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Auf der Suche nach dem Glück?

Unter einen Hut gebracht: Die Gebote der Kirche und das Streben nach dem Glück.
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Was hat unser Streben nach Glück mit den Geboten der Kirche zu tun? Unter den Geboten der Kirche kann man zweierlei verstehen: Gebote können kirchlich sein, weil sie von kirchlicher Autorität erlassen wurden und auf dieser Autorität beruhen. Das Verbot, an den Freitagen der Fastenzeit Fleisch zu essen, ist ein Beispiel dafür. Wie Feste geheiligt und Bußzeiten begangen werden, wie sakrale Bauten gestaltet und kirchliche Organisationen strukturiert sind, all dies hängt in gewissem Maße von positiven kirchlichen Setzungen ab und ist in der Regel nur für die Gläubigen von Bedeutung.Gebote können aber auch in anderer Weise Gebote der Kirche sein, nämlich insofern die Kirche sich als ihre Treuhänderin versteht und sie lehrt, nicht aber insofern sie ihren Ursprung in der kirchlichen Autorität haben. Hier geht es um Fragen der Moral und nicht der Disziplin: Es handelt sich um Gebote, die zum Sittengesetz gehören, das alle Menschen angeht und in der jüdisch-christlichen Offenbarung seinen Ausdruck in den Zehn Geboten findet. Um diese zweite Art von Geboten soll es im Folgenden gehen.

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In der antiken und scholastischen Ethik war der Begriff des Glücks von zentraler Bedeutung, während er in der Neuzeit an Relevanz verlor. An seine Stelle trat, vor allem bei Immanuel Kant und seinen Nachfolgern, der Gedanke der Pflicht, so dass die moderne Moral nicht mehr nach dem Guten und der Tugend fragt, die mit dem Glücksbegriff eng verknüpft sind, sondern nach einer formalen Gerechtigkeit, die mit der Pflicht verbunden ist. Auch zeitgenössische gläubige Autoren wie Dietrich von Hildebrand stehen dem Streben nach Glück in der Moral skeptisch gegenüber. Nicht das persönliche, subjektive Glück, sondern der objektive Wert solle ausschlaggebend für das Handeln des Menschen sein.
Die Gründe für das Verschwinden des Glücksbegriffs aus der ethischen Reflexion in der Neuzeit sind historisch kontingent und hängen mit seiner Umdeutung zusammen, die bis heute weit verbreitet ist und die Skepsis erklärt, mit der manche gewissenhafte Ethiker ihm begegnen, nämlich der Bestimmung des Glücks als eines subjektiven Wohlbefindens.

Glück im Sinne der Tradition

Der Glücksbegriff der Tradition ist jedoch ein anderer. So spricht Aristoteles vom Glück als dem guten Leben. Unser Leben aber ist die Summe unserer Taten. Und so ist für ihn das Glück, das uns Menschen zugänglich ist, die Tätigkeit gemäß der vollkommenen Tugend, obwohl es für ihn eine Art göttliches Glück gibt, das in der Betrachtung der ewigen Wahrheiten liegt und von dem wir Sterblichen höchstens einen flüchtigen Blick erhaschen können. Thomas von Aquin spricht zunächst formal vom Glück als dem letzten Ziel, um dessentwillen der Mensch bewusst oder unbewusst jede Handlung vollzieht. Manche setzen ihr letztes Ziel in Reichtum oder Ehre, andere in Macht oder Gesundheit.

Thomas unterzieht diese Ziele einer Kritik und zeigt, dass sie als Glück nicht taugen, weil man sie verlieren kann, weil sie von äußeren Umständen abhängen, weil sie manchmal, wie das Geld, gar nicht um ihrer selbst willen gewollt werden oder weil sie, wie die Ehre, uns durch etwas Vortrefflicheres als sie selbst zuteil werden. Unser Glück, unser höchstes Gut und unser letztes Ziel sei letztlich Gott und unsere Vereinigung mit ihm in der beseligenden Gottesschau. Unser Leben, das heißt unser Handeln hier auf Erden, ist eine Vorbereitung auf diese vollkommene Tätigkeit, die der Heide Aristoteles erahnte und die ihm für uns Menschen zu erhaben erschien, deren Möglichkeit uns aber Gott selbst in Christus geschenkt hat.

Was wollen wir wirklich?

Formal gesprochen ist Glück das, wonach wir uns im Innersten sehnen, worum es uns im Grunde und eigentlich geht. Die Frage nach dem Glück in diesem Sinne steht nach Robert Spaemann seit 2500 Jahren am Anfang der Ethik, verstanden als philosophisches Nachdenken über das gute Leben. Wie verhält sich nun dieser Glücksbegriff zu den Geboten des Sittengesetzes, wie es etwa in den Zehn Geboten zum Ausdruck kommt?
Wenn es stimmt, dass wir uns alle nach dem guten Leben sehnen und unser Wille nach dem Guten strebt, wozu brauchen wir dann Gebote? Die Erfahrung lehrt uns, dass wir mit Aristoteles und Thomas von Aquin zwischen dem wirklich Guten und dem nur scheinbar Guten unterscheiden müssen. Wer eine Bank überfällt, tut dies nicht, weil es ungerecht ist. Vielmehr wird er seine Aufmerksamkeit auf das lenken, was durchaus etwas Gutes an sich hat: nämlich das Geld, mit dem man viele schöne Dinge kaufen kann.


Ganz allgemein kann man sagen, dass die moralische Frage die folgende ist: Ist die Handlung, die uns gut erscheint, tatsächlich gut? Kann sie wirklich ein Vorgeschmack auf die himmlische Glückseligkeit sein, und kann sie schon hier auf Erden Teil eines Lebens sein, von dem wir sagen können, dass es gelungen ist und dass der Mensch, der so lebt, als Mensch gut lebt (auch wenn er ein schlechter Fußballspieler oder Mathematiker ist)?

Gebote als Wegweiser

Für die Frage nach dem Glück, das heißt nach dem gelungenen, guten Leben, ist es also wesentlich, zwischen dem wahrhaft Guten und dem nur scheinbar Guten zu unterscheiden. Und hier kommen die Gebote des Sittengesetzes ins Spiel. Sehr hilfreich ist hier eine Bemerkung von Papst Franziskus, der schreibt, das Gesetz sei „auch ein Geschenk Gottes, das den Weg anzeigt, ein Geschenk für alle ohne Ausnahme, das man mit der Kraft der Gnade leben kann“ (Amoris Laetitia, 295). Wenn unsere Handlungen Schritte auf dem Weg des Lebens sind, dann ist das Gesetz ein Wegweiser, der uns die Richtung weist und uns daran erinnert, wohin wir wirklich gehen wollen.

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Wir können ein sittliches Gebot als Ausdruck einer praktischen Wahrheit verstehen. So wie nach der traditionellen Lehre die spekulative Wahrheit in der Übereinstimmung zwischen Verstand und Wirklichkeit besteht, so geht es auch bei der praktischen Wahrheit um eine Übereinstimmung, nämlich um die Übereinstimmung zwischen meinem Handeln und dem, was ich im Grunde und eigentlich will. Die Gebote erinnern uns an unser eigentliches Wollen, wenn wir es zu vergessen beginnen.

Positive und negative Gebote

Wie zum Beispiel das Gebot, die Absperrung eines Tigergeheges nicht zur übertreten, sind auch die Zehn Gebote durchaus der Vernunft zugänglich, aber sie sind uns, wie der heilige Thomas sagt, wegen unserer Schwachheit noch einmal ausdrücklich von Gott offenbart worden. Sie sind Worte des Bundes und Worte des Lebens. Es ist sehr wichtig, zwischen positiven und negativen Geboten zu unterscheiden. Wie ich zum Beispiel den Sabbat heiligen und meine Eltern ehren kann, lässt sich nicht immer ohne Kenntnis der konkreten Situation sagen. Das Sonntagsgebot kennt Ausnahmen. So ist zum Beispiel niemand verpflichtet, Unmögliches zu tun. Die Eltern ehren bedeutet für verschiedene Menschen verschiedene Dinge. Hier kommt es sehr auf die Umstände an; hier ist Unterscheidung notwendig.

Die negativen Gebote oder Verbote beziehen sich dagegen auf wenige Handlungsweisen, von denen ich weiß, dass ich mit ihnen immer den Bund breche. „Du sollst nicht töten, die Ehe brechen, stehlen …“ Bei diesen Verboten ist ein viel geringeres Maß an Unterscheidung notwendig, weil es hier, wenn der Handlungstyp als solcher erkannt ist, keine Ausnahmen gibt und es nicht auf die Situation ankommt. Es mag zwar je nach Situation nicht immer möglich sein, eine Handlung positiv auszuführen, aber es ist grundsätzlich immer möglich, eine Handlung nicht auszuführen.

Die Gebote und die Caritas

Die Gebote sind Wegweiser auf dem Weg zum Glück. Sie geben die Mindestvoraussetzungen an, um auf dem Weg zu bleiben und Unglück zu vermeiden. Aber um positiv glücklich zu sein, braucht es mehr: die Tugenden, insbesondere die Tugend des letzten Zieles, die göttliche Tugend der Caritas, die übernatürliche Gottesliebe. Es ist von großer Bedeutung, dass der heilige Thomas von Aquin diese Tugend als eine Art Freundschaft des Menschen zu Gott interpretiert. Unser letztes Ziel, unser wahres Glück, hat etwas mit Freundschaft zu tun. Unser wahres Glück besteht darin, Freunde Gottes zu sein, was stets auch die Liebe zum Nächsten mit einschließt, denn die Freunde meines Freundes sind immer auch meine Freunde. Wenn ich der Freund meines Freundes bleiben will, dann gibt es Dinge, die ich ihm niemals antun darf. Während die sogenannten lässlichen Sünden die Freundschaft beschädigen, ist die Todsünde eine Übertretung, die die Freundschaft zerstört. Sie ist eine Verweigerung der Anerkennung Gottes und des Nächsten, durch die man sich selbst aus der Gemeinschaft ausschließt und der Entfremdung verfällt. Das ist das größte Unglück. Unglücklicher ist der, der Unrecht tut, als der, der es erleidet, sagte schon der Grieche Demokrit.

Während die Sünde uns ausschließt, sind die Zehn Gebote die Worte, die von den Bedingungen sprechen, unter denen wir im Bund bleiben können. Durch ihr „Nein“ zu bestimmten Verhaltensweisen eröffnen sie einen großen Freiraum der Kreativität, in dem wir uns entfalten und das tun können, was wir wirklich wollen: in der Liebe bleiben, in ihr leben, in ihr wachsen. Schließlich geht es in der Freundschaft nicht nur darum, etwas nicht zu tun, so wichtig das auch ist, sondern um einen positiven Austausch, um ein gemeinsames Handeln, um ein gemeinsames Leben.

Info: Kurz gefasst

Was hat unser Streben nach Glück mit den Geboten zu tun? Formal gesprochen ist Glück das, worum es uns im Grunde geht. Ein sittliches Gebot ist Ausdruck einer praktischen Wahrheit.

Diese besteht in der Übereinstimmung zwischen meinem Handeln und dem, was ich in Wahrheit will. Die Gebote sind Wegweiser auf dem Weg zum Glück. Durch ihr „Nein“ zu bestimmten Verhaltensweisen eröffnen sie einen großen Freiraum der Kreativität, in dem wir uns entfalten und das tun können, was wir wirklich wollen: in der Freundschaft und der Liebe bleiben, in ihr leben, in ihr wachsen.


Ehe- und Familienwissenschaften
Foto: Dom Elvir Tabaković | Stephan Kampowski ist Professor für philosophische Anthropologie am Päpstlichen Theologischen Institut „Johannes Paul II.“ für Ehe- und Familienwissenschaften in Rom.

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