Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Exklusivinterview mit Kant-Experten

"Kant hat Maßstäbe gesetzt"

Mit der Philosophie Immanuel Kants vollzog das abendländische Denken eine „Revolution der Denkart“. Der Philosoph und Kant-Experte Dieter Schönecker betont im Gespräch den hohen Wert der Kantischen Ethik und Rechtsphilosophie – gerade angesichts der Virulenz woker und rechtsextremer Ideologien. Und beantwortet zudem die Frage, ob hinter das Denken des Philosophen aus Königsberg tatsächlich nicht zurückgegangen werden kann
Immanuel Kant: Ein Denker wie kein anderer
Foto: Radomir Tarasov (263476754) | Kants Ethik erlaube für einen säkularen Staat wie Deutschland eine nicht-religiöse Begründung für solche Sätze wie „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, meint Kant-Experte Dieter Schönecker.

Professor Schönecker, Immanuel Kant, der am 22. April seinen 300. Geburtstag gefeiert hätte, gilt nicht nur als einer der maßgeblichen Denker der abendländischen Philosophie, sondern auch als eine Art Kopernikus beziehungsweise Einstein des philosophischen Denkens, welcher die Philosophie als ganze revolutioniert hat. Worin besteht diese kantische „Revolution der Denkart“ – und: Ist es wirklich nicht möglich, hinter die Philosophie Immanuel Kants zurückzugehen?

Die Vorstellung, man könne hinter irgendjemandes Philosophie nicht zurückgehen, ist, vielleicht mit ganz wenigen Ausnahmen, unsinnig. Es ist schlichtweg eine Tatsache, dass es in der Philosophie in Bezug auf fast alle Fragen konträre und auch widersprüchliche Positionen gibt; man sollte sich die Philosophie nicht als eine lineare Entwicklung des Fortschritts vorstellen, sondern eher als eine spiralförmige Figur, in der die gleichen Grundpositionen immer wieder auftauchen, verteidigt und – vielleicht - verbessert werden. Es ist aber typisch, dass alle großen Philosophen - auch Kant - in Anspruch genommen haben, nun aber alles erst richtig durchschaut zu haben; nach Kant kamen dann aber natürlich noch eine Reihe anderer großer Philosophen. So oder so ist eines klar: Zumindest in der Moralphilosophie hat Kant mit der Idee der Autonomie, Würde und Universalität Maßstäbe gesetzt, hinter die man zumindest insofern nicht zurückgehen kann, als man, wenn man denn zurückgehen will - etwa zu Aristoteles oder zu Thomas von Aquin - dies in Abgrenzung zu Kant gut begründen muss.

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Kant betrachtete folgende vier Fragen als die wichtigsten der gesamten Philosophie: „Was kann ich wissen?“ bezüglich der Erkenntnistheorie, „Was soll ich tun?“ hinsichtlich der Ethik, „Was darf ich hoffen?“ mit Blick auf die Religion sowie „Was ist der Mensch?“ in puncto anthropologischer Selbstvergewisserung – alles Fragestellungen, die im Zeitalter von Fake News, Identitätspolitik und radikaler Säkularisierung aktueller denn je erscheinen. Um einmal bei der Frage „Was soll ich tun?“ stehen zu bleiben: Was für eine Ethik vertrat Kant in seinen Werken?

Mit einem Stichwort kann man sie „Ethik der Autonomie“ nennen. Dazu gehören mehrere, in der Tat ziemlich revolutionäre Grundgedanken, um dieses Wort aus Ihrer ersten Frage noch einmal aufzugreifen: Das moralische Gesetz entspringt nicht der Gesellschaft, dem Staat oder Gott, sondern der eigenen Vernunft - „Autonomie“ bedeutet „Selbstgesetzgebung“. Die Fähigkeit zum selbstbestimmten moralischen Handeln verleiht dem Menschen, aber auch allen anderen vernünftigen Wesen, einen absoluten Wert; der Mensch ist nicht Mittel zu irgendeinem Zweck, sondern „Zweck an sich selbst“ und hat daher eine absolute Würde. Menschen, sofern sie sich nicht schuldig machen, dürfen daher nie bloß als Mittel behandelt werden, sondern immer zugleich so, dass ihr Würdestatus nicht verletzt wird. Dieses Gebot gilt überall und zeitlos; Kants Ethik ist also universalistisch und nicht-relativistisch. Und seine Ethik ist daher auch, wie man sagt, anti-konsequentialistisch, und das ist meines Erachtens ein extrem wichtiger Punkt: Der Zweck heiligt nicht die Mittel, man darf den Wert menschlichen Lebens nicht mit anderen Menschen oder gar etwas anderem verrechnen. Darin ist Kant natürlich in Übereinstimmung mit der christlichen Ethik. Zugleich erlaubt Kants Ethik aber für einen säkularen Staat wie Deutschland eine nicht-religiöse Begründung für solche Sätze wie „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.

"Der Zweck heiligt nicht die Mittel,
man darf den Wert menschlichen Lebens
nicht mit anderen Menschen oder
gar etwas anderem verrechnen"

Es stellt eine gewisse Ironie dar, dass ausgerechnet der Universalist und prototypische Aufklärer Kant in jüngster Zeit unter Rassismusverdacht gestellt und seine Philosophie – ebenso wie diejenige anderer Aufklärer - als eine Art „Ethik für privilegierte Weiße“ bezeichnet worden ist. Woher stammen diese Vorwürfe und wieviel Wahrheitsgehalt steckt in diesen?

Diese Vorwürfe werden in der Kant-Forschung schon lange diskutiert; erst durch die jüngeren Rassismus-Debatten sind sie aber auch in einer breiteren Öffentlichkeit präsent. Und leider muss man sagen: Sie treffen zu. Es gibt eine Reihe von Stellen bei Kant ‒ und nicht nur in seinen rassetheoretischen Schriften ‒, die man als rassistisch im engeren, biologischen Sinne bewerten muss, auch wenn sie natürlich zeitbedingt waren. Allerdings folgt daraus nicht, dass seine Ethik der Autonomie an Wert verlöre oder per se rassistisch wäre; und daher sind Forderungen danach, Kant aus dem Kanon zu streichen, völlig maßlos. Man kann und muss thematisieren, dass es diese rassistischen Gedanken bei Kant gibt. Und nicht nur bei ihm – ich erwähne nur Hegel, oder auch den antisemitischen Marx - aber das ändert nichts an der herausragenden Stellung der kantischen Ethik.

Wie würde Kant denn, wenn er die Möglichkeit dazu hätte, heutzutage auf die identitätspolitischen Ideologismen linker Wokisten und rechtsextremer Populisten reagieren? 

Sie haben vorhin nach Kants Ethik gefragt. Aber das, was Kant „Ethik“ nennt, ist nur der eine Teil seiner Moralphilosophie. Der andere ist die Rechtsphilosophie - und in dieser ist ebenfalls der Gedanke der Freiheit zentral. Gegen linke Identitätspolitik kann man mit Kants Universalismus sagen, dass Menschen primär als Menschen zu betrachten sind, nicht als Teil irgendeiner, höchstens sekundär relevanten Gruppe, wie Schwarze, Frauen, Behinderte und so weiter. Gegen die extreme Rechte gerichtet ist wichtig, dass ein liberaler Rechtsbegriff beziehungsweise eine liberale politische Philosophie jeden staatlichen Versuch verbietet, den Menschen paternalistisch vorschreiben zu wollen, was das gute Leben ist. Da extrem Rechte ein gutes Leben ohne Rekurs auf das eigene Volk oder die eigene Kultur für unmöglich halten, greift Kants Argument aus der Freiheit auch gegen diese Varianten des Paternalismus.  

"Da extrem Rechte ein gutes Leben ohne Rekurs
auf das eigene Volk oder die eigene Kultur
für unmöglich halten, greift Kants Argument aus
der Freiheit auch gegen diese Varianten des Paternalismus"

Sie beschäftigen sich bereits seit langem mit der Philosophie Kants. Bei aller grundsätzlichen Wertschätzung des Meisterdenkers aus Königsberg: Welche Gedanken beziehungsweise Annahmen Immanuel Kants erweisen sich mittlerweile als zeitgebunden und entsprechen nicht mehr dem heutigen Erkenntnisstand?

Wie bereits erwähnt gibt es so etwas wie den „heutigen Erkenntnisstand“ in der Philosophie kaum. Kants sogenannte theoretische Philosophie ‒ also seine Philosophie der Erkenntnis und der Natur ‒ ist zwar immer noch aktuell, wird aber doch deutlich seltener als solche vertreten als der Kantianismus in der Moralphilosophie. Das liegt vielleicht nicht zuletzt an Kants Raum- und Zeittheorie; für Kant existieren Raum und Zeit nicht an sich, sondern nur als rein subjektive Anschauungsformen, was damit einhergeht, dass die Dinge, so wie sie an sich sind, nie erkannt werden können. In seiner Moralphilosophie werden gewiss einige kleinere Elemente abgelehnt - etwa seine Vorstellungen von Sexualität und Ehe, die übrigens eher katholisch sind, wenn man so will. Aber die großen Grundgedanken bleiben.

Zu guter Letzt: Welche Einsteigertipps würden Sie Menschen an die Hand geben, die sich mit dem Denken und Werk Immanuel Kants neu beschäftigen möchten?

Wer selbst etwas lesen will, kann Kants sehr kurze „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ zur Hand nehmen. Das Digitale Kant-Zentrum NRW (https://kant-zentrum-nrw.de), dessen Sprecher ich bin, hat sich zur Aufgabe gemacht, Kant auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Ich darf auf „Kant in 5 Minuten“ bei Youtube verweisen, aber auch auf „Kant heute. Der Podcast“ auf diversen Kanälen, zum Beispiel bei Spotify.


Zur Person
Professor Dr. Dieter Schönecker ist Professor für Praktische Philosophie an der Uni Siegen. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kantischen Ethik, unter anderem „Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit“ (2005), „Immanuel Kant: ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘.  Ein einführender Kommentar“ (gemeinsam mit Allen W. Wood, 4. Auflage 2011) sowie „Kants Begründung von Freiheit und Moral in Grundlegung III.“ (2015). Dieter Schönecker ist zudem Lyriker (zuletzt: „Dakota Suite“, 2022) und bekennender Katholik.

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