Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung UKRAINISCHES TAGEBUCH – Teil 6

Der viel zu lange Karfreitag vor Kiews Toren

Putins angebliche Befreiungsarmee war zu Besuch: Zurück bleiben ausgebrannte Ruinen, misshandelte Menschen, gefolterte Leichen. Ein Besuch in den Vororten Kiews könnte „Putin-Verstehern“ die Augen öffnen.
Autos flüchtender Zivilisten
Foto: Stephan Baier | Autos flüchtender Zivilisten wurden von Putins Truppen beschossen. Viele Menschen flohen zu Fuß, ließen ihre Autos einfach zurück.

Wer noch irgendwelche Zweifel über den Charakter Putins und seines Kriegs gegen die Ukraine hat, der sollte unbedingt Irpin und Butscha besuchen. Das Grauen, das uns in diesen beiden Vororten von Kiew noch Monate nach der Befreiung anweht, nimmt einem den Atem. Wir fahren auf der „Straße des Todes“ von Kiew nach Nordwesten, vorbei an Panzersperren, Mauern aus Sandsäcken und mehreren Checkpoints.

Vor einem Jahr, als die russische Armee hier Richtung Kiew vorrückte, kamen viele Zivilisten ums Leben. Familien, die aus den Vororten in die Hauptstadt fliehen wollten, wurden von russischen Panzern beschossen oder einfach überrollt. Ein Familienvater, der mit erhobenen Händen aus dem Auto stieg und um Gnade für seine Familie flehte, wurde vor den Augen seiner Kinder erschossen.

Pfarrer Myroslaw Latenek
Foto: Stephan Baier | Pfarrer Myroslaw Latenek zeigt die Splitter von Minen, die in seiner Kirche gefunden wurden.

In Irpin treffen wir Pfarrer Myroslaw Latenek, der uns zeigt, wo in seiner Kirche und im Pfarrhaus die russischen Geschosse einschlugen. Selbst im Ikonostas stecken drei Minensplitter. Ein kleines Stück von einer Mine überreicht er mir als Andenken. Am 1. März musste der Pfarrer der russischen „Befreiung“ weichen – nicht wissend, ob er je zurückkehren würde. Doch am Tag der Befreiung, am 7. April des Vorjahres, eilte sein Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk als erster nach Butscha und Irpin. Das Pfarrhaus durfte er wegen der Minen nicht betreten.

Leichengeruch lag in den Straßen

Neue Wohnsiedlungen und alte Häuser, ja selbst die Schule schossen die russischen Truppen in Trümmer. Das Krankenhaus bombardierten sie aus der Luft. Ein Autofriedhof erinnert an den verzweifelten, vielfach gescheiterten Versuch von Familien, den Invasoren zu entfliehen. Manche ließen einfach ihr Auto stehen, um zu Fuß weiterzukommen – den Wagenschlüssel ließen sie stecken, damit andere das Fahrzeug nutzen konnten. Die ukrainischen Verteidiger sprengten einige Brücken, um das Vorrücken der Angreifer auf die Hauptstadt zu stoppen.

Massengrab in Butscha
Foto: Stephan Baier | In Butscha wurden nach dem Abzug der russischen Besatzer gefesselte Leichen auf den Straßen gefunden. Sie wurden in einem Massengrab beigesetzt: Frauen, Kinder und Greise.

Als er nach fünf Wochen heimkehrte, lag ein unangenehmer Geruch in den Straßen, erinnert sich der Pfarrer. Es war Leichengeruch. 50 ukrainische Soldaten waren gefallen; 300 Zivilisten nur notdürftig begraben worden. Im benachbarten Butscha hatten die Russen weniger Häuser zerstört, aber unfassbare Gräueltaten begangen. Wir besuchen gemeinsam den Ort jenes Massengrabes, in dem nach dem Rückzug der Russen die Toten aus dem Krankenhaus und die Leichen von der Straße bestattet worden waren. 130 Menschen insgesamt.

Kinder, Frauen und Greise, ganz gewöhnliche Menschen seien tot auf der Straße gefunden worden, erzählt Pfarrer Myroslaw, während wir bei winterlicher Kälte und eisigem Wind durch die aufgeweichte Wiese stapfen. Manchen Leichen waren die Hände auf den Rücken gefesselt. Und ja, er habe von einigen Suiziden gehört, bestätigt der Pfarrer. Manche Leute seien während der russischen Besatzung in ihren Wohnungen schlicht verhungert.

Die Armen spenden für die Ärmeren

Gesegnete Rettungswägen
Foto: Stephan Baier | Großerzbischof Schewtschuk nahm 12 Rettungswägen aus Österreich entgegen und segnete sie vor dem Einsatz in Kiew.

Woher nehmen so viele Menschen in der Ukraine die Kraft, weiterzuleben? Woher die Hoffnung? Am Vormittag durfte ich bei der griechisch-katholischen Kathedrale von Kiew miterleben, wie Großerzbischof Schewtschuk zwölf Rettungswägen aus Österreich entgegennahm und segnete. Seine Kirche will sich jetzt verstärkt um die Traumatisierten annehmen, erzählt er mir. Während des Totengedenkens in der Kathedrale bringen die Gläubigen Plastiksäcke mit Grundnahrungsmitteln in die Kirche: Brot, Sonnenblumenöl, mitunter eine Flasche Wein – für jene, die sie noch dringender benötigen. 

Nebenan schildert uns der Ökonom der griechisch-katholischen Kurie, Pater Lubomyr Jaworskij, wie seine Kirche Tausende Flüchtlinge aus der Gefahrenzone evakuierte, mit dem Nötigsten versorgte und unterbrachte. Die Kathedrale scheint ein Knotenpunkt der Hilfeleistung zu sein. Sie ist der Auferstehung Christi gewidmet. Wie passend!


Begleiten Sie unseren Korrespondenten Stephan Baier in diesen Tagen auf seiner Reise durch die Ukraine. Alle Folgen des Ukrainischen Tagebuchs finden Sie hier.

Lesen Sie weitere Berichte und Reportagen aus der Ukraine in der kommenden Ausgabe der "Tagespost".

Themen & Autoren
Stephan Baier Russlands Krieg gegen die Ukraine Pfarrer und Pastoren Wladimir Wladimirowitsch Putin

Weitere Artikel

Mehr Waffen für die Ukraine? Die Angst vor Russlands Reaktion darf für den Westen nicht der bestimmende Faktor sein.
27.01.2024, 09 Uhr
Thorsten Schüller
Wenn der Westen die Ukraine jetzt nicht befähigt, die russischen Truppen in die Knie zu zwingen, ist auch die bisherige Unterstützung vergebens.
24.01.2024, 08 Uhr
Vorabmeldung
Am Palmsonntag feiern wir den Einzug Jesu in Jerusalem, wo er freudig begrüßt wird. Aber warum reitet Jesus eigentlich auf dem Rücken eines Esels in die Stadt?
21.03.2024, 05 Uhr
Florian Kopp

Kirche

In der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) ist ein Streit um das Pfarramt für Frauen entbrannt. Im äußersten Fall droht die Spaltung.
22.04.2024, 16 Uhr
Vorabmeldung