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Ist der Mensch wahrheitsfähig?

Der Mensch muss in der Lage sein, die Wirklichkeit in ihrem Reichtum zu erkennen - auch in Bezug auf trans-empirische Dinge wie das menschliche Glück.
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Die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit des Menschen ist komplex. Sie hat in erster Linie eine erkenntnistheoretische Dimension: Was ist die Eigenart menschlicher Erkenntnis gegenüber anderen Formen von Kognition, wie wir sie auch bei Tieren finden? Wie ist die Reichweite menschlicher Erkenntnis zu bestimmen? Die Frage hat sodann eine metaphysische Dimension: Was ist Wahrheit? Ist die Wirklichkeit denkunabhängig oder sind die Dinge durch unser Denken mitkonstituiert oder sogar konstruiert? Die Frage hat schließlich auch eine anthropologische Dimension: Ist der Mensch überhaupt in der Lage, zur Wirklichkeit in ein Verhältnis zu treten, in dem er die Dinge als das erkennt, was sie sind, oder ist der Mensch bloß ein „findiges Tier“, dem es bloß um das für ihn oder sein Kollektiv Nützliche und Schädliche geht, oder gar nur um das Angenehme oder Unangenehme?
Zunächst ist zwischen „wahrheitsfähig“ im weiten und im engen Sinn zu unterscheiden.

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Unter „wahrheitsfähig“ im weiten Sinn wird im Folgenden die mit der Vernunftbegabung des Menschen einhergehende Fähigkeit verstanden, zu Überzeugungen, beziehungsweise Aussagen zu kommen, die Tatsachen so beschreiben, wie sie sind. „Wahr“ ist hier die Eigenschaft von Aussagesätzen: „Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist wahr“ (Aristoteles, Metaphysik IV 7). Diese Aussagenwahrheit wird von Aristoteles und der auf ihm beruhenden Tradition realistisch gedeutet: Es ist nicht mein Meinen oder etwas an meinem Urteilen, welches das, was ich meine oder urteile, wahrmacht. Vielmehr macht die Wirklichkeit selbst mein Meinen oder Urteilen über sie wahr oder eben falsch: „Nicht darum nämlich, weil unsere Meinung, du seiest weiß, wahr ist, bist du weiß, sondern darum, weil du weiß bist, sagen wir die Wahrheit, indem wir dies behaupten“ (Metaphysik IX 10).

Kann der Mensch über die Existenz Gottes zu einer wahren Aussage kommen? 

Die Wirklichkeit selbst ist der Maßstab der Wahrheit, so das realistische Wahrheitsverständnis. Dagegen sieht ein anti-realistisches Wahrheitsverständnis einen bestimmten gedanklichen Akt, eine kognitive Prozedur oder ein Begründungsverfahren als wahrheitskonstituierend (wie etwa bei Kant) oder gar als wahrheitserzeugend (wie im Konstruktivismus) an. In Bezug auf empirische singuläre Tatsachen (zum Beispiel „diese Tasse vor mir ist weiß“) dürfte es wenig kontrovers sein, dass der Mensch in der Lage ist, zu wahren Aussagen über die Wirklichkeit zu kommen. In den meisten Fällen haben wir keinen Grund, an der Zuverlässigkeit unserer Wahrnehmung, unserem gegenwärtigen kognitiven Zustand oder unserer kognitiven Autonomie zu zweifeln. Auch gehen wir im Bereich des Empirischen meist davon aus, dass wir die Wirklichkeit so erfassen, wie sie ist. Das ist eine weithin akzeptierte Form von Alltags-Realismus.

Kontrovers wird es, wenn wir uns dem engeren Sinn von „wahrheitsfähig“ zuwenden: Ist der Mensch als solcher fähig, über trans-empirische Sachverhalte (wie etwa über die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, die Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt et cetera), also solche Sachverhalte, die unseren Sinnen entzogen sind, zu wahren Aussagen zu kommen? Oder hat die menschliche (theoretische) Vernunft, wie Kant meinte, „das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft“ (Kritik der reinen Vernunft, Vorrede A)? Wahrheitsfähigkeit in diesem engeren Sinn bedeutet die Fähigkeit, metaphysische Fragen, die sich dem nachdenklichen Menschen unweigerlich stellen, rational diskutieren und auch beantworten zu können. Ob sich die theoretische Vernunft, wie Kant meinte, hier tatsächlich in Antinomien verstrickt und diese „letzten Fragen“ offen halten muss, kann hier nicht diskutiert werden. Die Lücke wird durch den praktischen Vernunftglauben gefüllt, der auf eine andere Art zu einer rationalen Gewissheit von der Existenz Gottes führt: Kritik der praktischen Vernunft A 226f.). Es gibt zahlreiche namhafte Philosophen, die die traditionellen Gottesbeweise als gültige Argumente betrachten oder neue formuliert haben.

Die Wahrheit in einem realistischen Sinn ist anstößig geworden

Die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit im engeren Sinn bezieht sich allerdings nicht nur auf spekulative Sachverhalte, sondern auch auf die Grundlagen der Moral und der menschlichen Lebensform: Gibt es moralische Tatsachen unabhängig von unserem Denken und Wollen (moralischer Realismus), und wenn ja, wie können wir sie erkennen? Oder handelt es sich bei der Moral um Menschenwerk, um interessensbasierte soziale Artefakte (moralischer Anti-Realismus)? Gibt es so etwas wie ein objektiv verstandenes menschliches Glück oder zumindest objektive Rahmenbedingungen und wenn ja, wie können diese ermittelt werden? Oder besteht das Glück einzig und allein in der Befriedigung der je eigenen Präferenzen?

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In Bezug auf die Moral und den Menschen ist heute die Rede von Wahrheit in einem realistischen Sinn für viele anstößig geworden. In der Moralphilosophie gibt es nicht Wenige, die die Rede von moralischen Tatsachen „seltsam“ finden und die eine bestimmte gedankliche Prozedur (wie etwa die Imagination einer Vertragssituation) oder ein bestimmtes Verfahren (wie etwa einen idealen Diskurs) für wahrheitskonstitutiv halten. In der Anthropologie wird die menschliche Gattungsnatur als ein biologisches factum brutum betrachtet, das es durch sich selbst zu gestalten gilt. Die Rede von einem „Wesen“ des Menschen erscheint demgegenüber als ein überholter Essentialismus. Dabei denkt die aristotelische Tradition das Wesen oder die Natur eines Menschen gerade nicht als einen mysteriösen „Wesenskern“, sondern als ein Ensemble artspezifischer Dispositionen, die als Prinzipien bestimmten typischen Vollzügen einer Substanz zugrunde liegen und auf die wir uns in Erklärungen, warum eine Substanz so ist, wie sie ist, ultimativ beziehen.

Es gibt eine reale, empirisch zugängliche "Normalität"

Gemäß dem aristotelischen Hylemorphismus, den Thomas von Aquin in seine normative Anthropologie integriert, manifestiert sich das Wesen des Menschen immer schon in bestimmten leib-geistigen Vollzügen, die jeweils auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet sind (Selbsterhaltung, Arterhaltung, Leben in Gemeinschaft, Wissen über die Prinzipien der Wirklichkeit). Diese Ziele fließen als menschliche Güter in die praktische Überlegung ein; sie sind mit bestimmten Tugenden verbunden, die bestimmte Handlungen auf diese Güter hinzuordnen helfen. Die praktische Vernunft des Menschen hat eine natürliche Substruktur. Diese zeichnet die Bedingungen vor, unter denen der Mensch sein Wesen entfalten kann; sie ist gewissermaßen der reale Boden, auf dem wir unser Leben führen. Ausgehend von diesen natürlichen Bedingungen können wir durch Beobachtung, Erfahrung und Reflexion zu allgemeinen und begründeten Aussagen über die menschliche Lebensform kommen, die so etwas wie eine empirisch zugängliche „Normalität“ darstellen (vgl. die Ansätze von Michael Thompson und Philippa Foot).

Der Mensch ist nicht nur als ein Denkender und von Natur aus nach Wissen Strebender wahrheitsfähig, er lebt in einem existentiellen Sinn schon immer von der Wahrheit: Wenn das menschliche Glück nicht bloß in einer flachen äußeren Zufriedenheit, also in positiven Bewusstseinszuständen, bestehen kann, worauf uns grundlegende Intuitionen („besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr“, wie Mill sagt) oder auch Gedankenexperimente hinweisen (etwa Nozicks „experience machine“), sondern so etwas wie eine „Tiefe“ braucht, dann muss der Mensch fähig sein, einen Zugang zur Wirklichkeit in ihrer Unergründlichkeit und ihrem Reichtum zu gewinnen: „Die Erfüllung des Daseins geschieht in der Weise des Gewahrwerdens von Wirklichkeit; die ganze Energie unseres Wesens will letztlich auf Erkennen hinaus“, so Josef Pieper. Das zeigt sich in seiner Höchstform im Glück der Kontemplation. Es zeigt sich aber auch in den interpersonalen Erfahrungen: in der Liebe, in der ich der anderen Person als dieser Einzigartigen wirklich gewahr werde, und in der Moral. „Die Freude an der Wahrheit wollen alle. Viele habe ich kennengelernt, die täuschen wollten, keinen jedoch, der getäuscht werden wollte. Wo haben sie denn das selige Leben kennengelernt, wenn nicht dort, wo sie auch die Wahrheit kennengelernt haben?“ (Augustinus, Confessiones X).

Info: Kurz gefasst

Die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit des Menschen ist komplex. Sie hat eine erkenntnistheoretische, eine metaphysische und eine anthropologische Dimension: Wie weit reicht das menschliche Erkennen? Ist die Wirklichkeit denkunabhängig oder von unserem Denken mitkonstituiert oder sogar konstruiert?

Ist der Mensch überhaupt in der Lage, in ein Verhältnis zur Wirklichkeit zu treten, in dem er die Dinge als das erkennt, was sie sind? Besonders im Bereich der Moral und der menschlichen Lebensform ist die Rede von der Wahrheit heute anstößig geworden.


Der Autor

Philosophie
Foto: Angelika Zinzow Fotografie | Stephan Herzberg ist Lehrstuhlinhaber für Geschichte der Philosophie und Praktische Philosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen.

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