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Rätsel Kafka: Das Judentum als Schlüssel

Umfassend erhellt der Literaturwissenschaftler Hartmut Binder zum 100. Todestag Franz Kafkas dessen Biografie.
Der Kopf Franz Kafkas. Im September 2023 in der Prager Innenstadt aufgestellte Skulptur.
Foto: IMAGO/xstefanophotographerx (www.imago-images.de) | Der Kopf Franz Kafkas. Im September 2023 in der Prager Innenstadt aufgestellte Skulptur.

Franz Kafka (1883-1924) arbeitete als promovierter Jurist bei einer Prager Versicherungsanstalt. Zu seinen Aufgaben gehörte die Begutachtung von Arbeitsunfällen. Seine Stellungnahme entschied über den Grad der Behinderung und die Höhe der Invalidenrente. Es gibt Menschen, die in ihrem Beruf auch in schwierigen Fällen klare Urteile fällen können, in privaten Leben jedoch von einer lähmenden Entscheidungslosigkeit geplagt werden. Sie verloben sich und lösen die Verlobung wieder auf, um die aufgehobene Verlobung wieder rückgängig zu machen. Sie schreiben Tagebuch, Geschichten und Romane, ohne die Absicht einer Veröffentlichung. Mit ihrem Vater haben sie ernsthafte Beziehungsprobleme, bleiben aber dennoch als längst Erwachsene bei ihren Eltern wohnen. Sie analysieren ihre Familienaufstellung in einem sehr langen Brief an den Vater, schicken diesen aber nicht ab. Franz Kafka führte ein wahrlich kafkaeskes Leben. Der tschechische Familienname bedeutet „Dohle“. Schwarz wie das Federkleid des Rabenvogels war Kafkas Humor. Seine Geschichten sind vieldeutige Gleichnisse von Menschen in verzwickten Entscheidungssituationen und wurden wegen ihrer Komplexität gerne im Deutschunterricht gelesen. Unsere Zeit erträgt keine Vieldeutigkeit, und Humor wird nicht geduldet.

Vor dem Gesetz

Zu Kafkas berühmten Parabeln gehört „Das Gesetz“. Ein Mann vom Land kommt zu einem Gerichtsgebäude. Er ist der Jedermann. Deshalb erfahren wir nichts über sein Anliegen. Er allein weiß, was er will. Doch fehlt ihm die Entschiedenheit, an dem Türhüter vorbei das Gebäude zu betreten. Er verstrickt sich in Nebensächlichkeiten und verliert darüber sein Ziel aus den Augen. Am Ende der Geschichte liegt der Mann im Sterben. Er verharrte sein ganzes Leben in der Entscheidungslosigkeit. Nun richtet er eine letzte Frage an den Türhüter: Warum sei in all den Jahren und Jahrzehnten kein weiterer Besucher des Gesetzes erschienen? Warum blieb er allein? Der Türhüter beugt sich zu ihm hinab und erklärt, dieser Eingang sei nur für ihn bestimmt gewesen. Dann schließt er das Tor. Der Mann stirbt. Ist sein Tod absurd oder tragisch, verdient seine Hilflosigkeit unser Mitleid oder unseren Zorn?

Kafka schuf mit seiner Parabel ein Bild für die Erfahrung des Traditionsabbruches. Joseph Ratzinger hat sie bereits in den fünfziger Jahren für die geistige Lage in der Kirche beschrieben. Kafka hatte ein weitgehend säkulares Judentum vor Augen, das keinen Zugang mehr zu seiner Tradition fand. Es stand wie der Mann vor dem mosaischen Gesetz, fand aber den Zugang nicht mehr. Die zionistische Bewegung suchte Erneuerung durch eine Rückkehr in das Land der Väter.

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Nun ist zur 100. Wiederkehr des Todestages von Kafka ein wahrhaft gelehrtes Buch anzuzeigen, das in alle biografischen Zusammenhänge einführt. Ein Klotz von 1.000 großformatigen Seiten, reich bebildert und gedruckt in der tschechischen Druckerei Finidr auf einem weichen Papier, das sich beim Blättern geschmeidig anfühlt. Der Verleger des Göttinger Wallstein Verlages ist als Meister der Akquise recht entscheidungsfreudig. Ohne die Wüstenrot Stiftung, die Berthold Leibinger Stiftung und die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur hätte er das Projekt der Präsentation von 54 Arbeiten aus den Jahren 1967 bis 2020 des großen alten Mann der Kafka-Forschung nicht stemmen können.

Der Autor Hartmut Binder (*1937) war Professor für deutsche Literatur in der Provinz. Er lehrte nicht in Heidelberg oder Tübingen, sondern an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. So konnte er sich wie der Mann vom Land ein Leben lang mit der stillen Betrachtung seines Objektes beschäftigen. Hartmut Binder weiß alles, aber er hat sich nie dazu entscheiden können, wie Rainer Stach eine umfassende Kafka-Biografie zu schreiben.

Ein "Besserwisser" im Sinne Blumenbergs

Der sympathische Gelehrte gehört zu den sogenannten Besserwissern, von denen Hans Blumenberg in seiner Freitagsvorlesung gerne sprach. Warum überhaupt noch Bücher veröffentlichen, fragte sich und seine Zuhörer der unermüdliche Vielschreiber. Um die Besserwisser aus der Reserve zu locken, war die Antwort. Es gibt Menschen, die über einen Gegenstand unendlich viel wissen, aber gerade deshalb wie Franz Kafka sehr zurückhaltend sind. Hartmut Binder hat sich durch andere Autoren immer wieder herausfordern lassen. Er sah genauer hin als diejenigen, die behaupteten, genau gesehen zu haben. Binders Buch ist ein wissenschaftlicher Schmöker. Niemand wird ihn von der ersten bis zur letzten Seite durchlesen, sondern mal hier, mal dort aufschlagen und immer bereichert den schweren Schinken zufrieden schließen. Dank Binder wissen wir jetzt genauer, wie zum Beispiel Kafkas Schulzeit verlief, nämlich so wie wir es erwartet haben: Der Junge war ein sehr guter Grundschüler, aber er fühlte sich als Versager und befürchtete immer ein durch Zeugnisse attestiertes Scheitern: „Niemals würde ich durch die erste Volksschulklasse kommen, dachte ich, aber es gelang, ich bekam sogar eine Prämie; aber die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium würde ich gewiß nicht bestehn, aber es gelang.“

Dank Hartmut Binders Spürsinn wissen wir nun auch, wie stark Kafka in seinen Geschichten auf Menschen und Mächte seiner Prager Lebenswelt zurückgriff. Den Türhüter der Parabel mit seinen Flöhen im Pelz hat es wirklich gegeben, nicht nur einmal, sondern immer wieder im alten Prag. Mit einer Art Marschallstab, dickem Pelzmantel und Dreispitz stand er vor dem Erzbischöflichen Palast auf dem Prager Hradschin. Binder zieht keine großen Linien. Das überlässt er anderen Schriftstellern. In Kafkas Parabel „Die kaiserliche Botschaft“, deutet man sie religiös, träumt ein Mann von der Ankunft eines Engels, der ihm die ganz persönliche Mitteilung Gottes überbringt. Der himmlische Hofstaat aber ist so weit, die Wege so verworren, dass der Engel niemals dem Empfänger erreichen wird. Binder hat keine Botschaft, sondern einzelne Mitteilungen aus Kafkas Universum. Das ist für alle, die wissen wollen, was wir mit Sicherheit über Kafka wissen können, sehr viel. Kafkas Verhältnis zum Judentum gehört nicht zu jenen Gebieten, die Binder mit bereichernden Fakten ergänzen will. Drei Aufsätze müssen reichen.

Das Judentum: Schlüssel zu  Kafkas Universum

Das Judentum aber ist der Schlüssel zu Kafkas Universum. In ihm löst sich die kafkaeske Erfahrung einer undurchsichtig gewordenen Überlieferung in höhere Heiterkeit auf. Wer unter dem gegenwärtigen Zustand der Kirche leidet und sich fragt, wie heute neue Zugänge gefunden werden können, damit sich wieder die Tür zum Gesetz der Väter öffnet, wer fragt, wie die Kommunikationswege zwischen Himmel und Erde ohne Redundanzen funktionieren könnten, wie Botschaften ihr Ziel erreichen, der wird in Kafkas Heiterkeit vielleicht das Vorbild einer Lebenshaltung in Krisenzeiten finden. Gershom Scholem, der große Wiederentdecker der Kabala, und Walter Benjamin sprachen von Kafkas kategorischem Imperativ. Er lautet: „Verhalte Dich so, dass die Engel zu tun bekommen!“ Die kafkaeske Erfahrung führt zur Erkenntnis der Erlösungsbedürfigkeit des Menschen, mit dessen eigener Kraft nichts getan ist.

Kafka starb 1924 an den Folgen seiner Tuberkoloseerkrankung. In diesem Jahr erschienen Gertrud von le Forts „Hymnen an die Kirche“. Kafka hatte durch ein intensives Hebräischstudium eine Annäherung an das Judentum versucht. Im Judentum und Katholizismus kann der Weg der Erneuerung nur durch eine Rückkehr zur Tradition erfolgen. Sie lässt sich aber nicht erzwingen. Solange die Nacht herrscht und das große Vergessen, bedarf es der Menschen, die warten und beten können und gerade daher das Licht des Glaubens leuchten lassen. Nur im Winter wächst der Weizen, und in der Krise werden die Geister geschieden und Spreu und Weizen getrennt. Die rechte Haltung in Zeiten wie der unsrigen hat Kafka mit seiner höheren Heiterkeit vor Augen geführt. Wir wissen nicht, was der Mann vor dem Gesetz noch in seinem Sterben geschaut hat und kennen nicht die kaiserliche Botschaft, die den am Fenster Wartenden erreicht zu der Zeit, die der Absender gewollt hat.


Hartmut Binder: Auf Kafkas Spuren. Gesammelte Studien zu Leben und Werk. Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle. Wallstein Verlag, Göttingen 2024, 1 002 Seiten, Hardcover, EUR 89,–

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