Jeden Tag gehen auf ukrainischem Boden russische Raketen nieder; jeder Tag bringt Leid und Tod. Auch über Kiew wurden zuletzt mehrere Raketen abgefangen. „Etwa fünf Kilometer entfernt“, schätzt ein Priester lächelnd, als wir eine Detonation hören. Das alles könnte man leicht vergessen, wenn man in die Göttliche Liturgie eintaucht. Besonders imposant ist so eine Bischofsweihe, wie ich sie am vergangenen Mittwoch in Iwano-Frankiwsk und nun am Sonntag in der Auferstehungs-Kathedrale von Kiew miterleben durfte. Am Mittwoch (weil Marienfeiertag) waren die liturgischen Gewänder und die Bischofskronen blau, nun sind sie golden.

Predigen, heilen und regieren müsse ein Bischof, legt Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk in seiner Predigt dar. Zuvor hat er den neuen Weihbischof von Kiew, Andrij Chimjak, feierlich geweiht und gekrönt. Die dreistündige Liturgie atmet eine Würde, die dem Bischofsamt entspricht. Nicht der Weihrauch, die Ikonen oder die Gesänge stehen im Mittelpunkt, wie der flüchtige Besucher einer byzantinischen Liturgie vielleicht mutmaßen mag, sondern die Eucharistie. Ungewohnt ist für mich als „Lateiner“, dass auch die kleinen Kinder sich hier – beeindruckend diszipliniert – zum Kommunionempfang (unter beiderlei Gestalt, mit einem goldenen Löffelchen gereicht) anstellen.
Die Kirche tut mehr als die Regierung
Vor der Liturgie spreche ich mit Bischof Mykhaylo Bubniy, dem griechisch-katholischen Exarchen von Odessa. Ein Teil seiner Diözese ist unter der russischen Okkupation, ein zweiter Teil bereits befreit und ein dritter Teil noch immer frei. Im russisch besetzten Gebiet konnten nur drei seiner Priester verbleiben, und auch sie müssen „sehr vorsichtig“ arbeiten, alles vermeiden, was sie Besatzer als Provokation deuten könnten. In den befreiten Gebieten, die drei Monate russisch besetzt waren, zeichne sich eine „humanitäre Katastrophe“ ab: Die Infrastruktur ist völlig zerstört; die Menschen brauchen Generatoren, Medikamente, Kleidung, Nahrung.

Lange sprechen wir über die Traumatisierungen. Nicht erst seit der Invasion sei das ein Thema, versichert der zupackend wirkende Bischof, sondern seit 2014, als Putin die Krim annektierte und die Ukraine zu terrorisieren begann. Die Kirche kümmert sich seither um traumatisierte Soldaten und ihre Familien. Jetzt aber hat das Problem neue Dimensionen angenommen. „Die Kirche tut mehr als die Regierung“, sagt Bischof Mykhaylo Bubniy. Manche Schulkinder müssen mehrfach täglich in die Schutzräume. Odessa lebt in Angst, denn die russische Strategie, die russisch kontrollierte moldawische Provinz Transnistrien mit den besetzten ukrainischen Gebieten zu verbinden, ist offenkundig. Dann aber wäre Odessa, diese Perle am Schwarzen Meer, weitgehend abgeriegelt.
Mit dem Zug nach Charkiw?
Nach der Bischofsweihe ist in den Räumen des Patriarchats ein üppiges Buffet aufgebaut. Mit einem Glas in der Hand kommt man mit den Bischöfen ganz zwanglos ins Gespräch. Ich plaudere entspannt mit dem Lemberger Weihbischof Volodymyr Hrutsa, einem fröhlichen Intellektuellen, dann mit dem aus Indien stammenden Nuntiaturrat. Stehend interviewe ich kurz den Apostolischen Nuntius, den aus Litauen stammenden Erzbischof Visvaldas Kulbokas, dem die „Tagespost“ durchaus ein Begriff ist, der aber auch nicht weiß, wann der Papst seine Ankündigung wahr macht, die Ukraine zu besuchen.
Dann wandere ich weiter: Da ist der blitzgescheite Bischof Petro Loza, der in Innsbruck studiert hat und gut erklären kann, warum die russische Orthodoxie einer echten Bekehrung bedarf; dann der weise Weihbischof von Ternopil, Theodor Marteniuk, der für die Ukraine jüngst am Prager Treffen des Synodalen Prozesses teilnahm und mir nun in fließendem Italienisch seine Sorgen und Bedenken darlegt. Ich teile sie alle.
Mit dem Erzbischöflichen Exarchen von Charkiw, Bischof Vasyl Tutschapez, ziehe ich mich in einen Nebenraum zurück. Wie gerne hätte ich diesen stillen Helden in seiner Heimatstadt besucht, nachdem wir im Juli des Vorjahres in der polnischen Grenzstadt Przemysl sprachen! Er lächelt milde und meint, ich könne ja von Lemberg (Lviv) bis Charkiw mit dem Zug fahren. Vielleicht das nächste Mal. Für den Augenblick bin ich dankbar, ihn im vergleichsweise sicheren Kiew interviewen zu dürfen.
Begleiten Sie unseren Korrespondenten Stephan Baier in diesen Tagen auf seiner Reise durch die Ukraine. Alle Folgen des Ukrainischen Tagebuchs finden Sie hier.
Lesen Sie weitere Berichte und Reportagen aus der Ukraine in der kommenden Ausgabe der "Tagespost".