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„Liebe, und dann tu, was du willst“?

Die Liebe braucht die Wahrheit, um nicht zur zerstörerischen Kraft zu degenerieren. Doch aus der Wahrheit heraus kann sie zum Motor des Lebens werden.
Eros

Liebe, und dann tu, was du willst.“ Der Paukenschlag des Augustinus hallt durch die Jahrhunderte, ein gefährlicher Paukenschlag. Er scheint alle Fragen überflüssig zu machen: Braucht Liebe überhaupt Wahrheit? Welche Wahrheit? Steht Liebe nicht „vor“ aller Rechtfertigung, sich selbst genug? Tatsächlich ist sie höchste, unanfechtbare Kraft – Gott selbst ist ja die Liebe?

Ja, aber. Die menschliche Liebe ist nicht mehr unschuldig, ebenso wie alle anderen menschlichen Vermögen – und gerade Augustinus durchdachte auch die unleugbare Erfahrung einer Störung, die er „Erbsünde“ nannte. Von Ernest Hemingway stammt ein schrecklicher Text: „Ich war dein Kamerad und deine kleine schwarze Blume. Gewäsch. Liebe ist auch nur eine schmutzige Lüge. Liebe sind Erapiolpillen, damit ich meine Periode kriegte, weil du Angst hattest, ich könnte ein Baby bekommen. Liebe ist Chinin und Chinin und Chinin, bis ich taub davon bin. Liebe ist das dreckige Scheusal für Fehlgeburten, zu dem du mich geschleppt hast. Liebe, das bedeutet (…) Katheter und Ausspülungen. (…) Sie riecht nach Lysol. Zum Teufel mit der Liebe. Liebe heißt, dass du mich glücklich machst, und dass du mit offenem Maul einschläfst, während ich die ganze Nacht hindurch wach liege und Angst habe zu beten, weil ich weiß, dass ich kein Recht mehr dazu habe.“ Die Verderbnis des Besten ist das Schlechteste – auch das wusste Augustinus.

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„Eros ist vielgesichtig“

Trotzdem kommt die Frage immer wieder entwaffnend, harmlos allen Einwand im Keim erstickend: „Haben Sie etwas dagegen, wenn sich Menschen lieben?“ Liebe, ob auto-, bi-, homo-, hetero-, poly-erotisch, gilt mittlerweile als Selbstausdruck der mündigen Person und geht niemand anderen etwas an. Außerdem solle sich die Kirche aus den Schlafzimmern heraushalten. (Was sie seit zwei Generationen bereits wortlos tut.)
Im Deutschen gibt es nur das eine Wort „Liebe“ für vielerlei Tun, und dieses einzige Wort  verschleiert das Uneinheitliche, den Egoismus dieser Elementarkraft. Sie schillert zwischen Trieb, der heute als plurales „Begehren“, gattungshaft, moralisch aufgewertet ist, und der hingegebenen singulären Liebe, die sich nur auf diese eine und für immer geliebte Person richtet und mit ihr fruchtbar sein will.

Die Lust am Begehren spielt mit dem Feuer einer tiefen, noch ungeordneten Faszination. Rilke nennt sie kenntnisreich den „verborgenen schuldigen Fluss-Gott des Bluts … ach, von welchem Unkenntlichen triefend, das Gotthaupt“. Eros ist vielgesichtig, ein Dämon bei den Griechen, der Anbetung, (Selbst-)Opfer, Unterwerfung fordert. Zu den dunklen Seiten der Liebe heißt es: „Die großen Leidenschaften: des Geschlechts, der Liebe, der Heimat, der Religion erschüttern bis auf den Grund. Aber in der Tiefe sind nicht nur Perlen, auch Schlamm und Ungetüme.“ (I. F. Görres) Wird Liebesleidenschaft als Selbstgenuss (mit wechselnden Partnern) zelebriert oder überlässt sie sich dem anderen, der anderen, wirklich, willentlich und gefühlsmäßig, einzig und auf Dauer? „Liebe“ ist nicht vor der krassen Selbstbeziehung gefeit, die den anderen nur zur Steigerung des eigenen Erlebens braucht, dinghaft, objekthaft. Früher hieß sie Wollust: Selbstverschließung im Egogenuss. Wollust ist das Pseudos der Liebe. Auch wenn man sie gemeinsam, mit dem neuen moralischen Lieblingswort: „einvernehmlich“ zelebriert.

Der spätmodernen Gegenwart scheint vorbehalten, in diesem Pseudos auch eine leiblose Freiheit zu formulieren. Selbst der eigene Leib in seiner geschlechtlichen Beschriftung scheint nichts mehr mitzuteilen, das ein Verhalten nahelegt. Neuerdings wird der Genesisbericht der Erschaffung von Mann und Frau gelesen als kulturspezifischer Ausdruck einer überholten Epoche, die noch an das „Sein“ glaubte. Stattdessen wird die eigene Lust zum Leitfaden der Ethik. Es bedürfe nur des gegenseitigen Willens zwischen Personen, also eines seelischen Aktes, nicht mehr aber der leiblichen Polarität, um zu lieben. Der Leib verstummt in seiner je eigenen Sprache. Es ist ja gar nicht zu übersehen, dass es eine „Schloss-Schlüssel-Entsprechung“ der Geschlechtsorgane gibt, durchgängig durch die gesamte Natur. Trotzdem: „Bio“ ist überall angesagt – aber der Mensch scheint das einzige Wesen zu sein, das angeblich kein Bios mehr hat oder braucht. Er wird unwirklich.

Die Liebe braucht ursprüngliche Wahrheit

In Goethes „Faust“, dem Drama der Neuzeit schlechthin, will Faust den biblischen Johannes-Prolog neu übersetzen, um ihn dem Geist der künftigen Zeit anzupassen; er versucht drei Varianten und greift zuletzt zu dem Satz: „Im Anfang war die Tat.“ Der Pudel des Mephisto treibt sich bereits in der Studierstube herum; bald danach tritt der höllische Meister selbst herein. Die falsche Übersetzung Fausts ist schon die Einladung an den Bösen. Was ist falsch an der Tat? Sie handelt, bevor Ausgang und Ziel klar sind. Sie setzt den Willen vor die Einsicht.

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Im Urtext ist es umgekehrt: Im Anfang war der Logos, das Wort. Das Wort, das sich später selbst „Wahrheit“ nennt (Joh 14, 6), ist das Wort der wahren Beziehung. Es zeigt die göttliche Dreieinheit in ihrem hin und her flutenden Leben, es zeigt die ursprüngliche Verbindung von Schöpfer und Geschöpf, und dann der Geschöpfe untereinander. Erst aus der wahren Beziehung folgt ein Tun, nicht umgekehrt. Auch die Liebe, gerade sie, braucht ursprüngliche Wahrheit. Wahrheit als Klärung über Bestimmung und Ziel der Liebe. Wahrheit über die Ordnungen des Lebens. Diese Ordnungen sind durchgängig asymmetrisch; das macht ihren lebendigen Reiz aus. Sie sind nicht konstruiert, sondern bereits auf den Leib geschrieben, den männlichen und den weiblichen Leib. Und das schon „im Anfang“.

Liebe ist überschießende Antwort

Ist diese Wahrheit gefunden, was heißt: will man den eigenen Leib einfach lesen, kann Sexualität ganz anders beflügeln und zu den stärksten Motoren lebendiger Verwirklichung gehören. Leib – Leben – Liebe gehören im Wortstamm zusammen; das meint: die Spannung der Liebe steigern, die sich in und über die Sexualität hinaus zeigt. Zur Wahrheit der Liebe gehört das andere Geschlecht, das wirklich bis in die Tiefe anders ist. Deswegen erfordert sie besonderen Mut: sich einzulassen auf diese Andersheit, leiblich, seelisch, geistig. So wird Liebe ernst, lebensentscheidend, „göttlich“. Una uni, dem Einzigen die Einzige, sagt Bernhard von Clairvaux. Lieben meint: den Plural (aller möglichen Partner) in den Singular (nur dich, ganz anders als ich) verwandeln.

In solcher Liebe treffen die Gefahren der Selbstsuche nur untergeordnet zu. Man erhält nicht nur die Gabe des anderen Geschlechts, man selbst ist Gegen-Gabe, bis zu einer Steigerung, die anfangs gar nicht abzuschätzen war. Liebe ist nicht reziproke Antwort, sie ist überschießende Antwort. Sie gibt sich selbst wirklich in das Fremde – und sie erhält sich überraschend selbst, anders, neu, gesteigert. So Goethe: „Du bist mein, und nun ist das Meine meiner als jemals.“ Das leibhafte Zeichen dafür ist die Fruchtbarkeit. Nicht die bezahlte Fruchtbarkeit im Labor, im Umweg über einen geliehenen Uterus, im Umweg über den Kauf eines Eis oder einer Samenzelle, möglicherweise dann auch im Widerruf des gezeugten Kindes – all das sind Technisierungen des Lebendigen außerhalb der „im Anfang“ geschenkten Ordnung. Sondern es ist die ursprüngliche Fruchtbarkeit von Mann und Frau, welche die Wahrheit ihrer Beziehung nun wirklich unübersehbar sichtbar macht. Simchat thora, „die Freude am Gesetz“ heißt ein Fest im Judentum. Übersetzen wir Thora mit „Weisung“ (nahe der Weisheit), dann bräuchten wir heute ein „Fest der Weisung in die Wahrheit“.

„Die Wahrheit tun in Liebe“, schreibt Paulus an die Epheser (4, 15). Wieder einmal unübertroffen, kühn und einzigartig in der Wortschöpfung. Wahrheit ist ein Zwischen – ein Geschehen zwischen denen, die ursprünglich aufeinander bezogen und deswegen verschieden sind. Die Wahrheit in Gott selbst, zwischen den göttlichen Personen ist ein solches ungeheures, nur zu ahnendes Geschehen; die Wahrheit zwischen Ihm und uns ist ein anderes Geschehen; die Wahrheit zwischen Mann und Frau ist wieder ein anderes Geschehen. Dieses jeweilige Geschehen ist nicht zu überschreiben, umzumodeln, zu ersetzen. Sondern: Sich in die anfängliche göttliche Motorik stellen, das Göttliche im eigenen Fleisch anzunehmen und von Ihm führen zu lassen, heißt lieben. „Und dann tu, was du willst.“

Info: Kurz gefasst

Braucht Liebe überhaupt Wahrheit? Steht sie nicht „vor“ aller Rechtfertigung, sich selbst genug? Liebe, ob auto-, bi-, homo-, hetero-, poly-erotisch, gilt mittlerweile als Selbstausdruck der mündigen Person.

Das Wort „Liebe“ verschleiert aber den Egoismus dieser Elementarkraft. Sie schillert zwischen Trieb, der als plurales „Begehren“ moralisch aufgewertet wird, und der hingegebenen singulären Liebe, die sich nur auf diese eine und für immer geliebte Person richtet und mit ihr fruchtbar sein will.


Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Foto: Bjoern Haenssler | Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz ist Religionsphilosophin und leitet das Europäische Institut für Philosophie und Religion an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. in Heiligenkreuz bei Wien.

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