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„Der dir all deine Schuld vergibt“

Barmherzigkeit ist Läuterung von, nicht die Leugnung der Sünde. Das beschreiben die biblischen Texte um das Volk Israel in der Wüste.
Goldenes Kalb
Foto: gemeinfrei | Goldenes Kalb

In der Bibel lassen sich zwei Begriffe von Barmherzigkeit unterscheiden: Beim theologisch akzentuierten Begriff von Barmherzigkeit geht es in erster Linie um die Vergebung der Schuld, beim anthropologisch konnotierten Verständnis geht es darum, dem Notleidenden zu helfen. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf das genuin theologische Verständnis von einem Gott, „der dir all deine Schuld vergibt und all deine Gebrechen heilt, der dein Leben vor dem Untergang rettet und dich mit Huld und Erbarmen krönt“ (Ps 103, 3f).


Der Gott des Alten Testaments ist von seinem Wesen her ein Gott der Barmherzigkeit, doch ohne seine strafende Gerechtigkeit wird seine Barmherzigkeit der Wirklichkeit nicht gerecht: „Der HERR (JHWH) ist der HERR (JHWH), ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue: Er bewahrt tausend Generationen Huld, nimmt Schuld, Frevel und Sünde weg, aber er spricht nicht einfach frei, er sucht die Schuld der Väter bei den Söhnen und Enkeln heim, bis zur dritten und vierten Generation“ (Ex 34, 6f). An dieser zentralen Stelle der Sinaiperikope werden zwei scheinbar gegensätzliche Eigenschaften Gottes in einem Atemzug genannt, die in theologischen Streitgesprächen oft auseinandergerissen und nicht zusammengedacht werden können: seine Barmherzigkeit und seine strafende Gerechtigkeit.

Gottesdienst nach eigenem Gutdünken

Das rechte Verständnis der genannten Spannung ist aus dem größeren literarischen Zusammenhang zu gewinnen. Mose ist auf den Sinai hinaufgestiegen. Gott gibt ihm Anweisungen für den Bau des Heiligtums. Im Hintergrund steht die Frage: Wie kann die einmalige Begegnung zwischen Gott und seinem Volk zu einer bleibenden Gemeinschaft führen? Die Antwort lautet: Dadurch, dass das Volk der Gegenwart Gottes einen Raum bereitet. Entsprechend heißt es in Ex 25, 8: „Macht mir ein Heiligtum! Dann werde ich in ihrer Mitte wohnen.“ Gott gibt Mose nun Anweisungen zum Bau des Heiligtums und zur Ordnung des Gottesdienstes. Das braucht seine Zeit: „Vierzig Tage und vierzig Nächte blieb Mose auf dem Berg“ (Ex 24, 18).

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Währenddessen wartet das Volk zusammen mit Aaron am Fuße des Berges. Das Volk wird ungeduldig, kann die Ungewissheit über Moses Abwesenheit nicht länger ertragen und schreitet unter maßgeblicher Beteiligung Aarons eigenmächtig zur Tat. Was dabei herauskommt, ist bekannt: das Goldene Kalb. Aaron, der Stammvater des alttestamentlichen Priestertums, geht auf die Wünsche des Volkes ein, baut einen Altar und feiert zusammen mit dem Volk einen Gottesdienst nach eigenem Gutdünken (Ex 32, 1–6). Gott sieht, dass das Volk ins Verderben läuft. Er wendet sich an Mose, den er als seinen Propheten berufen und mit dem Projekt der Befreiung seines Volkes aus der Knechtschaft Ägyptens beauftragt hatte (Ex 3). Dieses Projekt droht nun zu scheitern: „Ich habe dieses Volk gesehen und siehe, es ist ein störrisches Volk. Jetzt lass mich, damit mein Zorn gegen sie entbrennt und sie verzehrt“ (Ex 32, 9f). Mit der Abwendung von JHWH, dem einen und wahren Gott (Israels) und der Hinwendung zu anderen Götter hat das Volk schwere Schuld auf sich geladen. Es hat gegen das Hauptgebot verstoßen: „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben! Du sollst Dir kein Gottesbild machen!“ (Ex 20, 3f).

Gott eröffnet eine neue Perspektive

In dieser dramatischen Situation springt Mose für das Volk in die Bresche. Er bittet Gott, von seinem Urteil abzurücken: „Wozu, HERR, soll dein Zorn gegen dein Volk entbrennen, das du mit großer Macht und starker Hand aus Ägypten herausgeführt hast? Sollen etwa die Ägypter sagen können: In böser Absicht hat er sie herausgeführt, um sie im Gebirge umzubringen und sie vom Erdboden verschwinden zu lassen? Lass ab von deinem glühenden Zorn und lass dich das Unheil reuen, das du deinem Volk antun wolltest“ (Ex 32, 11f). Im weiteren Verlauf kommt es zu einem intensiven Ringen zwischen Mose und Gott. Mose tritt hier als der große Fürsprecher auf, der sogar sein eigenes Leben anbietet (Ex 32, 32), um das seines Volkes zu retten. Nach der ersten, ausführlichen Fürbitte des Mose erklärt sich Gott grundsätzlich bereit, von dem Unheil, das er seinem Volk angedroht hat, Abstand zu nehmen (Ex 32, 14). Damit ist aber das Problem noch nicht gelöst. Es wird lediglich eine Perspektive eröffnet, dass alles vielleicht doch noch einmal gut ausgehen könnte. Damit dies möglich wird, bedarf es einer komplexen Interaktion zwischen Gott, Mose und dem Volk.

In der ersten Phase dieses Prozesses wird das ganze Ausmaß des Elends sichtbar und bewusst. Mose steigt, wie Gott ihm befohlen hat, vom Berg hinunter, und sieht, was mit dem Volk geschehen ist. Darüber ist er so erschüttert, dass er im Zorn die Tafeln (des Bundes) zerbricht: „Er schleuderte die Tafeln fort und zerschmetterte sie am Fuß des Berges. Dann packte er das Kalb, das sie gemacht hatten, verbrannte es im Feuer und zerstampfte es zu Staub. Den Staub streute er in Wasser und gab es den Israeliten zu trinken“ (Ex 31, 19). Das Böse wird zerstört und im Rahmen eines archaischen Rituals dorthin zurückgeführt, wo es hergekommen ist: aus dem Inneren des Menschen.

Als zweites sagt Mose dem Volk in aller Deutlichkeit, was es getan hat: „Ihr habt eine große Sünde begangen. Jetzt will ich zum HERRN hinaufsteigen; vielleicht kann ich für eure Sünde Sühne erwirken“ (Ex 32, 30). Mose geht wieder hinauf zum HERRN, gesteht die Schuld des Volkes ein und bittet um Vergebung: „Ach, dieses Volk hat eine große Sünde begangen. Götter aus Gold haben sie sich gemacht. Doch jetzt nimm ihre Sünde von ihnen!“ (Ex 32, 31) Gott geht auf die Bitte des Mose in fein aufeinander abgestimmten Schritten ein. Er spricht nun nicht mehr davon, dass er das Volk vernichten will. Er will sich zurückziehen und fordert Mose auf, er möge doch mit dem Volk in das verheißene Land ziehen, denn in einem Volk, das der Sünde verfallen ist, führt die Anwesenheit Gottes zum Tod: „Ich selbst ziehe nicht in deiner Mitte hinauf, damit ich dich unterwegs nicht vertilge, denn du bist ein störrisches Volk. Wenn ich auch nur einen einzigen Augenblick mit dir zöge, müsste ich dir ein Ende bereiten“ (Ex 33, 3.5). Mose soll mit dem Volk in das Land ziehen, Gott kann nicht mehr mit ihm ziehen.

Gottesferne als Barmherzigkeit

Im Hintergrund dieser Vorstellung steht die theologische Konzeption von Gott als einem Feuer, das sich hinsichtlich der Verfassung derer, die mit ihm in Kontakt kommen, unterschiedlich auswirkt: entweder verzehrend und vernichtend oder reinigend und erleuchtend (siehe Ex 13, 21; Lev 10, 1f). In Ex 33, 3 ist folglich die Abwesenheit Gottes Ausdruck seiner Barmherzigkeit: „Ich selbst ziehe nicht in deiner Mitte hinauf. […] Wenn ich auch nur einen einzigen Augenblick mit dir zöge, müsste ich dir ein Ende bereiten“ (Ex 33, 3.5).

Auf die Ankündigung Gottes hin, nicht mehr in der Mitte des Volkes in das Land hinaufzuziehen, wird das Volk von Trauer ergriffen; ein jeder legt seinen Schmuck ab: „Als das Volk diese schlechte Nachricht hörte, trauerten sie und keiner legte seinen Schmuck an“ (Ex 33, 4). Die rätselhaft klingende Formulierung „und keiner legte seinen Schmuck an“ ist im vorliegenden Kontext sehr wahrscheinlich vor dem Hintergrund der Prostitution zu verstehen. In Ez 23, 40 wird vom Anlegen des Schmuckes im Rahmen der Prostitution gesprochen, und diese wird dort als Metapher für den Bundesbruch Israels und Judas verstanden. Folglich dürfte das Ablegen des Schmuckes in Ex 33,4 die Abkehr von der „Prostitution“ des Volkes signalisieren. Das Volk hat seine Schuld erkannt, ist bereit zur Umkehr und zu tätiger Reue. Ausdrücklich fordert der HERR das Volk auf: „Jetzt aber leg deinen Schmuck ab! Dann will ich sehen, was ich mit dir tun kann. Da legten die Israeliten ihren Schmuck ab, vom Berg Horeb an“ (Ex 33, 5f).
Mose wird nun eine einzigartige Gottesbegegnung zuteil. Darin gibt Gott seine Bereitschaft zu erkennen, dem Volk die Schuld zu vergeben. Im Rahmen dieser Theophanie offenbart sich, wie eingangs zitiert, Gott als ein Gott, der die Schuld vergibt (Ex 34, 4–10). Mit der Erneuerung des Bundes wird die Vergebung besiegelt. Gott wird weiterhin seinem Volk auf dem Weg in das verheißene Land vorangehen.

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Schuld, Umkehr und Vergebung

Die Aussage von der Barmherzigkeit Gottes ist im Kontext der Sinaiperikope eine theologische Spitzenaussage. Sie steht am Endpunkt eines komplexen Prozesses von Schuld – Eingeständnis der Schuld – Umkehr – Vergebung. Barmherzigkeit Gottes besagt in diesem Zusammenhang, dass Gott die Schuld vergibt, wenn sich der Schuldige zu seiner Schuld bekennt und sich von der Sünde abwendet. Eine besondere Dramatik gewinnt die Erzählung dadurch, dass in diesem Fall die Sünde als eine radikale Abwendung von Gott eigentlich den Tod nach sich zieht. Barmherzigkeit Gottes heißt im Letzten: Rettung aus der Macht des Todes, der durch die Sünde herbeigeführten Trennung von Gott.

Im Buch des Propheten Ezechiel kommt dieser Gedanke in voller Klarheit zum Ausdruck: „Wenn der Schuldige sich von allen Sünden, die er getan hat, abwendet, auf alle meine Gesetze achtet und nach Recht und Gerechtigkeit handelt, wird er bestimmt am Leben bleiben und nicht sterben. Keines seiner Vergehen, die er begangen hat, wird ihm angerechnet. Wegen seiner Gerechtigkeit, die er geübt hat, wird er am Leben bleiben. Habe ich etwa Gefallen am Tod des Schuldigen – Spruch GOTTES, des Herrn – und nicht vielmehr daran, dass er umkehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?“ (Ez 18, 21–23).

Sünde – Bekenntnis der Schuld – Umkehr – Vergebung – in dieser Abfolge ist der Begriff der Barmherzigkeit Gottes biblisch verankert. Barmherzigkeit Gottes heißt also nicht, dass die Schuld geleugnet, sondern dass sie vergeben wird. Dieser Struktur entspricht auch die prophetische Botschaft. Deshalb finden wir Aussagen zur Vergebung und Barmherzigkeit Gottes oft in der zweiten Hälfte der Prophetenbücher, am Ende eines langen Weges von Anklage, Bekenntnis und Umkehr. Das Buch des Propheten Micha schließt mit einer Anspielung an die Gnadenformel der Sinaiperikope und einer theologischen Meditation über den Namen des Propheten: „Wer ist ein Gott wie du (mi-el kamo-cha), der Schuld vergibt und an der Verfehlung vorübergeht für den Rest seines Erbteils! Nicht hält er für immer fest an seinem Zorn, denn er hat Wohlgefallen daran, gnädig zu sein. Er wird wieder Erbarmen haben mit uns und unsere Schuld niedertreten“ (Mi 7, 18f).

Auch das Neue Testament verkündet einen Gott, „der sich erbarmt von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten“ (Lk 1, 50). Jesus ist nicht gekommen, um sein Volk vom Leid zu befreien, sondern – wie es in Mt 1, 21 heißt – um „sein Volk von seinen Sünden zu erlösen.“ Darin erfüllt sich, was der Psalmist von Gott selbst bekennt: „Ja, er wird Israel erlösen von all seinen Sünden“ (Ps 130, 8; siehe Mk 2, 1–12).

Info: Kurz gefasst

Sünde – Bekenntnis der Schuld – Umkehr – Vergebung – in dieser Abfolge ist der Begriff der Barmherzigkeit Gottes biblisch verankert. Barmherzigkeit Gottes heißt nicht, dass die Schuld geleugnet, sondern dass sie vergeben wird.

Mit der Verehrung des goldenen Kalbes hat Israel schwere Schuld auf sich geladen. Barmherzigkeit Gottes heißt in diesem Zusammenhang: Rettung aus der Macht des Todes, der durch die Sünde herbeigeführten Trennung von Gott.


Altes Testament
Foto: F. G. Messenbaeck | Ludger Schwienhorst-Schönberger ist emeritierter Professor für Alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Wien.

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