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Else Lasker-Schüler: Die verwundeten Engel im Blick

Ihre Verbindung zu den himmlischen Heerscharen trug die Dichterin Else Lasker-Schüler durch ihr spannungsreiches Leben.
Der verwundete Engel
Foto: IMAGO/ Fine Art Images/Heritage Images (www.imago-images.de) | Wenn es eines Bildes bedürfe, um Else Lasker-Schülers Blick auf die Engel zu verdeutlichen, dann wäre dies Hugo Simbergs „Der verwundete Engel“ (1903).

Else Lasker-Schüler (1869-1945) sah Engel eingewoben in den Teppich ihres Lebens. Sie berichtet von Schutzengelerlebnissen aus frühen Kindertagen, von einer besonderen Beziehung zum Engel Gabriel und von ihrer geliebten Mutter als Engelgestalt mit goldenen Flügeln. Sie war „der große Engel,/ Der neben mir ging.“ Als Else Lasker-Schülers einziges Kind stirbt, vergießen Engel Tränen wie bei der Beweinung Christi. Ihre reale Gegenwart bezeugt die Mutter: „Beselige ich auch nur ein paar Menschen, ja nur einen einzigen mit der Kunde der Engel! Ich sah, entrückt dieser Welt, nahe am heiligen Hügel meines teuren Kindes – die Engel. So wahr mir Gott helfe! Amen!“

Zwischen Euphorie und Melancholie

Engel sind Türöffner zu einer anderen Wirklichkeit. Sie stehen an Gräbern und vor der Pforte des Paradieses und sind Hüter der Stadttore: „Ich suche allerlanden eine Stadt,/Die einen Engel vor der Pforte hat./Ich trage seinen großen Flügel/Gebrochen schwer am Schulterblatt/Und in der Stirne seinen Stern als Siegel.“ Der finnische Maler Hugo Simberg malte einen solchen zarten weiblichen Engel mit gebrochenen Flügeln – sein Ölgemälde „Der verwundete Engel“ von 1903, welches im Ateneum in Helsinki hängt, wurde 2006 von dessen Publikum zu Finnlands „nationalem Gemälde“ gewählt: So mag sich Else Lasker-Schüler zuweilen gefühlt haben. Sie erlebte große Stimmungsumschwünge zwischen Euphorie und Melancholie. Im Gefühlsüberschwang reagierte sie invasiv auf andere Menschen – dann wechselte sie die Geschlechteridentität und spielte „Jussuf“, den Prinzen von Theben. Diesen überaktiven beschwingten Erfahrungen eines hohen Lebensgefühls folgten Phasen der gebrochenen Flügel. Von Weltschmerz und Weltende war dann die Rede, von Schwermutwolken und einer Trübnis, als wäre Gott gestorben. „Es stieg aus allen Dingen/ Ein Schmerz, und der ging um/ – Und legte sich auf mich.“

Die Melancholie erfährt Else Lasker-Schüler als paradoxe produktive Kraft. Sie offenbart sich in Träumen und Visionen. Die inspirierte Dichterin verstand sich als Gefäß einer Wort gewordenen Offenbarung. Wer berufen ist, muss keinem Beruf nachgehen. „Prinz Jussuf“ lebte bis in seine letzten Jerusalemer Jahre von Zuwendungen: Karl Krauss gab Geld für die Beschulung des einzigen Kindes auf der Odenwaldschule, in Berlin, München und Prag wurde ebenfalls Geld gesammelt – sehr zur Missstimmung von Franz Kafka. Er fühlte sich genötigt, gab fünf Kronen, „ohne das geringste Mitgefühl für sie zu haben“, wie er an Felice Bauer schreibt. „Ich weiß den eigentlichen Grund nicht, aber ich stelle mir sie immer nur als eine Säuferin vor, die sich in der Nacht durch die Kaffeehäuser schleppt.“ Hier hatte sie im Jahr 1912 auch Gottfried Benn kennengelernt. Klein war sie, knabenhaft schlank, große rabenschwarze Augen. Damals in Berlin und noch an ihrem Lebensende in Jerusalem gefiel sich die Dichterin in der Verkleidung, über und über mit unechtem Schmuck behängt.

Else Lasker-Schüler wollte um jeden Preis auffallen: Die exzentrischen Maskeraden verschafften ihr Aufmerksamkeit, lockten aber auch den Widerspruch gegen ihre Dichtung hervor. „Ich kann ihre Gedichte nicht leiden, ich fühle bei ihnen nichts als Langweile über ihre Leere und Widerwillen wegen des künstlichen Aufwandes“, schrieb Kafka. „Auch ihre Prosa ist mir lästig aus den gleichen Gründen, es arbeitet darin das wahllos zuckende Gehirn einer sich überspannenden Großstädterin.“ Gottfried Benn wiederum wollte nach ihrem Tod in Lasker-Schüler „die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte“, sehen. In Jerusalem hatte sie bei ihrem zweiten Aufenthalt den großen Erforscher der jüdischen Mystik kennengelernt – Gershom Scholem aber hielt ihre dichterischen Offenbarungen für reine Mystifikation. „Ihre Redeweise war lyrisch-verrückt und sie verlangte von ihren Partnern, dass sie darauf ergeben eingingen. Das machte ich nicht mit.“ Scholems Mutter Betty stimmte dem Urteil ihres Sohnes zu: „Ich fand dieses Frauenzimmer immer greulich und ich verstehe nicht, wie man aus ihrem Gewäsch ohne jeden Sinn Dichtkunst herauslesen konnte.“ (Berlin, 17. Juni 1937)

Hochbegabt und äußerst exzentrisch

Das jüngste von sechs Kindern aus reichem Elternhaus war hochbegabt und sehr verwöhnt. Mit vier Jahren konnte die kleine Prinzessin lesen und schreiben. „Du bist eine Dichterin!“, erklärt die Mutter. Sie war eine große Leserin und Liebhaberin von Goethes Gedichten, die sie mit schöner Schrift in ein besonders gebundenes Buch abschrieb. Wie Gertrud von le Fort wurde die kleine Else von ihrer belesenen Mutter zur Niederschrift von eigenen ersten Gedichten angehalten. Früh hatte sie ihre Durchsetzungskraft erprobt. Bekam sie nicht, was sie wollte, stieg sie auf einen kleinen Turm des Hauses und rief von oben hinab: „Ich langweile mich so!“

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Else Lasker-Schüler hat sich oft gelangweilt, besonders in der Schule. Am Schulversagen sind nicht immer die sozialen oder familiären Umstände schuld. Doch Aaron Schüler (1825–1897) trickste, wie der Vater von Gertrud von le Fort, die Lehrer aus, förderte das Bewusstsein der Erwählung und Sonderstellung seiner Tochter, die mit acht Jahren als Schulverweigerin ihre erste große Rolle fand. Wie der biblische Josef war sie die Erwählte und musste dafür mit dem Sturz in die Grube büßen. Nicht nur die Leistungen in Mathematik blieben auch nach dem Privatunterricht katastrophal. Besonders schwach war das dichterische Genie in Geografie. Der reale Raum der Welt interessierte den Geist, der mit Engeln Gespräche führte, in keiner Weise.

Platzhalterin der Engel Gottes

Else Lasker-Schüler glaubte, dass Ehen von den Engeln im Himmel geschlossen werden. „Zwei sich küssende Augen bringen den Engel der Liebe zur Welt.“ Wie aber erklärt sich dann die unglückliche Liebe? Brachen dem Engel der Liebe die Schwingen? Ihr erster Mann Bertold Lasker war deutscher Schachmeister. Sein Bruder Emanuel sogar von 1894 bis 1921 Schachweltmeister. Stefan Zweig nennt seinen Namen im Eingang der „Schachnovelle“. Doch in der Welt der Logik und des strategischen Denkens war für engelgleiche Erweckungszustände kein Platz. Die Dichterin aber suchte in ihren Beziehungen die Gegenwelt. Sie liebte die Exzentriker wie den Anarchisten Senna Hoy (1882-1914), der im vorrevolutionären Russland unter die Räder kam. Ihr zweiter Mann, Herwarth Walden, reiste 1932 nach Moskau und fand hier wie viele Revolutionstouristen den Tod. Else Lasker-Schüler war eine große Liebende, die in ihrem Leben nie die große Liebe fand und dennoch voller Gewissheit war: „Ich pflückte mir am Weg das letzte Tausendschön…/Es kam ein Engel, mir mein Totenkleid zu nähen –/Denn ich muss andere Welten weiter tragen./Das ewige Leben dem, der viel von Liebe weiß zu sagen./Ein Mensch der Liebe kann nur auferstehen!“

Die Familie Schüler gehörte zum weitgehend assimilierten Judentum, von dem sich der politisch hellsichtige Gershom Scholem früh abgewandt hatte. Man feierte Weihnachten ebenso wie den Versöhnungstag. Hier blieb nach altem Brauch ein Stuhl für den Messias frei. Auf ihn platzierte das Kind sein Lieblingsspielzeug. Else Lasker-Schüler war immer in Erwartung auf die Ankunft des Engels der Liebe. Engel sind wie die Dichterin Platzhalter Gottes. „Platzmachen für Gott!“: So beschrieb sie ihre Aufgabe. Gedichte waren für sie Gebete wie ein „sabbatliches Flügelkleid. Das Gebet soll dich befreien. Dein Glauben sei ein fröhlicher! König David tanzte voran im Zuge vor der Bundeslade“. Diese Begeisterung für Gottes Gegenwart hatte sie auch in den Prozessionen zum St. Laurentius-Tag erfahren, wenn die Mädchen im frommen Elberfeld als Engel verkleidet durch die Straßen zogen.

Else Lasker-Schüler bewahrte zeitlebens die Unabhängigkeit und Unmittelbarkeit ihrer Berufung. In Jerusalem fand sie kein Gehör, wie sich Schalom Ben-Chorin erinnert: „Zur Schande Jerusalems muss es gesagt werden, dass es nicht ganz leicht war, einen Vortrag der Dichterin in der Heiligen Stadt zu veranstalten. Die zentralen zionistischen und kulturellen Körperschaften der Stadt sahen ihre Aufgabe keineswegs darin, die größte lebende Dichterin des jüdischen Volkes in gebührender Weise zu ehren, ja, nur den Rahmen zu schaffen für einen würdigen Rezitationsabend.“ Der letzte Gedichtband „Mein blaues Klavier“ erschien 1943 in einer Auflage von 330 Exemplaren. Ihr Grab existiert nicht mehr. Im Aminadav Wald erinnert eine abstrakte Skulptur „Engel für Jerusalem“ (2007) von Horst Meister an die Platzhalterin der Engel Gottes.

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