seinen Fehler eingestehen, sich öffentlich entschuldigen; sich sogar wie Judas Iskariot erhängen: er ändert damit nichts an der Wirklichkeit, die er geschaffen hat.

Ausgenommen eine einzige Wirklichkeit – die Wirklichkeit nämlich, die Gott nicht will. Der Mensch ist alleiniger Urheber der Sünde; und die Wirklichkeit jeder Sünde ist genauso real wie eine von Gott geschaffene Wirklichkeit. Gewiss, die vom Menschen geschaffene Wirklichkeit der Sünde hat nicht denselben ontologischen Status wie eine von Gott geschaffene Wirklichkeit; denn das Gute existiert ohne das Böse, nicht aber das Böse ohne das Gute. Aber deshalb ist die Sünde keine Scheinwirklichkeit. Im Gegenteil: Sie ist ebenso real wie ein von Gott gewolltes Geschöpf. Um die abgründige Realität des Bösen zu verstehen, muss man nicht an Hitler, Stalin oder Pol Pot erinnern. Es genügt ein Beispiel aus dem ganz normalen Leben eines ganz normalen Bürgers in einer scheinbar wohlgeordneten und idyllischen Wohlstandsinsel.

Stellen Sie sich eine Bilderbuchfamilie vor: ein tüchtiger Vater, eine liebende Mutter, ein Sohn, eine Tochter: alles bestens. Und dann einen, der neidisch ist auf diese Familie, besonders auf den Vater, der ihm vorgezogen wurde bei der Beförderung am Arbeitsplatz und den alle mögen und loben. Dem, so beschließt der neidische Kollege, will ich eine Lektion erteilen. Den, so meint er, muss auch einmal ein Unglück treffen. Also manipuliert er die Bremse an dessen nagelneuem Auto. Und der so Geschädigte verunglückt schwer – Querschnittslähmung; er muss seinen Beruf aufgeben; er kann sein Schicksal nicht annehmen; er fängt an zu trinken; die Ehe zerbricht; die Kinder fliehen aus dem vormals intakten Elternhaus.

Man muss diese Geschichte nicht zu Ende schreiben, um zu erklären, welche Wirklichkeit eine einzige Sünde schafft. Und der Sünder kann seinen Fehler eingestehen, sich öffentlich entschuldigen; sich sogar wie Judas Iskariot erhängen: er ändert damit nichts an der Wirklichkeit, die er geschaffen hat. Er kann sich nicht von der Sünde abnabeln, die er geschaffen hat. Er klebt an ihr; sie ist ihm zur Hölle – das Alte Testament sagt: zum ,eigentlichen Tod‘ – geworden.

FN: Jargon der Eigentlichkeit! Eigentlicher Tod, uneigentlicher Tod. Was reden Sie denn da? Entweder ist man tot oder man ist lebendig. Oder wann gedenken sie uneigentlich und wann eigentlich tot zu sein? Was soll dieser Theologenjargon?

K-HM: Das Alte Testament unterscheidet zwischen dem physischen Tod und dem ,eigentlichen‘ Tod, der durch die Sünde in die Welt kam. Der physische Tod ist das Ende des irdischen Lebens, aber – zumindest für Christen – nicht das Ende des Lebens überhaupt. Im Vergleich zu dem von der Sünde verursachten Tod ist der physische Tod harmlos oder ,uneigentlich‘. Der ,eigentliche Tod‘ ist eine nicht von Gott, sondern vom Sünder geschaffene Wirklichkeit. Sünde ist letztlich das Gegenteil von Liebe. Wo Sünde ihre Wirksamkeit entfaltet, wird die Kommunikation, die Gemeinschaft mit Gott zerstört. Der von diesem Verhängnis gefangene Mensch ist zwar nicht nichts; aber seine Existenz verdient eher das Prädikat „tot“ als das Prädikat „lebendig“. Oder anders gesagt: Wo keine Liebe ist, ist die Hölle.

FN: Die Hölle als Preis der Freiheit? Habe ich das richtig verstanden? Aber die meisten Menschen sind doch harmlos; sie sind vielleicht schwach, aber doch nicht bösartig; mehr Opfer als Täter; jedenfalls – so darf man doch annehmen – nicht da, wo Sie von ,Hölle‘ reden.

K-HM: Sie scheinen immer noch zu meinen, dass Gott irgendeinen Sünder mit der Hölle bestraft. Nein! Gott wollte die Hölle so wenig wie die Sünde. Aber, wenn er dem Menschen wirkliche Freiheit geschenkt hat, kann er nicht verhindern, dass Sünder nicht nur sich selbst, sondern vor allem auch unschuldigen Menschen die Hölle auf Erden bereiten. Und damit nicht genug: Die Sünde ist eine so abgründige Realität, dass sie – einmal in der Welt – nicht selten wie ein Virus ist, der ganze Gesellschaften befällt. Ein Kind, das heute in den westlichen Wohlstandsländern geboren wird, wird allzu oft in einer Familie sozialisiert, die zum Beispiel Abtreibung für eine humane Option hält. Die Kirche hat nie gelehrt, dass ein unmündiges Kind Schuld an dem Unheil trägt, in das es hineingeboren wird. Aber das Unheil bleibt dem Neugeborenen auch nicht äußerlich. Wir wissen heute, wie prägend schon das vorgeburtliche Verhalten der Eltern für ihr Kind ist; und erst recht die Erziehung in den ersten drei Lebensjahren.

Seit dem Geschehen auf Golgotha hat sich für alle Menschen aller Zeiten – und also auch für Sie! – etwas ganz Entscheidendes verändert. Die Sünde ist entmachtet, weil sie den Sünder nicht mehr von Gott trennen kann.

Ein Kind nimmt Sprache, Wertvorstellungen, Gewohnheiten und Verhaltensweisen seiner Eltern intuitiv in sich auf und braucht lange, bis es sich – wenn überhaupt – reflex und kritisch dazu verhalten kann. Ein Satz wie „Zeit ist Geld“ oder die Frage: „Was habe denn ich davon?“ sind Symptome eines Denkens, das Familien und ganze Gesellschaften zerstören kann. Wer seine Steuererklärung so frisiert, dass er auf Kosten anderer lebt, wird sich nicht verantwortlich fühlen für soziale Ungerechtigkeit. Und wer eheliche Treue für spießig hält, wird die Schuld für die Folgen nicht bei sich selbst suchen. Jeder, der das für sich selbst Nützliche mit dem Guten verwechselt, trägt bei zu den Katastrophen der Geschichte, für die angeblich keiner verantwortlich ist.

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FN: Aber der Gott, an den Sie im Unterschied zu mir glauben, ist doch allwissend. Er hätte doch wissen müssen, was Sünde anrichtet. Und wenn er allmächtig ist, warum setzt er dem Ganzen kein Ende? Oder anders gefragt: Warum keine Erlösung ,par ordre du mufti‘? Warum das Drama zwischen Bethlehem und Golgotha?

K-HM: Ihre Annahme, der allmächtige Gott hätte sich – salopp formuliert – auf den Balkon seines Himmels stellen und die Menschheit – gleichsam ,urbi et orbi‘ – durch einen Machtspruch statt durch das Drama zwischen Bethlehem und Golgotha erlösen können, verkennt das Wesen des biblisch bezeugten Gottes. Gott ist nicht der Alleskönner, den menschliche Projektionen als Inbegriff absoluter Macht beschreiben. Im Gegenteil: Die Allmacht und Allwissenheit des biblisch bezeugten Gottes ist identisch mit der Liebe, die nichts erzwingen kann, weil sie ihrem Bundespartner, dem Menschen, die Fähigkeit zur Selbst-Bindung an die Liebe und also nicht nur scheinbare, sondern wirkliche Freiheit geschenkt hat. Allerdings bleibt der Gott, der trinitarische Liebe ist, von dem besagten Verhängnis nicht unberührt. Obwohl selbst keine raumzeitliche Wirklichkeit, hat sich Gott buchstäblich dahin begeben, wo der Sünder und die Sünde ist: nämlich in die Endlichkeit von Raum und Zeit. Zugegeben: Was Christen Weihnachten feiern, ist nur trinitätstheologisch erklärbar. Doch ersparen Sie mir aus Zeitgründen eine ausführliche Erläuterung der Trinitätslehre! Mit ihr erklärt das Christentum, dass Jesus nicht nur ein Bote oder Instrument, sondern Gottes wirkliche Anwesenheit unter uns Menschen war – so unbedingt, dass Jesus von sich sagen durfte: „Wer mich gesehen hat, hat Gott den Vater gesehen.“ (Joh 14, 9).

FN: Sie weichen aus. Sie erzählen mir etwas von Weihnachten statt von Ostern. Sie sollten bei meiner Frage nach dem ,Wie‘ und dem ,Warum‘ meiner Erlösung bleiben!

K-HM: Ohne Weihnachten kein Ostern! Christen glauben, dass mit Jesus Gott selbst dahin gegangen ist, wo die Sünde sich als kreuzigender Hass auf seine Liebe erweist. „Abgestiegen bis in die von der Sünde verursachte Hölle“, bekennen Christen in ihrem Apostolischen Glaubensbekenntnis. Seit dem Geschehen auf Golgotha hat sich für alle Menschen aller Zeiten – und also auch für Sie! – etwas ganz Entscheidendes verändert. Die Sünde ist entmachtet, weil sie den Sünder nicht mehr von Gott trennen kann. Das heißt: Es gibt seit Ostern keinen von der Sünde verursachten Abgrund mehr, der so tief wäre, dass die Hand des Erlösers nicht in ihn herabreichen würde. Osterikone der Ostkirche: Der bis in den ,eigentlichen Tod‘ (,Ort‘ der Trennung von Gott; Hölle) herabgestiegene Erlöser ergreift zuerst die Hand Adams und mit ihm seine Brüder und Schwestern. Deshalb bekennt derselbe Saulus, der vor Damaskus zum Paulus wurde: „Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges. Weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können mich scheiden von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8, 38f).

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