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Manfred Weber: „Wir Europäer müssen endlich jede Naivität ablegen"

Der Vorsitzende der Christdemokratie in Europa wirft Macron und Scholz vor, Europa zu spalten und wirbt für eine europäische Verteidigungsgemeinschaft. Putins Freunde in Europa sieht er als Gegner
Der Chef der europäischen Christdemokratie, Manfred Weber
Foto: IMAGO/Chris Emil Janssen (www.imago-images.de) | Der Chef der europäischen Christdemokratie, Manfred Weber, stammt aus Niederbayern und stellt in Brüssel und Straßburg viele Weichen.

Herr Weber, versucht Russland, die bevorstehende Europawahl zu beeinflussen und zu manipulieren, wie früher US-Wahlen und das Brexit-Referendum?

Wladimir Putin will ein schwaches Europa, darum wird er alles tun, um diese Europawahl für sich zu nutzen. Wir wissen, dass russische Trolle versucht haben, die öffentliche Meinung in der Slowakei zu beeinflussen. Es ist belegt, dass Russland die katalanischen Separatisten unterstützt, um Spanien zu destabilisieren. Den Brexit haben Sie selbst genannt. In Finnland mussten die Grenzen geschlossen werden, um zu verhindern, dass Russland Migranten aus dem Irak über die Grenze schickt. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wir Europäer müssen endlich jede Naivität ablegen: Putin hasst die Art, wie wir leben, darum müssen wir zusammenhalten, um unsere Lebensart zu verteidigen.

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Wie machtvoll ist Putins finanzielle und ideologische Einflussnahme in der EU?

Wir müssen ihn ernst nehmen, aber die Europäische Union ist eine starke politische Gemeinschaft. Mich beschäftigt weniger, wie stark unsere Gegner sind, sondern wie geeint und führungsstark wir sind. Das größte Problem der Europäischen Union ist heute die fehlende Führung durch ihr Spitzenpersonal, besonders in Berlin und Paris.

"Das größte Problem der Europäischen Union
ist heute die fehlende Führung durch ihr Spitzenpersonal,
besonders in Berlin und Paris"

Wie erklären Sie sich, dass Putin noch immer Verteidiger und Verharmloser in Europa hat, und zwar von Wagenknecht bis Krah, von Schröder bis Salvini?

Die Verharmlosung Putins geht stets mit einem Mangel an europäischem Denken einher. Eine Europäische Union, die an sich selbst glaubt, kann ganz anders mit solchen Bedrohungen umgehen. Ich erlebe auch im Europäischen Parlament eine Achse zwischen Links- und Rechtsextremisten, die dieses Europa in Frage stellen und Putin Einfluss ermöglichen. Diese Radikalen wollen Putins Unterstützung für eigene politische Zwecke nutzen und machen sich deshalb zu Statthaltern Russlands. Damit verraten sie ihre Nation und Europa.

Führt der gelernte KGB-Agent Putin seine Unterstützer mit Ideologie oder Geld oder kompromittierendem Wissen?

Es stimmt, dass Putin mit solchen Methoden arbeitet. Konkret liegt der Fall von „Voice of Europe“ auf dem Tisch, wo Politiker offenbar willfährige Statements gaben. Die Liste der Rechtsradikalen, die davon profitierten, ist lang. Die Menschen müssen am 9. Juni entscheiden, ob sie die Kolonnen Moskaus, die Putin-Puppets wollen oder jene, die für ein starkes und geeintes Europa eintreten. Das ist die Grundsatzfrage!

Warum hat der Westen Putins Regime so lange falsch eingeschätzt, trotz aller Brutalität nach innen und außen?

Ich habe bereits 2008 beim Überfall Putins auf Georgien gewarnt und 2014 bei der Annexion der Krim harte Sanktionen gefordert. Damals sagte ich, dass wir nicht dulden dürfen, dass Staatsgrenzen mit militärischer Gewalt verschoben werden. Die öffentliche Meinung war allerdings eine andere, auch von vielen Politikern – gewiss zumeist mit dem Willen, Brücken zu bauen. Aber das war ein schwerer historischer Fehler. Auch heute stellt sich die Frage, ob wir die Herausforderungen unserer Zeit mit Naivität angehen. Nicht alle haben verstanden, in welcher Lage wir uns befinden.

"Nicht alle haben verstanden,
in welcher Lage wir uns befinden"

Hätte man der Ukraine diesen Krieg erspart, wenn man sie 2008 in die NATO aufgenommen hätte?

Es war ein Fehler, der Ukraine keine ehrliche Perspektive für die NATO zu geben. Alle jubeln zu Recht, dass Finnland der NATO beitritt, obwohl dadurch eine 1.300 Kilometer lange NATO-Grenze mit Russland entsteht. Aber wenn die Ukraine den gleichen Status und Schutz haben will, diskutieren wir, ob das Russland provoziert! Wenn ein Land entscheidet, der NATO beitreten zu wollen, und die Kriterien dafür erfüllt, dann muss abgewogen und entschieden werden. Nur die Entschiedenheit und Geschlossenheit der freien Welt beeindruckt Putin. Frieden zu sichern, heißt in der heutigen Welt Stärke und Geschlossenheit zu zeigen.

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Wird die westliche Entschlossenheit und Geschlossenheit in der Ukraine-Frage halten: trotz Viktor Orbán und Robert Fico und trotz eines möglichen Comebacks von Donald Trump?

Das ist die historische Herausforderung! Das ist der Test, den unsere Generation zu bestehen hat. Wenn wir es nicht schaffen, unsere militärischen Fähigkeiten aufeinander abzustimmen und zu bündeln und eine Verteidigungsunion aufzubauen samt Stärkung der NATO, dann wird uns Putin herausfordern. Dazu braucht es politische Führung, die derzeit nicht gezeigt wird. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat mit seiner Bemerkung, Bodentruppen in die Ukraine zu senden, Europa gespalten. Ebenso hat Olaf Scholz mit seiner Weigerung, Taurus-Raketen zu liefern, seine eigene Regierung und Europa tief gespalten. Wenn der liberale Macron und der Sozialdemokrat Scholz es in dieser historischen Zeit nicht schaffen, historisch zu führen, müssen wir als Christdemokraten die Richtung zeigen.

Wie gefährlich ist ein Comeback von Trump für die Sicherheit in Europa?

Es ist rein spekulativ, über eine zweite Amtszeit von Trump zu sprechen. Aber natürlich muss Europa im Fall des Falles darauf vorbereitet sein. Klar ist unabhängig davon, dass 330 Millionen US-Amerikaner nicht auf Dauer 440 Millionen Europäer verteidigen werden. Egal, wer regiert! Mit Trump wird es vielleicht noch unsicherer werden. Aber die Botschaft ist jedenfalls: Wir müssen uns um uns selbst kümmern! In diesem Jahrzehnt muss Europa eigenständig verteidigungsfähig werden. Wir stärken die NATO, wenn Europa fähig wird, sich selbst zu verteidigen. Dafür brauchen wir eigenständige Strukturen. Wir brauchen eine gemeinsame Cyber-Defense und einen Raketenschutzschirm für Europa. Wir müssen in den Blick nehmen, dass Russland im All Atomwaffen positionieren will. Darauf braucht es europäische Antworten. Darum müssen wir dringend eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft aufbauen.

"Wir müssen uns um uns selbst kümmern!
In diesem Jahrzehnt muss Europa
eigenständig verteidigungsfähig werden"

Hat die EU in den vergangenen Jahren die falschen Prioritäten gesetzt?

Die EU hatte großen Mut bei der Schaffung des Binnenmarktes und der Einführung des Euro. Dann erlebten wir Phasen, in denen große Krisen die EU durchgeschüttelt haben. Jetzt hoffe ich auf eine Phase der starken Führung, um auf die kommenden Krisen vorbereitet zu sein.

Braucht es nun eine Vergemeinschaftung der Außenpolitik?

Definitiv ja. Die Einstimmigkeit in außenpolitischen Fragen muss fallen, denn es kann nicht sein, dass Viktor Orbán alle anderen erpresst. Entweder sind wir Akteur oder Spielball anderer. Ich will ein starkes Europa und nicht ein Spielball Russlands oder Chinas sein.

Hat die EU nach 2013 in der Erweiterungspolitik geschlafen und dadurch anderen Kräften Raum gegeben?

Wer EU-Mitglied werden will, muss sich anstrengen und die Standards erfüllen. Wir müssen gleichzeitig in den Kandidatenländern mehr Engagement zeigen, um das sich ausbreitende Misstrauen zu überwinden. Ich bekenne mich zur Aufnahme der Westbalkanstaaten, der Ukraine und Moldawiens, weil wir entweder unsere Stabilität exportieren oder die Probleme dieser Nachbarregionen zu spüren bekommen. Wir müssen aber klarstellen: Geld gibt es nur bei konkreten Gegenleistungen und Entwicklungen. Unsere Unternehmer müssen wir dafür gewinnen, Länder wie Bosnien-Herzegowina als attraktiven Investitionsstandort zu sehen. Wir brauchen aber auch die Kraft, die Grenzen Europas zu definieren, also klarzustellen, wo mit der Erweiterung Schluss ist. Der Balkan, die Ukraine, Moldawien und Georgien gehören zu Europa, aber die Türkei gehört für mich nicht dazu. Europa ist kein grenzenloses Projekt.

"Europa ist kein
grenzenloses Projekt"

Die Türkei bleibt eine bedeutende Regionalmacht zwischen Balkan und Nahost. Wie sollen sich die Beziehungen gestalten, wenn man die Ehrlichkeit aufbringt, die Idee der Mitgliedschaft zu verwerfen?

Gesunde Beziehungen beginnen in der Tat mit Ehrlichkeit. Deshalb müssen wir aussprechen, dass es keine EU-Vollmitgliedschaft geben wird. Dann eröffnet sich eine Fülle an Möglichkeiten, miteinander zu arbeiten. Ich wäre etwa dafür, die bestehende Zollunion zu verbessern, denn die Türkei braucht angesichts ihrer hohen Inflation eine wirtschaftliche Perspektive. Für eine enge Anbindung der Türkei an die EU gibt es verschiedenste Modelle.

Fast alle Beobachter erwarten bei der Europawahl am 9. Juni einen Rechtsruck. Was passiert mit der EU, wenn die EU-kritischen bis Europa-feindlichen Kräfte gestärkt werden?

Man muss diese Europawahl ernst nehmen. Es kann passieren, dass wir am 10. Juni aufwachen und ein Europäisches Parlament haben, das zwar demokratisch gewählt aber dysfunktional ist. Es gibt zwei Kräfte, die sich der Verantwortung verweigern: die rechtspopulistischen und rechtsradikalen Kräfte, die die EU ablehnen, und auf der anderen Seite links-ideologische Gruppen, die nicht in der Lage sind, die Aufgaben dieser Zeit anzupacken. Die europäischen Grünen haben sich zuletzt beim Migrationspakt einem breiten Konsens verweigert. Wenn wir die Herausforderungen der Migration bewältigen wollen, müssen wir einen Konsens mittragen, auch wenn einem nicht alles passt. Mir macht die grüne Verweigerung Sorge, weil die Grünen damit ihren Status als Europapartei gefährden. Als Vorsitzender der größten Fraktion suche ich Partner, mit denen wir die Aufgaben unserer Zeit anpacken können: die Sicherung des Wohlstands in einer Zeit globaler Unruhe und die Sicherung des Friedens. In beiden Bereichen sind wir vor historischen Herausforderungen. Dafür suche ich Mehrheiten.

Manfred Weber im Tagespost-Interview mit Stephan Baier (16. April 2024)
Foto: Josef Schachtner | EVP-Fraktionschef Manfred Weber im „Tagespost“-Interview mit Stephan Baier in München.

Anders als nationale Parlamente kennt das Europäische Parlament nicht das starre Gegenüber von Regierungs- und Oppositionsfraktionen. Wäre ein System wechselnder Mehrheiten denkbar?

Unsere Brandmauer steht: Wer Europa ablehnt, den Rechtsstaat attackiert oder mit Putin befreundet ist, der ist unser Gegner. Das trifft für Le Pen und die AfD zu – da gibt es keine Kooperationsmöglichkeit. Aber es gibt viele Konservative, die überzeugte Europäer sind und mit denen wir gut zusammenarbeiten können. Warum sollte man in der Sache nicht mit der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni zusammenarbeiten, um die anstehenden Probleme im demokratischen Kontext zu lösen?

Ungarn übernimmt am 1. Juli den EU-Ratsvorsitz, also ausgerechnet in der Phase der Konstituierung des Europaparlaments und der Bildung einer neuen EU-Kommission. Ist das gefährlich?

Die Ratspräsidentschaft wird in dieser Phase keine größere Rolle spielen. Die Strukturen sind stabil, und die anstehenden Fragen werden zwischen den großen Parteien beraten werden. Ich gehe jetzt mit sehr viel Optimismus in die Europawahl, denn immerhin stellen wir 13 der 27 Regierungschefs. Das zeigt, dass viele Menschen in Europa eine Sehnsucht nach der bürgerlichen Mitte haben. Wenn die Wähler uns wieder zur stärksten Fraktion machen, wird unser Programm zur Arbeitsgrundlage für die nächsten fünf Jahre.

2019 gewannen Sie die Europawahl, wurden bei der Benennung des Kommissionspräsidenten jedoch Opfer einer Intrige. Wird der nächste Kommissionschef wieder in Hinterzimmern ausgehandelt?

2019 ist schwerer Schaden an der europäischen Demokratie entstanden. Es haben sich damals Sozialdemokraten und Liberale im Verbund mit Macron und Orbán geweigert, dem Wahlsieger die Unterstützung auszusprechen. Trotz dieses Rückschlags kämpfe ich für ein demokratisches Europa. Macron dagegen will wieder ein Europa der Hinterzimmer, um seine eigene Macht zu stärken, statt Europa demokratischer zu machen. Einen Gefallen tut er Europa damit nicht.

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